Frühling und Mathematik * Das Fenster zur Welt * Markonis Tochter * Pechvögel Parade schöner Mädchen * Der Eroberer Dse * Die Kokette mit den Sonnenblumenkernen Liebe und Seife * Der Frühling geht zu Ende.
„Worobjow, hör gut zu und schreib: Die Summe dreier Glieder einer Gleichung ist achtundzwanzig. Das Verhältnis der Glieder untereinander beträgt: 1:2:4. Schreib die Gleichung auf und suche die LösungI Rechne aus! X=?“
Spatz steht an der Tafel. Er nimmt die Kreide, starrt bedrückt auf die Klasse und schreibt dann die Formel an die Tafel. Der Lehrer geht nervös durch den Raum.
„Sitzt nicht so untätig dal“ sagt er zu den anderen. „Zerbrecht euch auch den Kopf.“
Niemand kümmert sich um seine Worte. Die struppigen Köpfe sind abgelenkt — erregt von den Geräuschen, die durchs Fenster fluten. Draußen ist Frühling.
Die Wärme, die Lebensfreude, die von draußen hereindringen, haben die Jungen mürbe gemacht. Sie sind zu nichts zu gebrauchen. „Los, klemm dich dahinter, mein Junge!“ treibt der Lehrer den unbeweglichen Spatz an. Doch Spatz denkt an andere Dinge. Er beneidet die übrigen, die untätig auf ihren Plätzen sitzen, während er wie ein Sträfling die Unbekannte suchen muß. Er rafft die Reste seines Verstandes zusammen und kritzelt hastig etwas an die Tafel. „Falsch!“ knurrt der Prophet. Spatz kritzelt noch mal. „Wieder falsch.“
Zum drittenmal schreibt Spatz ein paar Zahlen hin. Aber bevor er fertig ist, flüstert eine Stimme hoffnungslos von links: „Gib es auf, Spatz. Es ist wieder falsch.“
Das war Japs. Spatz faßt sich ein Herz. „Ich weiß es nicht“, erklärt er nachdrücklich. „Dann setz dich.“
Mit einem Seufzer der Erleichterung geht Spatz zu seiner Bank, und als er wieder sitzt, hat er die Mathematik schon vergessen. Er hält das, was Zigeuner hinter ihm von seinen gestrigen Abenteuern erzählt, für weitaus interessanter. Zigeuner hat beim Spaziergang ein hübsches Mädchen kennengelernt und berichtet nun aufgeregt davon. Er findet außergewöhnlich aufmerksame Zuhörer, und diese Tatsache beflügelt ihn.
„Sie sieht mich an und lächelt. Ich lächle zurück. Dann geh' ich zu ihr hin und frage: 'Langweilen Sie sich?' — 'Nein', sagt sie, lassen Sie mich in Frieden.' Aber sie kann mich nicht abhängen, na, und dann gehen wir zusammen.“
„Und weiter?“ forscht Mamachen mit angehaltenem Atem. Zigeuner lächelt.
„Dann ging es weiter“, sagt er ausweichend.
Die Jungen schweigen wie verzaubert. Der Straßenlärm und die Satzfetzen des Mathematiklehrers dringen an ihr Ohr. Dse streicht sich verstohlen übers Haar und malt sich aus, wie er ein Mädchen kennenlernt. Natürlich wird sie brünett sein, rundlich, mit einem kleinen Naschen und irgendwie… besonders. Hingerissen von Zigeuners Bericht, summt Jankel verträumt vor sich hin:
Schwarze Augen, schone Augen,
brennend und von hellem Glanz…
„Tschornych, an die Tafel!“
„Bin euch stets in Lieb verbunden…“
„Tschornych, an die Tafel!“
Die drohende Stimme des Lehrers verheißt nichts Gutes. Jankel schrickt zusammen und sieht sich vor der Chance, eine Vier zu bekommen. Die kriegt er auch, weil er die Aufgabe nicht lösen kann. „Setz dich, du Grauauge“, spottet der Lehrer.
Die Klingel unterbricht seine Worte. Mathematik war heute die letzte Unterrichtsstunde. Jetzt haben die Schkider frei, und in einer Stunde dürfen die von der ersten und zweiten Gruppe Spazierengehen. Als sich die Tür hinter dem Lehrer geschlossen hat, springen die Jungen auf und rasen zum Fenster. „Ich hab' den Platz besetzt!“
„Ich!“
„Nein, ich!“
Nach heftigem Kampf haben sich schließlich alle schlecht und recht auf dem Fensterbrett niedergelassen.
Aus dem Fenster zu sehen ist seit einiger Zeit die Lieblingsbeschäftigung der Schkider. Mit verzehrender Neugier verfolgen sie den Straßenverkehr. Sie tauschen Schimpfworte mit dem Wächter, Rufe mit den Händlerinnen, und das macht ihnen Spaß. „He, Vollbart! Wisch den Rotz ab. Er schmilzt dir in der Nase!“ grölt Kaufmann hinunter.
Der Wächter fährt zusammen, sieht sich um und bricht in einen Schwall von Schimpfworten aus, als er die verhaßten Gesichter der Schkider erkennt.
„Ihr verdammten Schandschnauzen! Ich erwische euch noch!“ „Hahaha! Erwisch lieber den Hund unterm Schwanz!“
„Onkel Zausebart!“
Auf der anderen Straßenseite stehen junge Händlerinnen. Sie kichern und werfen den Jungen beifällige Blicke zu. Die Schkider bemerken sie.
„Mädels, schmeißt uns Sonnenblumenkerne rauf.“
„Dann gebt uns vorher Geld.“
„Geht's nicht umsonst?“
„Umsonst ist nur der Tod!“ schreien die Mädchen im Chor. Der Einkauf von Sonnenblumenkernen geht mit echt Schkider Erfindungsgabe vonstatten. Vom ersten Stock wird an einem Strick eine Mütze heruntergelassen, in der Mütze ist Geld, für das die Händlerin ein Maß Kerne hineinschüttet. Dann wird die Last wieder hochgehievt.
Mitten im größten Trubel erscheint Kostalmed. „Was ist hier los?“ ruft er. „Weg vom Fensterbrett!“ Im Umsehen sind die Fenster leer. Kostalmed räuspert sich befriedigt.
„Die erste und zweite Gruppe können Spazierengehen“, sagt er dann ruhig.
Die Klasse leert sich in Windeseile. Neiderfüllt und schmerzgepeinigt sehen die Zurückbleibenden vom Fenster, wie die Schkider gruppenweise aufbrechen. Zigeuner, Dse und Biber gehen zusammen bis zur nächsten Ecke. Dort trennen sie sich — jeder hat ein Stelldichein. In der Klasse ist es still — die Zurückgebliebenen sind wie gelähmt von Apathie. Einige sitzen am Fenster, andere spielen im Hof Schlagball. Die am Fenster Hockenden sehen verträumt auf die Straße. So geht es bis zum Abend. Dann versammelt sich alles wieder. Aufgeregt kommen die „Liebhaber“, wie sie getauft wurden, zurück und berichten um die Wette von ihren erstaunlichen, unwahrscheinlichen Abenteuern.
Die Knospen waren schon aufgesprungen, und die Bäume des Kirchhofs hatten sich mit zartem, lichtem Grün bedeckt. Der Frühling brauste durch die Straßen. Es war Mai. Abends klangen Gitarrenspiel, Gesang, das Tappen unzähliger Füße und Mädchenlachen zu den Fenstern der Schkid hinein.
