Drei Schatten * Der Totenschädel im Dunkeln * Illegale Sitzung Das Irrlicht Meßachudyn schlägt Alarm Razzia * „Junkom“ * Jungkommunarden als Detektive * Wir gegen sie * Der „Grüne Ring“.
„Pssst! Leise!“
„Keinen Ton.“
Lautlos glitten drei Schatten die Vordertreppe hinunter und blieben einen Augenblick lauschend stehen. In der Schkid war es still. Die Jungen schliefen, und nur manchmal raschelten Ratten unter den Dielen.
„Los! Wir werden schon erwartet“, flüsterte es.
Die drei geheimnisvollen Gestalten gingen weiter die Treppe hinab. Vorsichtig hielten sie sich am Geländer fest, um jedes Geräusch zu vermeiden.
Von der vorderen Ausgangstür, die zur Straße führte, aber immer fest verschlossen blieb, fiel ein blasser Lichtschein herein. Die geheimnisvollen Gestalten verhielten den Schritt, wohl um sich zu beraten, und schlichen dann ebenso lautlos wie zuvor zum Kellereingang unter der Treppe. Undurchdringliche stumme Finsternis verschlang sie. Die seltsamen Wanderer tasteten sich an den Treppenvorsprüngen immer weiter vom Licht fort. Hinter ihnen verblaßte der fahle Schein der Eingangstür, und die Spiegelscheiben verwandelten sich in kaum' erkennbare glanzlose Flecken. Plötzlich prallte der erste Schatten entsetzt zurück. „Seht!“
Von der Wand starrte ihnen ein fürchterliches, blaß phosphoreszierendes Plakat entgegen:
Die Unheimlichkeit der Inschrift wurde durch die nicht minder unheimliche Zeichnung eines Totenschädels mit zwei gekreuzten Knochen noch verstärkt.
Die Wanderer preßten sich an die gegenüberliegende Wand; doch da lachte der mutigste von ihnen auf. „Das ist ja die Hochspannungsleitung! Keine Bange!“ Fast gleichzeitig klang eine dumpfe Stimme aus der Finsternis: „Parole?“
„Vier abseits!“ antwortete der erste Schatten.
„Eure sind nicht dabei. Passieren!“ kam es aus der Dunkelheit zurück, und vor den geheimnisvollen Wanderern öffnete sich die Tür zu einem schwach erleuchteten Raum.
Es war Meftachudyns Holzschuppen, in dem er das Brennholz verwahrte, bevor es zu den Öfen gebracht wurde. Auch jetzt war noch etwas Holz an den Wänden aufgestapelt. Hinter einem kleineren Holzstapel kauerten drei dunkle Gestalten, von denen die Ankömmlinge mit lauten Rufen begrüßt wurden. „Hurra! Da seid ihr ja. Sascha! Falke!“
„Happen — du auch?“
„Natürlich, ich bin doch kein Strohkopf! Ich möchte auch in eurer Organisation arbeiten.“
Sechs Jungen setzten sich auf die Holzhaufen und erstarrten in schweigender Erwartung. Die Tür war geschlossen worden. Außer den Ankömmlingen waren es Jankel, Japs und Ljonka, der nach dem schmachvollen Hinauswurf wegen der zerschlagenen Fensterscheiben erst vor kurzem in die Schkid zurückgekehrt war. Japs stand auf und hob die Hand. „Achtung!“ begann er. „Heute eröffnen wir die zweite Sitzung unserer illegalen Komsomolorganisation. Da wir zwei neue Mitglieder unter uns haben, nämlich Happen und Falke, will ich ihnen in kurzen Worten unser Programm und die Gründe, die uns zur Geheimhaltung der Angelegenheit veranlassen, erläutern.“ Er räusperte sich. „Also, Genossen, ihr wißt, daß unsere Schkid ein Heim für Schwererziehbare, das heißt beinahe ein Gefängnis ist; deshalb dürfen wir keine Komsomolzelle gründen. Aber bei uns gibt es einige, die sich auf ihren Eintritt in den Komsomol nach dem Verlassen der Schkid vorbereiten wollen. Dazu, nämlich zum Studium der Gesellschaftswissenschaft und der Grundlagen des Marxismus, haben wir diesen illegalen Zirkel gegründet. Leider haben wir keinen so erfahrenen und aktiven Leiter, wie es Schaffner war, der uns, wie ihr wißt, vor drei Monaten verlassen hat, um auf dem Land zu arbeiten. Ihr wißt ebenfalls, daß wir Vikniksor häufig gebeten haben, uns einen anderen Lehrer für Gesellschaftswissenschaft zu besorgen, aber bisher hat er sich bekanntlich den Teufel drum gekümmert. Uns blieb nur übrig, allein zu lernen. Wir haben keine Ahnung, wie sich Vikniksor dazu stellt, und außerdem wollten wir die Sache nicht durch lange Redereien hinauszögern. Deshalb haben wir uns entschlossen, diesen illegalen Zirkel zu bilden. Vorläufig beschäftigen wir uns mit Spezialfragen. Augenblicklich nehmen wir die Geschichte der revolutionären Jugendbewegung durch. Das Weitere wird sich finden.“
Japs verstummte und sah die Umsitzenden an. Dann wischte er sich den Schweiß vom Gesicht und ging zu seiner Lektion über. Als Bestunterrichteter und — belesener hatte er das Amt des Lektors übernommen. Er bereitete sich sehr gewissenhaft und sorgfältig auf jede Lektion vor.
