Die Gründer der Republik Schkid * Spatz spielt den Mörder * Blutsbrüder im Bruch Die ersten Tage.
In der Alt-Petershofer Allee in Leningrad steht zwischen Hunderten von Mietshäusern ein unauffälliges, dreistöckiges, verwittertes Haus, das sich nach der Revolution in die „Republik Schkid“ verwandeln sollte. In den Jahren vor der Revolution war da eine Handelsschule, deren Lehrer später samt den Schülern verschwanden.
Wind und Regen hatten an den schwindsüchtig graugelben Wänden der verödeten Schule genagt. Frost war ins Haus eingedrungen, war zusammen mit schimmliger Feuchtigkeit durch die stillen Klassenräume gekrochen und hatte sich in Gestalt von Eiszapfen auf den Bänken niedergelassen.
So stand das ergraute Haus mit tränenden Fenstern da. Die Straße mit ihren Menschenschlangen und vorüberhastenden Passanten schien seine Leere nicht zu bemerken. Niemand hatte wohl auch Zeit dazu. Das Leben pulsierte an anderen Orten: im Sowjet, im Bezirkskomitee, im Konsumladen.
Aber eines Tages dröhnten Schritte durch das stille Gebäude. Leute in Lederjacken — sie trugen Aktenmappen unter dem Arm — besichtigten es, machten sich Notizen und gingen wieder fort. Dann wurde Brennholz angefahren.
Man reparierte die Schornsteine und heizte das Haus. Danach traf der erste Schub von jungen Verwahrlosten ein, die man an allen möglichen Orten aufgelesen hatte.
Während der Revolution, der Hungersnot und des Bürgerkrieges hatten viele Halbwüchsige ihre Eltern verloren und die Familie gegen die Straße, die Schule gegen das Diebeshandwerk eingetauscht. Sie waren drauf und dran, richtige Verbrecher zu werden.
Man mußte sich ihrer unverzüglich annehmen. Hunderte, ja Tausende von leerstehenden, halbzerstörten Häusern wurden in Ordnung gebracht, um den kleinen Banditen Obdach, Verpflegung und Unterricht zu geben.
Sie kamen von überallher. Man holte sie aus den Heimen für „normale“ Kinder, aus Gefängnissen, von Sammelstellen, von den verzweifelten Eltern und aus den Wachstuben der Miliz, wo die bei Razzien auf Spelunken in Haft genommenen Herumtreiber gelandet waren. Eine Kommission des Amtes für Volksbildung sortierte die „Defektiven“ oder „Schwererziehbaren“, wie man die von der Straße verdorbenen Jugendlichen damals nannte, und verteilte die buntgemischte Gesellschaft auf die für sie geschaffenen Heime. Zu diesem Netz von Schulheimen gehörte auch die neugebildete „Dostojewski-Schule für Schwererziehbare“ — nach den russischen Anfangsbuchstaben von ihren Zöglingen später abgekürzt SCHKID genannt. Die Geschichte der Schkid beginnt mit dem Einzug des ersten Schubs jener zügellosen Rangen. Der Auftakt war ein unbeschreibliches Durcheinander. Die dreizehn- bis vierzehnjährigen Straßenjungen rotteten sich im Handumdrehen zusammen und begannen zu randalieren, ohne sich um die Erzieher zu kümmern.
Als Anführer trat sofort Worobjow hervor. Gleich am ersten Tage bekam er den Spitznamen „Spatz“ — teils wegen seines Namens,[1] teils wegen seines Äußeren. Trotz seiner vierzehn Jahre war er klein, und während seines Aufenthaltes in der Schule wuchs er nicht einen halben Zoll. Mit ihm zusammen war ein Junge namens Kossorow gekommen. Spatz hatte in einem Kinderheim den Schulleiter umbringen wollen. An einem Sommerabend hatte der Schulleiter dem Jungen verboten spazierenzugehen. Spatz hatte ihm für diese „Niedertracht“ grausame Rache geschworen. Am folgenden Tage hatte ihm sein Busenfreund Kossorow einen Revolver besorgt, und Spatz war in das Arbeitszimmer des Schulleiters eingedrungen. Kossorow hatte an der Tür gestanden und auf den einzigen Schuß gewartet — im Revolver war nur eine Patrone, und deshalb konnte es keinen zweiten geben. Die Ereignisse im Arbeitszimmer blieben unbekannt. Kossorow hatte jedenfalls keinen Schuß gehört, sondern bloß gesehen, daß sich die Tür öffnete und der wütende Schulleiter den blassen Spatz am Kragen herauszerrte.
Späterhin berichtete Spatz, er habe „Hände hoch!“ kommandiert, der Schulleiter sei daraufhin in die Knie gesunken, und nur eine Ladehemmung habe die ganze Sache verdorben.