Und als die weißen Nächte begannen, kam die Liebe zu den Schkidern. Zigeuner stand in hellen Flammen, nach ihm Dse. Dann erzählte jemand, er habe Biber mit einem Mädchen gesehen. Und allmählich wurde die gesamte Schkid von Liebesglut gepackt. Wenn der Abend anbrach, war die vierte Abteilung in heller Aufregung. Die Großen rasierten, wuschen und säuberten sich, kämmten sich sorgfältig das Haar und eilten auf die Straße. Der Spaziergangsentzug wurde die schrecklichste Strafe. Stundenlang flehten die Betroffenen kläglich um Urlaub. Hatten sie ihn erhalten, entschwanden sie mit strahlendem Gesicht. Sie schreckten nicht einmal vor der Flucht zurück. Unwiderstehlich lockte die Straße mit ungeahnten Abenteuern. Die ganze Alt-Petershofer Allee, von der Fontanka bis zum Obwodny-Kanal, war voll von flanierenden Schkidern und hallte von fröhlichem Gelächter wider. Wie Jäger stellten die Jungen den Mädchen nach, um sich hinterher ihrer Erfolge rühmen zu können.
Selbst nachts im Schlafraum tuschelten sie weiter. Sie versahen ihre Berichte mit rohen Details, wenn sie einander ihre Herzensgeheimnisse anvertrauten.
Von der ganzen Klasse waren es nur zwei, die von dem allgemeinen Liebesfieber unberührt blieben — Kostja Finkelstein, der sich gerade für Heinrich Heines Phantasiegestalten begeisterte, und scheinbar auch Jankel. Aber Jankel ließ den Kopf hängen.
Ihm waren die Liebesfreuden der anderen nicht gleichgültig. Er beobachtete sie unablässig und wurde dabei von Tag zu Tag niedergeschlagener. Jankel hatte eine schwierige psychologische Aufgabe zu lösen. Er rief sich die Vergangenheit ins Gedächtnis zurück, eine Vergangenheit, die ihm keine Ruhe ließ, die sich zu einer gewaltigen Tragödie auswuchs.
Er dachte an das Auffangheim für Kinder, in dem er ein halbes Jahr verbracht hatte, bevor er so formlos mit einem Frachtbrief in die Schkid geschickt worden war.
Dort hatte man damals viele kleine Jungen und Mädchen zusammengeholt. Jankel — er hieß zu jener Zeit noch nicht Jankel, sondern Grischka — kam sich unter ihnen wie Gulliver bei den Liliputanern vor. Aus Langeweile verprügelte er die Jungen und zog die Mädchen an den Zöpfen.
Eines Tages wurde eine Neue ins Heim gebracht. Sie war größer als das übrige Kindervolk, schwarz wie die Nacht und hatte dunkle, feuchte Augen.
„Wie heißt du?“ fragte Grischka. „Tonja.“
„Nachname?“
„Markoni“, antwortete das Mädchen. „Tonja Markoni.“
„Was bist du denn für eine?“ setzte Grischka das Verhör fort. Er musterte das Mädchen mit frechen Blicken. Die Neue spürte seine Feindseligkeit und wurde wütend. „Was geht dich das an?“ versetzte sie ebenso grob. Ihre Dreistigkeit reizte Grischka. „Hast du feste Zöpfe?“ forschte er drohend. „Versuch doch, dran zu ziehen.“
Grischka streckte die Hand aus. Er glaubte, das Mädchen würde nun aufkreischen und wegrennen, um zu petzen. Doch Tonja lief nicht fort. Sie ballte schweigend die Fäuste, um sich zu wehren. Dieser wortlose Mut setzte Grischka in Verlegenheit.
„Ich will mir an dir nicht die Hände schmutzig machen“, brummte er und ging weg.
Er rührte sie nicht mehr an, sprach aber auch nicht mit ihr, obgleich er keinen besonders großen Zorn empfand. Tonja richtete als erste das Wort an ihn.
Einmal bekam Grischka den Auftrag, Holz zu sägen. Er ging in den Saal, um sich einen Helfer zu suchen, und blieb unentschlossen stehen, weil er nicht wußte, wen er wählen sollte. Tonja stand in seiner Nähe, betrachtete ein Weilchen abwechselnd ihn und die Säge, die er in der Hand hielt, und ging dann zu ihm hin.
„Sägen?“ fragte sie schüchtern. „Ja“, brummte Grischka.
„Ich komm' mit“, meinte Tonja errötend. „Ich mag gern sägen.“ Grischka runzelte die Stirn und betrachtete das Mädchen zweifelnd. „Na, meinetwegen“, sagte er dann mißmutig.
Einen halben Tag arbeiteten sie schweigend. Tonja hielt mit ihm Schritt, und ihr war nicht anzumerken, daß sie müde wurde. Grischka machte allmählich ein freundlicheres Gesicht. „Wo hast du sägen gelernt?“ erkundigte er sich.
„In der Kolonie“, Tonja lachte über Grischkas erstauntes Gesicht. „In der Moika“, fügte sie hinzu. „Die haben wir Müllgrube genannt. Dort waren nur Mädchen, und wir mußten unser Holz selbst sägen.“
„Du arbeitest anständig“, lobte Grischka.
Sie unterhielten sich, bis es Abend wurde. Nach dem Sägen setzte sich Grischka auf einen Balken und drehte sich eine Zigarette. Tonja erzählte von ihren Streichen in der Moika, und Grischka machte die Entdeckung, daß Mädchen viel Interessantes berichten und einen Jungen sogar verstehen können. Stolz erzählte er ebenfalls einige seiner Heldentaten. Tonja lauschte aufmerksam und lachte vergnügt, wenn er etwas Komisches sagte. Allmählich vergaß Grischka vollständig, daß er ein Mädchen vor sich hatte, und fluchte im Eifer des Gefechts sogar zweimal. „Du bist genau wie ein Junge“, meinte er.
„Wirklich?“ Tonja errötete vor Vergnügen. „Wie ein richtiger Junge? Ich kann sogar rauchen. Gib mal her!“
Sie nahm Grischka den Zigarettenstummel aus der Hand, machte mutig einen kräftigen Zug und blies den Rauch von sich. „Tüchtig!“ Grischka war begeistert. „Prima Mädel!“
„Ach, ich möchte so gern ein Junge sein. Ich muß immer dran denken“, sagte Tonja traurig. „Das ist doch kein Leben — wenn man groß ist, muß man heiraten und kriegt Kinder… So was Langweiliges…“
Tonja seufzte schwer. Grischka wischte sich verlegen die Stirn. „Das stimmt.“ Er nickte. „Ihr Mädels habt Pech.“ Nach einer Woche waren sie schon unzertrennlich. Tonja hatte viel gelesen und erzählte Grischka davon. Er kannte nur Kriminalromane und war nun sehr verblüfft zu erfahren, daß es noch viele andere, ebenso interessante Bücher gab. Nach Tonjas Berichten zu urteilen, waren die Helden darin allerdings ziemlich öde. Sie verliebten sich nur dauernd und waren dann eifersüchtig. Aber Grischka vervollständigte Tonjas Erzählungen durch kriminalistische Einzelheiten. Wenn Tonja sich über einen Grafen ausließ, der an Eifersucht litt, weil seine Gräfin ihn mit einem armen Dichter betrog, schüttelte Grischka den Kopf und warf dazwischen: „Dummkopf!“
„Wieso?“
„Er hätte sie verdreschen sollen.“
„Geht nicht. Er liebte sie doch.“
„Na, dann hätte er dem Federfuchser richtig eins in die Fresse geben müssen.“
„Dann war sie mit ihm geflohen. Der Graf war doch so eifersüchtig.“
„Ach so, eifersüchtig…“ Grischka vermochte sich dieses merkwürdige Gefühl nur undeutlich vorzustellen. „Das ist was anderes.“
„Na gut — der Graf reiste ab, und die beiden lebten nun zusammen.“
„Reiste ab?“ Grischka griff sich an den Kopf. „Und ließ alles da?“
„Natürlich.“
„Die Möbel hat er auch nicht mitgenommen?“
„Nein. Er war doch so großzügig.“ Grischka hustete vor Ärger. „Dein Graf ist ein Idiot. Ich an seiner Stelle hätte alles mitgenommen — Bett und Tisch und Kommode. Laß die anderen doch wohnen, worin sie wollen…“
Manchmal stritten sie heftig miteinander, und der Tag reichte nicht aus, um alles gründlich zu erörtern.