„Wir fahren also fort. Voriges Mal haben wir die Entstehung des Jugendverbandes behandelt und sind bis zu der bürgerlichen Vereinigung 'Arbeit und Licht' gekommen. Jetzt beschäftigen wir uns mit der Entstehung und allmählichen Entwicklung der Union der Arbeiterjugend…“
Das Auditorium lauschte. Fünf Jungen mit glattrasierten Köpfen starrten den Lektor in atemloser Aufmerksamkeit an und sogen jedes Wort in sich hinein. Die Glühbirne zwinkerte kurzsichtig hinter ihrer Spinnwebschicht hervor und warf einen schwachen Schein auf die „illegale Organisation“ und die zerschrammten Wände.
Die nächste Zusammenkunft war auf zwölf Uhr nachts festgesetzt worden — die Lieblingszeit aller Verschwörer.
Die Schkid hatte einen ermüdenden Sommertag hinter sich. Allzuviel Wirbel, allzuviel Unterricht und außerdem das Bedürfnis, baden zu gehen und Klötzchen oder Fußball zu spielen. Infolgedessen waren abends alle erschöpft. Die Jungen in den Schlafräumen schlummerten augenblicklich ein, aber kaum hatte der diensthabende Erzieher die Tür hinter sich geschlossen, da liefen wieder geheimnisvolle Schatten durch das alte Haus.
Jankel hatte Nachtdienst. Er ließ die „Verschwörer“ aus dem Haus und ging hinterher.
Diesmal fand die Zusammenkunft in der Ruine des Seitenflügels statt.
In der Kammer unter der Treppe, wo sich Ljonka und Sascha erst vor kurzem einmal versteckt hatten, flammten Kerzenstummel auf. Dorthin eilten die Schatten. „Parole?“ „Euer Geld!“ „Wird unser sein! Passieren“, erklang die Stimme der unsichtbaren Wache.
Heute war ein neues Mitglied zur Organisation gekommenSpatz. Nun bestand der Zirkel schon aus sieben Mann. „Hoffentlich gehn wir nicht verschütt! Zu viele Betten sind leer“, meinte Jankel. Aber seine Befürchtungen verstummten unter dem allgemeinen Widerspruch.
„Genossen, wir behandeln heute den dritten Kongreß, der eine neue Wende zum friedlichen Aufbau bedeutet.“
Die Jungen drängten sich um die flackernden Kerzen und lauschten aufmerksam.
Es war eine milde, etwas windige Nacht.
Meftachudyn saß in seiner Pförtnerwohnung und sagte das russische Alphabet auf. Zuweilen stockte er und sah in seiner Fibel nach. Schließlich stand er auf, reckte sich, gähnte und warf einen Blick auf Bett und Wände.
„Schlafenszeit“, sagte er laut vor sich hin und trat auf den Hof, um seinen letzten Rundgang zu machen. Leise pfiff ein warmer Wind durch den Torweg. Er schien Meftachudyns rauhe, borstige Wangen zu küssen und zu streicheln. Der Tatare lächelte beglückt. „So ein Wetterchen!“ brummte er zufrieden. „Fein, fein!“ In dieser behaglichen Stimmung ging er leise über den Hof, prüfte die Türen nach und summte ein heimatliches Liedchen vor sich hin:
Ai dshanai
Kalassai.