Wegen dieses mißlungenen Attentates sowie einer Reihe weiterer Heldentaten war Spatz zusammen mit Kossorow in die Schkid gebracht worden. Im Gegensatz zu Spatz strotzte Kossorow (oder „Kossar“,[2] wie er genannt wurde) vor Gesundheit, lief jedoch immer mit mürrischem Gesicht herum. Die beiden ergänzten sich vortrefflich und hatten darum die sogenannte „Blutsbrüderschaft im Bruch“ — das bedeutet ewige, unverbrüchliche Freundschaft — miteinander geschlossen. Blutsbrüder müssen alles miteinander teilen und sich jederzeit beistehen. Gleich nach ihrem Eintreffen in der Schkid brachten es die Blutsbrüder fertig, sich die übrigen sechs Bengel der ersten Gruppe so zu unterwerfen, daß keiner von ihnen ohne ihre Erlaubnis zu mucksen wagte und daß der Stotterer Goga den neuen Machthabern fast kriecherisch ergeben war.
Da das Lehrpersonal noch nicht vollzählig war, führten die Jungen ein ungebundenes Leben.
Vor der Revolution war da eine Handelsschule.
Der Tag begann um elf Uhr morgens, wenn die ungekämmte Köchin die Reste des Mittagessens vom Vortage in den Schlafraum brachte. Die Jungen begannen zu futtern, ohne sich aus dem Bett zu erheben. Spatz rekelte sich auf seinem Lager und schnauzte Goga drohend mit seiner Piepsstimme an: „Bring mir die Suppe! Die Grütze auch!“
Widerspruchslos rannte Goga im Schlafraum herum und führte die Befehle aus. Er wurde dafür gnädig mit einer Zigarette belohnt. Das Essen war reichlich, obgleich die Menschen in der Stadt, außerhalb der Schkid, damals nur „Achtelbrote“ auf ihre Lebensmittelkarten erhielten. Das kam daher, daß erst fünfzehn Personen im Heim waren, die Rationen aber schon für vierzig berechnet wurden. Dadurch konnten die ersten Schkid-Insassen ein sattes, ja üppiges Leben führen. Anfangs gab es noch keinen Unterricht. Deshalb blieben die Jungen bis gegen zwölf Uhr faul im Bett liegen. Dann zogen sich alle an und gingen auf die Straße.
Ein Teil zog unter Gogas Führung zum Kippensammeln aus, die übrigen strolchten in den umliegenden Straßen herum, oder sie statteten dem Markt einen Besuch ab und stahlen den Händlern, die nicht aufpaßten, so nebenbei ein paar Kleinigkeiten wie Messer, Löffel, Bücher, Kuchen, Äpfel usw. Zum Essen versammelten sich die Schkider wieder vollzählig im Schlafraum und warteten auf die Kessel mit Suppe und Grütze. Einen Eßraum gab es noch nicht. Man aß, wo man schlief — bequem auf den Betten.
Wenn man sich den Bauch gefüllt hat, fühlt man das Bedürfnis, sich auszustrecken. So wälzten sich die Jungen wie Ferkel stundenlang auf ihren Pritschen und vertrieben sich die Zeit mit allerlei Geschwätz. Die Kippensammler klaubten unterdessen die gefrorenen Kippen auseinander, lösten sorgfältig das Papier vom Tabak und ordneten den Ertrag nach Sorten. Machorka und guter Tabak wurden getrennt. Dann breiteten sie die nasse, halbgefrorene Masse auf Papierbogen aus. Ans Trocknen konnte man erst abends gehen, wenn der Tee getrunken und die Putzfrau erschienen war, um den Ofen zu heizen. Ereignislos war der graue, langweilige Tag verlaufen; aber wenn im Ofen die Flammen lustig züngelten und immer wieder rote Funken sprühten, dann versammelten sich alle Schkider um ihn. Sie saßen im Kreise und erzählten sich ihre Abenteuer. Ihr wertvollstes Zahlungsmittel — der Kippentabak — trocknete inzwischen am Ofenrand. Die Dämmerung, die Wärme, die im Ofen verglühenden Holzscheite stimmten die Jungen nachdenklich. Sie wurden still. Jeder hing seinen Träumen nach. Dann holte Spatz seine Balalaika hervor und sang mit sehnsüchtiger Stimme sein Lieblingslied:
Nur durch Heime gestoßen, verloren,
hab' ich nie eine Heimat gekannt.
Warum hat mich die Mutter geboren?
Ach, nur Unglück auf Erden ich fand!..
Niemand kannte das Lied, aber aus Höflichkeit summten alle mit, bis Goga verwegen den schwarzen Schöpf schüttelte und das Lied vom Äpfelchen „auf den Zähnen“ zu spielen begann. Die „Zahnmusik“ war in der Schkid außerordentlich beliebt, und jeder Neue studierte als erstes diese komplizierte Kunst eifrig und ausdauernd, um das Recht zu haben, an den gemeinsamen Konzerten teilnehmen zu können.
Als „Zahnmusiker“ braucht man vor allem Gehör und gute Zähne. Alles andere ist Übungssache. Diese Kunstart beruht auf folgender Technik: Man trommelt die Melodie mit den Nägeln von vier Fingern auf den Oberkieferzähnen, zuweilen auch mit acht Fingern, wenn man zweihändig spielt. Der Mund wird dabei mehr oder weniger weit geöffnet oder geschlossen. Dadurch entstehen die verschieden hohen Töne. Spezialisten der Zahnmusik erreichen eine Virtuosität, daß sie jede beliebige, noch so komplizierte Melodie spielen können ohne steckenzubleiben.