„Weißt du was“, sagte Tonja einmal. „Komm zu uns in den Schlafraum, wenn die anderen eingeschlafen sind. Dann stört uns niemand, und wir können uns bis zum Morgen unterhalten.“ Grischka willigte ein.
Eine ganze Stunde lang lag er wartend im Bett, bis sich die anderen Kinder beruhigt hatten und die Erzieherinnen weggegangen waren. Dann schlich er in den Schlafraum der Mädchen. Tonja erwartete ihn.
„Sei leise“, flüsterte sie und rückte beiseite. Tonja war bis zum Hals zugedeckt.
Grischka kauerte sich neben sie. „Weißt du, wer mein Vater ist?“ fragte Tonja leise. „Nein, wer denn?“
„Der berühmte Erfinder Markoni… Ein Italiener…“
„Und du bist Russin. Wie kommt das?“
„Meine Mutter war Russin — Ballerina. Sie ist im Marinsker Theater aufgetreten. Als mein Vater nach Italien floh und sie verließ, hat sie sich vergiftet… aus unglücklicher Liebe.“ Grischka riß vor Erstaunen die Augen auf. Er konnte nicht unterscheiden, was bei Tonjas Berichten Wahrheit und was Lüge war. Er kramte ebenfalls alles hervor, was es in seinen kargen Erinnerungen an interessanten Dingen gab, und versuchte sogar einmal zu schwindeln, um den Bericht spannender zu machen. „Mein Vater war auch ein… wie heißt das noch?“
„Ein Graf?“
„Ja.“
„Wie heißt er?“
„Damaskin.“ Tonja prustete los.
„Damaskin… Damaskin… solche Grafennamen gibt's gar nicht!“ erklärte sie entschieden.
Grischka wurde sehr verlegen und versuchte sich herauszureden. „Er war… eine Art Graf… Er diente bei einem Grafen… als Kutscher.“
Tonja lachte Grischka aus und nannte ihn „Grafenkutscher“. Er gewöhnte sich so an sie, daß er sich ohne sie langweilte. Und wer weiß, womit diese Freundschaft geendet hätte, wenn Grischka nicht dieses Unglück zugestoßen wäre. Er hatte bekanntlich mächtig randaliert, und daraufhin stellte ihm die Kanzlei des Heimes die Begleitpapiere zur Schkid aus.
In der letzten Nacht schliefen die beiden nicht. Grischka saß zusammengekrümmt bei der Freundin am Bett.
„Ich liebe dich“, flüsterte Tonja. „Wir wollen uns zum Abschied küssen.“
Sie gab Grischka einen innigen Kuß, schob ihn zurück und brach in Tränen aus.
„Laß das“, murmelte Grischka gerührt. „Zum Teufel mit den Burschen da.“
Um Tonja zu trösten, küßte er sie ebenfalls. Sie packte seine Hand. „Ich komm zu dir“, sagte sie. „Schwöre mir, daß du ebenfalls zu mir kommen willst.“
„Ich schwöre es!“ brummte Grischka niedergeschlagen. Am nächsten Morgen war er schon in der Schkid, abends ging er mit seinen neuen Freunden zum Stummelsammeln, und nach einer Woche war er verroht und hatte seinen Schwur vergessen. Doch eines Tages stürzte der Küchendiensthabende Brotkanten, außer sich vor Aufregung, in die Klasse.
„Leute!“ brüllte er und wollte sich vor Lachen ausschütten. „Leute! Da ist ein Mädchen, das nach Jankel fragt. Seine Braut.“ Die Klasse sperrte Mund und Nase auf. „Du lügst!“ rief Zigeuner. Jankel saß in der Ecke. Er schrak zusammen, böser Ahnungen voll.
„Du lügst“, stammelte er.
„So?“ fragte Brotkanten. „Ich lüge? Ach, du lieber Himmel! Los, hau ab!“
Jankel stand auf und schlich zur Tür. Er konnte kaum die Füße heben. Die gesamte Klasse schloß sich ihm johlend und kichernd an. „Die Liebe versetzt Berge!“ grölte Zigeuner lachend. „Woll'n mal sehen, was das für 'ne Braut ist.“
Brüllend, pfeifend brach der Strudel in die Küche ein und zog den vor Entsetzen gelähmten Jankel wie in einem Sog mit sich. Dort stand Tonja Markoni. Sie preßte sich an die Tür und starrte erschrocken auf die tanzenden, singenden, grimassenschneidenden Schkider, die sie umringten. „Da ist er, da ist dein Grischka!“
Schutzsuchend stürzte Tonja zu Jankel hin. Er nahm sie bei der Hand, blickte sich hilflos um, aber er suchte vergebens einen Ausgang aus diesem Hexentanz.
„Jankel hat 'ne Braut! Jankel hat 'ne Braut!“ schrien die Jungen und tanzten um das unglückliche Paar herum.
„Wie kommt es, daß ihr zwei seid?“ krähte Spatz Jankel wie ein Hahn ins Ohr.
„Huii-uu!“ kreischte plötzlich der ganze Kreis. Aufschreiend preßte Tonja die Hände an die Ohren. Jankel wurde es dunkel vor den Augen. Er duckte sich mit vorgerecktem Kopf wie ein Stier, stürzte davon und zerrte Tonja hinter sich her.
„Huii-uu!“ stöhnte, brüllte das ringsum tanzende vielgesichtige Ungeheuer. Jankel drängte sich zur Tür, stieß Tonja ins Treppenhaus und sprang hinterher. Einer schlug ihm noch auf den Kopf, ein anderer trat ihm in den Hintern, und wie ein Pfeil sauste er die Treppe hinunter.
Tonja stand unten auf dem Treppenabsatz. Ihre Lippen bebten. Sie schämte sich, Jankel anzusehen.
Jankel kratzte sich den Nacken und stotterte, die Jungens hätten nur Spaß gemacht, das sei bei ihnen so üblich. Er schämte und ärgerte sich — über sich selbst, über Tonja, über die Jungen. Ein richtiges Gespräch kam nicht in Gang. Tonja ging bald fort. Zwei Wochen lang setzte die ganze Schule Jankel zu. Er wurde geneckt, ausgelacht, verspottet und — meistens — entrüstet ausgeschimpft. Ein Schkider, der mit einem Mädchen befreundet ist! Schmach und Schande! Eine Schande für die ganze Schule!