Sekta, sekta
Menela-a-ai.
Plötzlich verstummte er und starrte aus erschrockenen Augen auf die Ruine. Von dort klangen dumpfe Stimmen. Der Tatare ging zu der halbverfallenen Tür.
„He! Banditen!“ Er fuhr zurück.
Die Stimmen, die aus dem feuchten Raum kamen, schienen ihm fremd, grob, ja furchteinflößend zu sein. Außerdem drang ein flackernder Lichtschein aus den Ritzen in der Tür. Meftachudyn überlegte einen Augenblick, wich dann lautlos von der Tür zurück und hastete zur Schule. Eilig rannte er die Hintertreppe hinauf zu Vikniksor. Kurz darauf ging der Direktor mit Alnikpop, der Nachtdienst hatte, die Hintertreppe hinunter.
„Ich hinsehen“, erzählte Meftachudyn, der sie begleitete, aufgeregt, „da-Licht. Ich hören bal-bal-bal. He, ich denken, da Tiktive, Banditen. Meftachudyn sich nicht täuschen lassen. Ich zu Ihnen laufen ganz schnell.“
Vorsichtig schlichen die Lehrer und der Pförtner zu dem zerstörten Haus. Vikniksor trat als erster ein, ging mehrere Stufen hinauf, blickte in den feuchten Korridor und prallte verblüfft zurück. Zuerst sah er nur Japs' aufgeregtes Gesicht, von gelbem Kerzenlicht beschienen. Dann erblickte er auch die übrigen. Er horchte. „Eine Hauptaufgabe des vierten Kongresses des Jugendverbandes war die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der halbwüchsigen Arbeiter. In den Fabriken wurde die Jugend als minderqualifizierte Arbeitskraft massenweise entlassen. Die Jungarbeiter mußten deshalb qualifiziert werden. Darauf richtete der vierte Kongreß des Komsomol sein Hauptaugenmerk.“
Japs' monotone Stimme wurde plötzlich durch den groben Ruf aus der Finsternis unterbrochen: „Was macht ihr hier?“
Sieben Köpfe wandten sich um, sieben Paar Augen bohrten sich in die Dunkelheit, aus der Vikniksors ärgerliches Gesicht auftauchte. Blitzartig erfaßte einer die Situation. „Verschwindet!“ schrie er.
Ein Zirkelteilnehmer stürzte zum Loch in der Treppe, prallte aber zurück. Meftachudyns Tatarengesicht grinste ihm entgegen. „Reingefallen, Banditen!“
Verwirrt blieben die Jungen stehen. Sie wußten nicht, wie sie entwischen sollten.
„Was macht ihr hier?“ wiederholte Vikniksor ärgerlich. „Nichts… es ist so warm draußen… na, und da haben wir noch hier gesessen“, stammelte Japs verlegen und zupfte an seinem zerflederten Lehrbuch für Gesellschaftswissenschaft.
Vikniksor bemerkte das Buch, nahm es dem verwirrten Lektor aus der Hand und blätterte nachdenklich darin. „Geht schlafen!“ sagte er dann kurz.
Mit gesenktem Haupt schlichen die Illegalen hintereinander an Alnikpop vorbei, der vorwurfsvoll den Kopf schüttelte. „Ach, ihr Hühner! Ihr Gänse!“ brummte er.
Am nächsten Tage erfuhr Vikniksor alles, und zwar auf dem einfachsten Wege: Er ging in die Klasse und fragte freundlich. Eigentlich hatten die Jungen auch gar nichts zu verbergen. Nur der Schreck und die ungewöhnlichen Umstände hatten sie in der vergangenen Nacht kopfscheu gemacht. Jetzt erzählten sie alles ruhig und lachten sogar gemeinsam mit dem Direktor über ihre „illegale Arbeit“. Hinterher lief Vikniksor mit nachdenklichem Gesicht umher. Abends teilte er der Klasse überraschend mit:
„Ich denke gar nicht daran, gegen eure Arbeit zu protestieren. Im Gegenteil, ich will euch in jeder Weise entgegenkommen. Ihr habt nicht das Recht, eine Zelle des Komsomol zu bilden, aber ihr könnt einen eigenen Zirkel, eine Zelle von örtlichem Charakter, organisieren und dort, ohne Mitglied des Komsomol zu sein, aber gleichberechtigt mit dem ganzen Verband, euer Studium durchführen. Ja, noch mehr als das — euch, als den Fortgeschrittensten, kommt es zu, die ganze Schule auf den Weg einer kommunistischen Erziehung zu führen. Organisiert euch, denkt euch einen Namen für euren Zirkel aus und macht euch an die Arbeit. Einen Raum werdet ihr bekommen. Ich stelle euch das Museum zur Verfügung. Übrigens könntet ihr gleichzeitig die Verwaltung des Museums übernehmen — die Ausstellungsstücke sammeln, sie einordnen und so weiter…“ Das Schkider Museum war vor langer Zeit ziemlich unbemerkt entstanden — nach der Zeitungsepidemie, an der damals die ganze Schkid erkrankt war. Die Zeitungen hatten auch die ersten Ausstellungsstücke gebildet. Später waren besonders gute Schülerarbeiten hinzugekommen. Außerdem wurde dort Anschauungsmaterial für den Unterricht aufbewahrt. Allmählich hatte sich allerhand angesammelt. Nachdem Vikniksor fortgegangen war, beriefen die Jungen noch am gleichen Abend eine außerordentliche Versammlung ein. Japs trat vor.