Goga war ein solcher Virtuose. Als Stotterer konnte er nicht singen. Deshalb hatte er sich vollständig auf die Zahnmusik gelegt. Er war gleichzeitig Dirigent und Solist des Schkid-Orchesters. Er entblößte die großen weißen Zähne, legte träumerisch den Kopf zurück und begann mit flinken Schlägen die Melodie zu trommeln. Dann fiel das ganze Orchester ein. Die Gesichter wurden starr vor lauter Konzentration. Die glasigen Augen brannten in einer Begeisterung, die jedem Musiker eigen ist. Selbstverständlich spielten sie ohne Noten, aber dafür mit um so mehr Gefühl. Sie gaben äußerst komplizierte Variationen zum besten. In ihrer Besessenheit merkten sie nicht, wenn der Schulleiter eintrat. Sein Erscheinen bedeutete, daß es Schlafenszeit war. In den ersten Tagen hatte die Schkid einen unverhältnismäßig großen Personalbestand. Auf acht Zöglinge kamen acht Angestellte, obgleich keiner von ihnen überflüssig war: ein Pförtner, eine Köchin, eine Putzfrau, der Schulleiter, seine Assistentin und drei Erzieher. Der Schulleiter war eine strenge Persönlichkeit: drohende Augenbrauen, eine Bürstenfrisur und auf der langen Nase einen Zwicker. Die Anfänge seiner pädagogischen Tätigkeit gingen bis in die graue Vorzeit zurück. Er erinnerte sich mit Vorliebe seiner Jugendzeit und erzählte oft davon. Die Jungen hatten zwar Angst vor ihm, machten aber seine schwachen Seiten bald ausfindig. Er sang gern und liebte es, dem Gesang zu lauschen. Im ersten Stock gab es einen Saal. Dort schloß er sich häufig ein, setzte sich an den Flügel und schmetterte „Stenka Rasin“ oder „Tage unseres Lebens“, daß es durch die ganze Schule schallte. Daraufhin strömten die Zuhörer vor der Tür zusammen und machten sich über ihn lustig. „Ein verkannter Schaljapin!“[3]
Schon am Gründungstage war der Direktor ins Schulgebäude eingezogen. Er wohnte im ersten Stock.
Seine Wohnung war vom Schülerinternat nur durch einen Raum getrennt, der bei feierlichen Anlässen als „Weißer Saal“ bezeichnet wurde. An den Wänden dieses Saales hingen billige Drucke von den gemalten Porträts russischer Schriftsteller. Dostojewski'nahm unter ihnen den Ehrenplatz ein. Assistentin des Direktors war seine Frau, die weißblonde Deutsche Ella Lumberg, russisch lautete ihr Name Ella Andrejewna Ljumberg. In der ersten Zeit spielte sie die Hausmeisterin, doch später gab sie deutschen Sprachunterricht. Das Ehepaar ist als Gründer der Schule zu bezeichnen. Anfangs waren nur wenige Erzieher vorhanden. Den Turnunterricht gab ein Student, dem man den Spitznamen „Väterchen“ verliehen hatte. Als Naturkundelehrer diente ein schwächliches Männlein, das in Kaigorodows Blumenbücher verliebt war und aus einer deutschen Petersburger Apothekerfamilie stammte. Er war nachsichtig und arglos. Die Zöglinge mochten aber seinen schwer aussprechbaren Namen nicht. Sie änderten darum Herbert Ljudwigowitsch zuerst in Herb-Ljudowitsch, machten daraus Herb-Ljuditsch, nannten ihn dann einfach freundschaftlich Werbljuditsch und tauften ihn schließlich endgültig Werbljud, zu deutsch Kamel. Obwohl die Jungen Kamel wegen seiner Milde gern hatten, machten sie sich über seine zahlreichen Absonderlichkeiten lustig. Sie beobachteten ihn zum Beispiel dabei, wie er vor dem Schlafengehen in Unterhosen eine Mazurka tanzte und dazu in falschen Tönen plärrte. Besonders gingen den Schkidern die endlosen Tonleitern auf die Nerven, die er auf dem verstimmten Klavier, das leider in seinem Zimmer stand, allzuoft herunterklimperte; denn nächst den Blumen war die Musik Kamels Leidenschaft. Er hatte jedoch keine Ahnung vom Spielen und bot den Schkidern während seiner Amtsperiode in der Schule nichts als diese Tonleitern.
Der dritte Erzieher war eine farblose Persönlichkeit. Er verschwand bald wieder von der Bildfläche, weil ihm die zu kleine Lebensmiltel-zuteilung und der zu anstrengende Dienst bei den Schwererziehbaren nicht paßten. Wie es heißt, hat er später als Sporlinstrukteur im Unterrichtsministerium und danach als Angestellter in einem Fleischerladen sein Dasein gefristet.
Der Schulleiter war eine strenge Persönlichkeit.