Als Jankel dermaßen mit Hohn übergössen wurde, bedauerte er allmählich, sich mit einem Mädchen angefreundet zu haben. „Du Idiot, du Waschweib!“ beschimpfte er sich. Voller Entsetzen dachte er an die letzte Szene, aber im Grunde seines Herzens hegte er doch noch eine Art Mitleid für Tonja.
In dieser Zeit dachte Jankel über vieles nach. Endlich faßte er einen Entschluß, der einem richtigen Schkider angemessen war. Zwei Wochen später kam Tonja — mutig wie sie war — noch einmal zur Schkid. Sie blieb auf dem Hof und bat, Grischka Tschornych herunterzuschicken.
Jankel ging nicht zu ihr. Er sandte Mamachen.
„Wollen Sie zu Grischka?“ erkundigte sich Mamachen grinsend. „Grischka läßt Ihnen nämlich ausrichten, Sie sollen sich schleunigst heimscheren. Grüßen läßt Sie der Narwer Sowjet, das Putilow-Werk, der Wächter am Tor, die Bogomolow-Straße, der Hahn und die Henne, der Pope Jermoschka, und ich bin auch noch da!“ Mamachen deklamierte so lange, bis der gebeugte Rücken des Mädchens im Tor verschwunden war.
„Erledigt!“ meldete er, in die Klasse zurückgekehrt. „Sie ist verduftet!“
„Hast sie dir prima abgewimmelt, Jankel!“ Die Jungen waren begeistert. Jankel lächelte, aber er empfand keine Freude über seine Heldentat.
Die Ehre der Schkid war wiederhergestellt, doch ein trüber, schmutziger Fleck blieb auf Jankels Herz zurück. Und nun, zwei Jahre später, dachte Jankel wiederum an Tonja. Vor seinen Augen zerbrachen die Traditionen der guten alten Zeit. Was früher eine Schande gewesen war, galt jetzt als Heldentat. Jetzt erzählten alle — verliebt bis über beide Ohren — von ihren Freundinnen, und wer keine besaß, war unglücklich und wurde von allen verachtet. Warum habe ich sie damals weggeschickt? überlegte Jankel traurig, und bittere Gekränktheit über die Kameraden zerfraß ihm das Herz. Ihretwegen hatte er Tonja doch verjagt, und nun taten sie dasselbe, und niemand lachte sie aus.
Finster und wortkarg lief Jankel umher. Tonja ging ihm nicht aus dem Kopf, und mit jedem Tag wuchs der Wunsch, sie wiederzusehen, zu ihr zu gehen.
Einmal schüttete er Kostja Finkelstein sein Herz aus. Kostja hörte ihn an und kniff die dunklen, kurzsichtigen Augen zusammen. „Meiner Meinung nach solltest du zu ihr hingehen“, sagte er nachdrücklich.
„Findest du?“ fragte Jankel froh. „Ja.“
Es wurde Abend. Eilig wuschen sich die Schkider, putzten sich heraus, steckten sich eine Blume an und liefen nacheinander auf die Straße, jeder zu seinem heimlichen Treffpunkt.
Nur Kostja hatte es nicht eilig. Er holte einen Band seines geliebten Heine unter der Schulbank hervor, steckte sich ein vom Mittagessen übriggebliebenes Stück Brot in die Tasche und ging.
Ihm war es noch nicht beschieden, die Geliebte in qualvoller Ungeduld an der verabredeten Stelle — an der Apotheke oder dem Tabakladen — zu erwarten. Kostjas Herz schlief noch. Es klopfte einstweilen gelassen die Sekunden seines Lebens.
Kostja liebte nur Heine und den Park an der Kalinkin-Brücke. Es war ein kleiner, schmuddeliger, ungepflegter Park mit einem wackligen Eisengitter, aber Kostja gefiel er.
Jeden Tag ging er dorthin. Abseits von der lärmenden Straße setzte er sich behaglich auf eine Bank, holte den Brotkanten hervor, schlug den Gedichtband auf und vertiefte sich in die Lektüre. Und wenn er die ersten Zeilen überflogen hatte, verschwand die Umgebung für ihn, und eine neue, wundersame, farbenreiche Welt erstand vor seinen Augen.
Er hob den Kopf, blickte auf die Fontanka, die dunkel hinter dem Gitter vorüberfloß, und deklamierte begeistert:
Die Luft ist kühl, und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein.
Der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein…
Und in ekstatischem Entzücken betrachtete er die unauffällige Fontanka, die sich für ihn in den stillen, breiten Rhein verwandelt hatte, den Rhein, über dessen gelassen dahinziehende, smaragdene Wogen die Berge ragten. Und…
Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar,
ihr goldnes Geschmeide blitzet,
sie kämmt ihr goldenes Haar…
Kostja starrte in die Ferne, von dem Verlangen gepackt, im Nebel diesen Berg zu erblicken; er suchte die schönste Jungfrau mit dem goldenen Haar — lange, beharrlich, mit stockendem Atem. Aber die Lorelei war nicht zu sehen. Auf der Uferstraße rasselten die Wagen und schimpften die Kutscher. Da ließ Kostja traurig den Kopf sinken. Er spürte, wie Leid sein Herz umfing, und las weiter. Und wieder durchglühte ihn die Begeisterung, daß er unruhig hin und her rutschen, die Sätze laut vor sich hin sagen und die Seiten mit vor Erregung zitternden Fingern umwenden mußte, und dann starrte er in die graue, neblige Ferne. Und eines Tages erblickte er plötzlich die Lorelei. Sie kam von der Kalinkin-Brücke geradenwegs auf den Park zu, in dem Kostja saß. Ein leiser Wind spielte in ihrem üppigen goldenen Haar, daß es im Schein der untergehenden Sonne auffunkelte. Die Lorelei trug allerdings einen ganz gewöhnlichen kurzen Rock und eine weiße Bluse, doch Kostja sah nichts außer der goldenen Krone auf ihrem Haupt. Und wegen seiner Kurzsichtigkeit konnte er nicht einmal ihr Gesicht genau erkennen.
Unbeweglich saß er da, ein Stück Brot im Mund, und blickte der blonden Unbekannten verzückt nach. Langsam ging sie bis zum Ende des Parkes, kam ebenso langsam wieder zurück, setzte sich Kostja gegenüber und schlug die Beine übereinander.
Kostja entrang sich ein erstickter Seufzer. Kraftlos lehnte er sich zurück, die Augen unverwandt auf das goldhaarige Mädchen geheftet. Ja, wirbelte es ihm durch den Kopf. Das war die Lorelei. Genauso hatte er sie sich vorgestellt… Dieses wundersame Haar, das wie eine üppige Krone ihr herrliches, königliches Gesicht umgab… Kostja zweifelte nicht daran, daß ihr Gesicht herrlich sein müsse, obgleich seine kurzsichtigen Augen nur eine undeutliche Scheibe wahrnahmen.
Kostja vergaß sein Buch, wandte kein Auge von der Unbekannten und spürte sein Herz in der Brust hämmern. Mehrmals versuchte er mit aller Energie, sich auf sein Buch zu konzentrieren, aber vergebens. Kurz darauf sah er wieder zu ihr hinüber. Seine Gedanken überstürzten sich.
„Was soll ich tun?“ stammelte er aufgeregt. „Wie kann ich mich ihr nähern?“
Er durfte doch nicht so weggehen. Er mußte vor sie hintreten und sagen…
„Was soll ich sagen?“ fragte er sich zum zwanzigsten Male zornig. „Was soll ich bloß sagen?“
Eine halbe Stunde verging. Kostja blieb sitzen, durchbohrte die Unbekannte mit feurigen Blicken und zerbrach sich den Kopf, wie er ein Gespräch mit ihr anfangen könne.
„Lorelei!“ flüsterte er erschüttert. „Ich komme zu dir, Lorelei…“ Doch die Lorelei stand plötzlich auf, schüttelte ihr Kleid aus und ging langsam aus dem Park.
Alle Freude war wie ausgelöscht. Es wurde langweilig und kalt. Eine Horde Betrunkener brach in den Park ein und grölte:
Die Banane, du mein Schatz,
tschu-ra-ra…
Kostja klappte das Buch zu, erhob sich und trottete niedergeschlagen zum Ausgang…
Am nächsten Tage war er mürrisch und zerstreut. Beim Unterricht saß er gedankenversunken da, die Augen in die Ferne gerichtet. Er hörte unaufmerksam zu, murmelte etwas vor sich hin, und als Onkel Dima in der Russischstunde fragte, welche Werke aus der russischen Gegenwartsliteratur die besten seien, antwortete er: „Die Lorelei.“
„Die Lorelei?“ fragte Onkel Dima zurück. Die Klasse lachte schallend. Kostja fuhr zusammen. „Er hat sich an Heine festgelesen!“ riefen die Jungen. Doch als der Unterricht beendet war, wurde Kostja wieder lebendig. Er griff nach seinem Buch und rannte als erster aus der Klasse. Während die anderen erst anfingen, sich zu waschen, schritt er bereits die Alt-Petershofer Allee hinunter.
Da war die Brücke. Kostja lief zum Park, seine erregten Blicke überflogen die Bänke, und plötzlich schrak er vor Freude zusammen.
„Da!“ Er schrie es beinahe, als er das leuchtende Haar erblickte. „Da ist sie, die Lorelei!“
Er stürzte in den Park, ließ sich auf seine Bank fallen und starrte die Lorelei in wortlosem Entzücken an, hingerissen, begeistert, drauf und dran, vor Freude zu schreien.
Sie ist gekommen! Sie hat mich bemerkt! Welch wundersames, wortloses Wiedersehen!
Aber vergeblich suchte er sich zu überwinden und zu der Unbekannten hinzugehen. Die verdammte Schüchternheit lahmte seine Glieder. Wieder saß Kostja eine geschlagene halbe Stunde da. Es dämmerte schon, aber er hockte wie angeschmiedet auf seiner Bank und weinte beinahe vor Wut. Und ebenso plötzlich wie am Tage zuvor erhob sich die Lorelei und eilte zum Ausgang.
Kostja sprang auf. Er wußte nicht, was er tun sollte. Da fiel der Unbekannten etwas Weißes aus der Hand. „Ein Taschentuch!“ Kostja klopfte das Herz bis in den Hals. In rasender Eile zogen herrliche Szenen an seinen Augen vorüber: Pagen, Ritter, Damen, ein verlorenes Tüchlein… Er stürzte zu dem weißen Häuflein, das am Wege lag, raffte es auf und faltete es auseinander.
Es war ein Einwickelpapier von einem Bonbon, auf dem eine blonde Tänzerin abgebildet war. Darunter stand: „Die Bajadere.“ Spätnachts wälzte sich Kostja in seinem Bett herum und flüsterte melancholisch:
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
daß ich so traurig bin…
Dann holte er das Papier aus der Hosentasche, strich es sorgfältig glatt und vertiefte sich in den Anblick der blonden Bajadere. Es kam ihm vor, als sei das kein Bonbonpapier, sondern ein Porträt der schönen Unbekannten, die er anbetete. Vorsichtig, um das Papier nicht zu zerknittern, legte er es unter sein Kopfkissen und schlief mit glücklichem Lächeln ein. Am folgenden Tage war Kostja wiederum im Park. Und dann noch mal… und noch mal… Immer schien die Unbekannte ihn zu erwarten. Er aber hockte den ganzen Abend schmachtend auf der Bank und ging heim, ohne den Entschluß gefaßt zu haben, sie anzureden. Für den Unterricht interessierte er sich überhaupt nicht mehr. Er schrieb Gedichte oder träumte vor sich hin. Sogar seine Liebe für Heine erkaltete.
Die Schkider zankten und versöhnten sich, begannen neue Liebschaften; aber Kostjas seltsamer Roman schien noch immer gerade erst anzufangen.
Kostja ging in den Park. Er setzte sich auf seinen Platz, der Lorelei gegenüber, schlug anstandshalber sein Buch auf und heftete ziemlich kühne Blicke auf die Unbekannte.
Er hatte sich an sie gewöhnt. Heute war er fest entschlossen, sie anzureden, und dann… Aber weshalb in die Zukunft blicken? Kostja klappte das Buch zu und stand energisch auf. Er schritt auf die Lorelei zu und formulierte in Gedanken den Satz, mit dem er ihr sogleich seine Absichten kundtun wollte. Er war schließlich kein Vagabund und nicht gewillt, ihr irgendwelche Beleidigungen zuzufügen… Doch da stockte Kostjas Schritt.
Ein breitschultriger Bursche in einem gestreiften Sporthemd schwankte auf die Unbekannte zu.
„Na, Puppe!“ hörte Kostja eine rohe Stimme rufen. Es folgte ein langer, einfallsreicher Fluch.
Kostja erstarrte. Er hörte die Lorelei leise aufschreien. Immer deutlicher drangen grobe Schimpfworte, die heisere Stimme des Burschen und die Rufe der Unbekannten an sein Ohr. Dabei klang ihre Stimme durchaus nicht so silbern, wie Kostja es sich vorgestellt hatte. Er wußte noch nicht, was er tun sollte, und stand unentschlossen da, als der Bursche plötzlich fluchend ausholte und die Unbekannte schlagen wollte.
„A-a-a! Er will mich umbringen!“ schrie das Mädchen. „Halt!“ brüllte Kostja, sprang auf den Burschen zu und hielt seinen Arm fest. „Rühr dich nicht von der Stelle!“
Der Bursche trat einen Schritt zurück und versuchte sich loszureißen, aber Kostja ließ seinen Arm nicht frei und schrie, so laut er konnte: „Schurke! Wie kannst du es wagen!“ Neugierige sammelten sich um sie. Erschrocken blickte sich der Bursche um. Kostja wandte sich triumphierend der Unbekannten zu. „Haben Sie keine Angst!“ sagte er. Doch da stockte er und wich in wortlosem Entsetzen zurück. Zum erstenmal sah er die Lorelei, von der er in langen schlaflosen Nächten so glühend geträumt hatte, aus der Nähe. Was war das für eine Lorelei! Ein stumpfsinniges, häßliches, pockennarbiges Gesicht, von rötlichem zerzaustem Haar umgeben, blickte ihn an. Und zu allem Überfluß roch die Person nach Schnaps. Wie festgewurzelt stand Kostja da, unfähig, ein Wort hervorzubringen.
„Was ist hier passiert?“ forschten die Umstehenden. „Nichts weiter“, rechtfertigte sich der Bursche. „Ich und meine Alte stehen in friedlichem Gespräch zusammen, da kommt der ran und fängt 'ne Keilerei an…“ „Das stimmt nicht, Bürger!“ stieß Kostja hervor.
„Wieso nicht?“ kreischte die Lorelei, schmiegte sich an den Burschen und schrie, auf Kostja zeigend: „So 'n schwarzer Vagabund! Wir unterhalten uns, und er…“
„Dem gehört was in die Fresse“, meinte einer. „Ich wollte sie verteidigen“, rief Kostja.
„Ich will dir mal zeigen, was verteidigen heißt!“ grölte der Bursche, wieder mutig geworden, und drang auf Kostja ein. „Ich tränk es dir ein, du grindiger Knoten, du verdammter!..“ „Er hat recht!“ bestätigte einer. „Solche Burschen muß man Mores lehren.“
Hilflos sah sich Kostja um, und als er nichts als drohende Gesichter erblickte, wandte er sich zum Ausgang.
„Hau ab!“ wurde ihm nachgerufen. „Verdufte!“
Langsam ging Kostja heim.
Mehrere Tage lang dachte Jankel an Tonja, und ihm wurde immer klarer, daß Kostja recht hatte.
„Ich geh' hin!“ beschloß er schließlich. Die Sehnsucht überwältigte ihn. Er mußte das schwarzäugige Mädchen wiedersehen. So machte er sich auf den Weg.
Das Auffangheim war in der Nähe derSchkid, in der Kurländer Straße. Das zweistöckige Gebäude wurde von einem kleinen Garten umgeben. Mit klopfendem Herzen blieb Jankel an der Pforte stehen. Auf dem Hof spielten ein paar Mädchen in grauen Anstaltskleidern Ball. Vielleicht ist sie nicht mehr hier? In ein anderes Heim versetzt? dachte Jankel. Halb besorgt, halb freudig öffnete er die Pforte und trat in den Hof.
„Oh, ein Junge!“ rief ein Mädchen. Sie hörten auf zu spielen und betrachteten ihn von weitem.
„Was willst du hier?“ fragte ein stupsnäsiges Mädchen und schwenkte kriegerisch den Ballschläger. Jankel holte tief Luft. „Ich möchte zu Tonja“, sagte er. „Zu Tonja Markoni.“ „Zu Tonja?“ riefen mehrere Mädchen. Sie liefen zur Treppe. „Tonja, Tonja, komm heraus! Da fragt so 'n Zwerg nach dir!“ Jankel stand mehr tot als lebendig da. Er bereute, überhaupt hergekommen zu sein, und begriff, daß er sich in ein hoffnungsloses Unterfangen eingelassen hatte. Verzagt sah er sich nach der Pforte um, aber eine wohlbekannte Stimme veranlaß te ihn, stehenzubleiben.
„Was brüllt ihr so? Schämt ihr euch nicht?“ Es war Tonja. Die Mädchen verstummten und traten zurück. Jankel sah, daß Tonja größer geworden war und sich verändert hatte. Sie ging zu ihm hin, blieb stehen, musterte Jankel von Kopf bis Fuß und hob erstaunt die Augenbrauen. Sie erkannte den Grischka von früher nicht. „Was wünschen Sie?“ fragte sie sachlich.
Jankel verlor endgültig die Fassung. Alle Worte, die er sich unterwegs ausgedacht hatte, waren aus seinem Kopf wie weggeblasen. „Guten Tag, Tonja“, stammte er. „Erkennst du mich nicht?“ Das Mädchen sah Jankel eine Weile aufmerksam an, und plötzlich stieg ihr das Blut ins Gesicht. Jetzt hat sie mich erkannt! dachte Jankel froh.
„Tonja!“ sagte er eifrig. „Tonja, ich hab' meinen Schwur doch nicht vergessen… du siehst…“
Tonja antwortete nicht. Ihr Gesicht verzog sich, als wolle sie in Tränen ausbrechen. Jankel stockte verwirrt.
„Und du… denkst du noch an deinen Schwur?“ fragte er zaghaft. Tonja schwieg noch immer. Sie schien nachzudenken. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein, ich erinnere mich an nichts“, sagte sie dann leise. „Soo!“ brummte Jankel Ungläubig. „Und daß wir uns abends immer unterhalten haben, weißt du auch nicht mehr?“
„Nein.“
„Und deinen Papa, den amerikanischen Erfinder, hast du auch…“ Jankel verstummte und sah Tonja erschrocken an. Sie biß sich mit blassem Gesicht auf die Lippen und betrachtete ihn haßerfüllt. Es sah aus, als würde sie im nächsten Augenblick losschreien, mit den Füßen trampeln, ihn beschimpfen.
„Tonja!“ rief eine helle Stimme. „Mach die Bibliothek auf!“ „Gleich!“ rief Tonja. Als sie sich Jankel wieder zuwandte, war ihr Gesicht ruhig geworden.
„Hören Sie“, sagte sie still. „Machen Sie, daß Sie wegkommen!“
„Weg?“ fragte Jankel. Mit verlorenem Lächeln wiederholte er fassungslos: „Weg? Für immer?“
„Ja, ganz weg.“
„Endgültig?“
Jankel schloß die Pforte hinter sich.
„Und der Schwur?“ fragte er mit bebender Stimme, die Augen auf Tonja geheftet. Etwas wie Wärme blitzte in ihren Augen auf, aber es war sofort wieder verschwunden.
„Er ist dir zu spät wieder eingefallen“, sagte sie leise. „Es ist alles zu Ende.“
„Für immer?“
„Ja.“
Jankel knurrte traurig, spuckte sich auf die Stiefelspitze und trollte sich.
Langsam schlenderte Jankel dahin und dachte an das eben Erlebte. Vor der Schule wurde er von einer Bekannten, einer Verkäuferin, angesprochen.
„Grischka! Magst du einen Bonbon?“
„Gib her!“ sagte Jankel und streckte, ohne hinzusehen, die Hand aus.
Das Mädchen wollte schon lange mit ihm anbändeln, aber er hatte sich bisher nicht darum gekümmert.
Die Verkäuferin kramte die Bonbons hervor, sah Jankel an und schwatzte ohne Unterlaß.
Jankel hörte nicht zu. Plötzlich durchfuhr ihn ein Gedanke. Gut! sagte er sich. Soll sie mich doch verschmähen. Ich weine ihr nicht nach.
Er warf dem Mädchen einen schnellen Blick zu. „Soll ich mit dir Spazierengehen?“ fragte er.
„Aber nur, wenn ich dir gefalle…“
„Darauf kommt's nicht an“, meinte Jankel. „Also morgen um sieben.“ Damit ging er in die Schule.
„Kostja spielt verrückt!“ schrie Mamachen, als Jankel in der Tür erschien. „Wo ist er?“
„In der Toilette. Er hat sich eingeschlossen und schreit und läßt niemanden rein.“
Jankel rannte die Treppe hinauf. Wilder Lärm hallte ihm entgegen. In der Klasse war eine Keilerei im Gange. Die Jungen hatten Kostja aus der Toilette gezerrt. Er schlug um sich und schrie, sie sollten ihn loslassen. Dann riß er sich los und kletterte auf das Fensterbrett. Die Jungen hielten ihn fest, er wand sich und brüllte wie rasend: „Laßt mich, ich kann nicht mehr!“
Schließlich gelang es den Jungen, ihn zu überwältigen und zurück-zuzerren.
Still saß er dann in der Ecke und griff sich nur zuweilen zähneknirschend an den Kopf.
Spätabends hockten Jankel und Kostja im Saal.
„Spuck auf alles!“ tröstete Jankel. „Mädels gibt es viele. Ich hab' mir jetzt auch so eine Puppe aufgegabelt, die schenkt mir Bonbons.“ Er holte eine Handvoll heraus. Kostja wollte danach greifen, aber er wandte sich ab. Auf dem Bonbonpapier tanzte eine blonde Bajadere. „Ich esse keine Süßigkeiten“, sagte er mit gerunzelter Stirn. Dann sah er Jankel an. „Warst du bei deiner?“
„Bei wem?“ Jankel machte ein erstauntes Gesicht. „Bei der, von der ich dir erzählt habe?“
„Na ja.“ „So was Dummes!“ Jankel brach in schallendes Gelächter aus. „So was Dummes! Ich hab's gerade nötig, mich mit der ersten besten rumzutreiben. So'n Idiot bin idi nicht.“ Er verstummte und fügte dann kummervoll hinzu: „Weißt du, auf die Weiber kann man sich doch nicht verlassen!“
Der Frühling tat das Seine. Ein unruhiger Gast randalierte in den Mauern der Schkid — die Liebe.
Niemand weiß, wieviel Tinte auf Briefpapier vergeudet, wie viele leidenschaftliche, zärtliche Worte, wieviel Kosenamen von groben, jeder Zartheit entwöhnten Lippen gesprochen wurden. Selbst Kaufmann, der zu faul war, um Bekanntschaften zu suchen, und zu schwerfällig, um ganze Abende lang törichte Liebesworte zu schwatzen, selbst er spürte etwas von der allgemeinen Erregung. Mit merkwürdig freundlichen Blicken verfolgte er die Köchin Marta, lief dauernd in die Küche und störte dort alle.
„Du Teufel!“ schalt Marta lachend, aber sie war nicht böse auf ihn. Im Gegenteil, sie steckte ihm lauter gute Sachen zu — natürlich zum großen Neid der anderen. Kaufmann strahlte und ging auf wie ein Hefekloß.
Und Jankel? Wie um sich an seiner alten Freundin zu rächen, liebäugelte er eifrig und nicht ohne Erfolg mit der Bonbonverkäuferin. Jetzt konnten sich alle zu Recht ihrer Freundinnen rühmen, und das taten sie auch. Eines Tages gab es eine Parade der „Damen ihres Herzens“. Montags veranstaltete das Bezirkskino „Olympia“ Jugendvorstellungen, und die leitenden Stellen beschlossen, dort in den Maitagen ein großes Bezirksjugendfest stattfinden zu lassen. Und weil ein Garten zu dem Kino gehörte, sollte das Fest draußen vor sich gehen.
Es wurden gründliche Vorbereitungen getroffen, und schließlich benachrichtigte man die Schulen. Es versprach, großartig zu werden. Die Schkider waren außer sich vor Aufregung. Selbstverständlich hatten die verliebten Pärchen ein Stelldichein im Garten verabredet und rüsteten sich nun besonders eifrig.
Endlich brach der lang ersehnte Tag an.
Nach dem Unterricht bekamen die Jungen ihre Festtagskleidung und wurden veranlaßt, sich blitzsauber zu waschen. Dann stellten sie sich paarweise auf und marschierten unter Leitung der Erzieher in den Garten.
Dort trafen sie gleichzeitig mit dem Hauptstrom der Gäste ein. Die Reihen drohten sich aufzulösen, aber Vikniksors Befehl lautete, die Jungen nicht vorzeitig laufen zu lassen, und die Propheten paßten wie die Schießhunde auf.
Das Fest begann mit der üblichen Filmvorstellung im Kino. Zuerst wurde ein Filmdrama vorgeführt, dann eine Komödie und ein Naturfilm, und als das Licht wieder anging, merkten die Jungen, daß fünf „Liebhaber“ verschwunden waren. Sie wurden jedoch sehr schnell im Garten wiedergefunden. Allesamt gingen sie dort stolz erhobenen Hauptes mit ihren Freundinnen spazieren. Es sah wie ein Wettbewerb aus: Wessen Freundin war die beste? Dse obsiegte. Der brünette Grusinier hatte ein Mädchen, bei dessen Anblick die Schkider vor Begeisterung Mund und Nase aufsperrten:
„Das ist ein Mädel!“
„So was laß ich mir gefallen! Signorita Margarita!“ Das kleine Mädchen mit dem blonden Pagenkopf war offensichtlich sehr einverstanden mit seinem feurigen dunklen Kavalier und merkte gar nichts von seiner Hinterlist — er führte sie dauernd an den Kameraden vorüber und erzählte ihr dabei unermüdlich lustige Geschichten, so daß ihr Mündchen fortwährend lächelte und ihre blauen Augen vor Freude und Verliebtheit strahlten. Wahrhaftig, sie war die hübscheste von allen Schkider Freundinnen. Bezaubert von ihrer Schönheit, ärgerte sich Jankel unwillkürlich über seine Eroberung — ein stupsnasiges dickes Mädel, das pausenlos Sonnenblumenkerne knapperte. „Was ist das bloß für'n Trampel!“ wütete Jankel im stillen. Er spürte, daß die anderen spöttisch zu ihm hinüberblickten. Schließlich konnte er das Spießrutenlaufen nicht länger aushalten, zerrte seine Liebste hinter ein paar Bäume und blieb dort erleichtert aufatmend stehen. Aber sie wollte unbedingt zu den Vergnügungsstätten zurück, um zu tanzen.
„Warum sind wir hierher gegangen, Grischka, Liebling?“ schmollte sie mit einem koketten Lächeln, das ihr Gesicht in einen Pfannkuchen verwandelte. „Komm zurück. Gleich beginnt der Tanz.“ Grischka-Liebling knirschte mit den Zähnen.
„Weißt du, Herzchen“, stieß er in plötzlichem Entschluß hervor, „geh einstweilen allein, ja? Ich bleib' noch ein bißchen hier… ich komme dann nach.“
„Nein, du willst mir nur weglaufen, aber ich lasse dich nicht!“ schmachtete die Verkäuferin und schmiegte sich an den unglücklichen Jankel. Er versuchte sie wegzuschieben, aber sie lachte nur und drückte ihn noch fester an sich. Da platzte ihm endgültig der Kragen, er riß sich los und schrie verzweifelt: „Geh zum Teufel, dumme Gans! Laß mich in Ruhe!“
Das Mädchen schrie vor Überraschung auf. Jankel rannte Hals über Kopf davon und verbrachte dann den ganzen Abend damit, seine Kameraden anzuflehen, sie möchten ihn vor den Verfolgungen seiner Geliebten schützen.
Inzwischen hatte der Tanz begonnen. Ein sanfter Walzer klang über den Tanzplatz, und die ersten Paare drehten sich im Kreise. Beispiele stecken an. Das Fest verschaffte fast allen Schkidern die Gelegenheit, sich eine „Dame“ zu suchen, und folglich gab es von nun an etwa zwanzig neue „Liebhaber“.
Wessen Freundin war die beste?
Die „Liebhaber“ waren leicht zu erkennen. Sie verhielten sich gesittet, sie randalierten nicht, befanden sich alle in der ersten oder zweiten Gruppe und prangten in einer außergewöhnlichen Sauberkeit.
Für gewöhnlich konnten die Erzieher die Jungen nur mühsam dazu bringen, daß sie sich wuschen. Jetzt taten sie es mit umständlicher Sorgfalt. Außerdem wimmelte die Schkid plötzlich von schnurgerade gezogenen Scheiteln, die alle Augenblicke eifrig auf ihren tadellosen Sitz geprüft wurden.
Die gleiche Sorgfalt trat in der Kleidung zutage. Die Republik Schkid war verliebt.
Allerdings ging es nicht ohne tragische Zwischenfälle ab. Biber wurde eines Tages wegen seiner Freundin verprügelt, denn diese Freundin besaß schon einen ebenso eifersüchtigen wie kräftigen Anbeter, der es nicht versäumte, sich nachdrücklich in Erinnerung zu bringen, und sich Biber am Obwodny-Kanal vorstellte.
Hinterher ging Biber eine ganze Woche lang nicht auf die Straße, denn er litt plötzlich an Verfolgungswahn.
Zigeuner machte ebenfalls Schweres durch, denn sein Mädchen ging gern ins Kino, und weil er kein Geld hatte, mußte er sich den Mund fusselig reden, um sie davon zu überzeugen, daß das Kino eine gemeine, niedrige Einrichtung sei.
Auch Dse litt aus Liebe. Um seiner Geliebten willen verkaufte er seinen einzigen Schatz — einen Zirkelkasten. Für das erhaltene Geld führte er seine blauäugige, rosige Schöne (sie stammte aus einem benachbarten Kinderheim) dann drei Tage hintereinander aus. Schnell und unbemerkt verrannen die Frühlingstage. Besorgt betrachtete Vikniksor die geschniegelten Jungen und meinte: „Die Kinder wachsen heran. Fast sind sie schon heiratsfähig. Wir müssen sie bald entlassen, sonst wächst ihnen im Kinderheim noch der Bart.“ äber ihren Liebesträumen vergaßen die Schkider die Gefahren und Launen des Schicksals. Doch eines Tages zogen Verwirrung und Entsetzen in ihre wehrlosen Herzen ein. „Es ist Zeit, die Haare abzuscheren“, erklärte Vikniksor. „Der Sommer kommt, und die Zotteln, mit denen ihr herumlauft, sind schrecklich anzusehen. Ihr bringt nur Ungeziefer ins Haus!“ Einfache Worte, aber von der gleichen panischen Wirkung wie die Rufe: „Es brennt!“ oder „Die Sintflut kommt!“ Das Haar abrasieren!
„Wie soll ich als Kahlkopf vor meine Marusja hintreten!“ Vor lauter Liebesdingen hatten die Jungen das Haarschneiden vergessen, obgleich sie wußten, daß diese Prozedur, wie in allen anderen Kinderheimen, regelmäßig vorgenommen werden mußte. Eines Tages wurde nach dem Abendessen verkündet, daß morgen der Friseur käme.
Die Großen waren jedoch entschlossen, ihren Kopfschmuck zu verteidigen. Sie beriefen eine Geheimversammlung ein und sandten eine Delegation zu Vikniksor mit der Bitte, der dritten und vierten Abteilung zu erlauben, daß sie das Haar behielten. Vikniksor ließ sich erweichen und gab die Erlaubnis, aber nur der vierten Abteilung und unter der Bedingung, daß die Jungen ihr Haar immer ordentlich kämmten. Am nächsten Tage bekamen sie Kämme, die sich bei näherer Betrachtung als Holzzinken herausstellten und die Kopfhaut zerkratzten. Trotz alledem wurden sie freudig in Empfang genommen. „Endlich sind wir erwachsen!“
Aber bald verursachten die unglückseligen Haare neuen Kummer. Wenn die Schkider im Unterricht über einer schwierigen Aufgabe schwitzten, fuhren sie sich aus alter Gewohnheit manchmal mit allen fünf Fingern durch das Haar, und dadurch verwandelte sich die gepflegte Frisur in struppige Zotteln. Das veranlaßte den betreffenden Propheten zu einem Tadel wegen Ungekämmtheit. Die Großen sahen sich also zwischen zwei Feuern: Haarschneiden bedeutete den Verlust der Freundin, Haarschmuck — eine Unmenge von Tadeln. Aber auch hier trifft das russische Sprichwort zu, daß der Nackte nicht um Einfälle verlegen ist. Dse lieferte der Republik eine Erfindung, die einen ideal sitzenden Scheitel garantierte. Er führte sie eines Morgens im Waschraum vor.
„Es ist ein äußerst einfaches, leichtes Mittel“, erklärte Dse seinen vielen aufmerksamen Zuhörern. Er trat zum Waschtisch und demonstrierte die Erfindung mit dem Gehabe eines Zauberkünstlers anschaulich an seinem eigenen Kopf.
„Also, ich feuchte mir das gekämmte Haar mit gewöhnlichem, ungekochtem Wasser ohne jede Beimengung an.“ Er drehte den Hahn auf und hielt den Kopf unter den Wasserstrahl. „Dann ziehe ich mit dem Kamm einen Scheitel“, fuhr er fort und tat es, „und nun kommt die Hauptsache. Der Scheitel ist fertig, aber die Frisur muß noch Halt bekommen. Dazu nehmen wir ein gewöhnliches Stück trockene Seife und fahren damit vom Scheitel weg über das Haar, um die Frisur nicht zu zerstören. Nach fünf Minuten ist die Seife trocken, und der Scheitel hält eisern fest.“
Jeder probierte die Erfindung an sich aus, und alle waren mit dem Resultat zufrieden. Sie brachte allerdings gewisse Unannehmlichkeiten mit sich. Die Seife verklebte das Haar und bildete eine feste Kruste. Wer sich nun den Kopf kratzen wollte, weil es juckte, kam an die richtige Stelle nicht heran, denn die Kruste saß darüber. Andererseits hatte sie den Vorteil, daß die Frisur den ganzen Tag hielt und die Seife dem Haar einen besonderen Glanz verlieh.
Die Schkid erstrahlte in tadellosen Frisuren, alle Kümmernisse waren wieder vergessen, und unter dem Fenster, auf dem sonnenwarmen vollgespuckten Bürgersteig, schnäbelten die Pärchen zärtlich wie Turteltauben.
Aber Dses Erfindung setzte sich nicht durch. Vikniksor erfuhr davon und fragte vorsichtshalber den Arzt um Rat. Der Arzt fällte ein vernichtendes Urteil.
„Solche Frisuren sind schädlich. Davon bekommt man Läuse. Verbieten Sie das den Jungen, sonst verlaust die ganze Schule.“ Das genügte, um zu veranlassen, daß der Friseur schon am folgenden Tage den privilegierten Großen samt und sonders das Haar abschor. Mit den Haaren verschwand auch die Liebe. Niemand ging abends mehr zum Stelldichein, und die Mädchen gaben es auf, nachdem sie vergeblich gewartet hatten.
Die Republik Schkid hatte den Frühling hinter sich, die Sonne brannte schon sommerlich heiß, und die Jungen bekamen andere Interessen. Die Schule sollte diesmal während des Sommers in der Stadt bleiben, deshalb mußte ein Ausflugsziel gesucht werden. Man fand es schließlich im Park von Katherinenhof am Ufer eines kleinen Teiches vor dem alten Katherinenpalais. Dorthin sehnten sich jetzt die Schkider — nach dem Wasser, dem Grün, dem Fußball. Hier vergaßen sie beim Herumtoben die warmen, weißen Frühlingsnächte, die zärtlichen Worte und die ersten unschuldigen Küsse.
Das Fußballspiel ersetzte die Liebe, und nur Dse dachte noch manchmal traurig an das blauäugige blonde Mädchen aus dem benachbarten Kinderheim, allerdings wohl nicht so sehr an sie wie an den verlorenen Zirkelkasten, den neuen Kasten mit dem Samtfutter und den aufgereihten blitzenden Zirkeln. Nur Dse dachte noch traurig an den Frühling…