„Leute“, rief er, „unser Kollektiv, unsere Zelle, hat dieselben Aufgaben wie in der Illegalität, aber jetzt sind neue hinzugekommen, nämlich die Werbung neuer Mitglieder und die Erweiterung der Arbeit gemäß den Schulverhältnissen. Außerdem müssen wir uns einen Namen für die Zelle ausdenken.“
„Roter Stern!“
„Kommunarde!“
„Junge Kommunarden!“
„Richtig! Jungkommunarden. Abgekürzt 'Junkom'.“
„Ja, Junkom.“
„Finde ich auch!“
Die Meinungen waren geteilt. Es wurde abgestimmt. Die Mehrzahl entschied sich für „Junkom“. Anschließend wurden Japs, Jankel und Ljonka in das Redaktionskollegium eines organisationseigenen Presseorgans gewählt.
Schon am nächsten Morgen erschien die erste Nummer der Wandzeitung „Junkom“ mit einem Leitartikel, der die Gründung der neuen Organisation deklarierte und sich weitschweifig über viele Fragen verbreitete. Er schloß mit dem in Druckbuchstaben geschriebenen Aufruf zum Eintritt in den „Junkom“. Aber den Jungkommunarden wurde der Anfang schwer. Noch bevor sie sich in der Schule Autorität verschafft hatten, mußten sie einen Punkt ihres Programms verwirklichen. Sie hatten darin unter anderem erklärt, sie würden den Diebstahl in der Schule bekämpfen.
Kleine Diebereien kamen in der Schkid ziemlich häufig vor — oft verschwanden Handtücher oder Kissenbezüge.
Doch nun fehlten Stiefel. Als die Schkider eines Morgens wie gewöhnlich nach dem Klingelzeichen aus dem Bett sprangen, machte Andronow, ein Junge aus der zweiten Klasse, eine betrübliche Entdeckung. „Jungen, jemand hat mir meine Stiefel geklaut“, jammerte er und zappelte mit den nackten Füßen. Der Schlafraum kam in Aufruhr. „Du lügst!“
„Hast sie selbst beiseite geschafft!“
Beim Frühstück redete Vikniksor den Jungen drohend ins Gewissen. Dann wandte er sich plötzlich an die Großen.
„Das ist die Feuertaufe des 'Junkom'. Jetzt müßt ihr beweisen, daß die Jungkommunarden klassenbewußte, fortschrittliche Schüler sind. Ich werde nicht nach dem Verbrecher fahnden. Ihr sollt ihn suchen und allein verurteilen. Ich will nur die gestohlenen Stiefel sehen zum Zeichen, daß ihr eure Pflicht getan habt.“
Die Jungkommunarden verloren anfangs die Fassung, beratschlagten dann aber und willigten in Vikniksors Vorschlag ein. Wohl oder übel müssen Diebstähle bekämpft werden.
Zuerst versuchten sie, mit aufklärenden Reden auf die Massen einzuwirken. Aber die Schkider leisteten Widerstand. Nicht etwa, weil sie die Diebe decken wollten. Sie mochten die Jungkommunarden bloß nicht — sie hielten sie für Karrieristen und Speichellecker, und das um so mehr, als sie in Zigeuner, den die Jungkommunarden bei der Gründung ihrer Organisation übergangen hatten, und in dem Raufbold Dolgoruki, einem neuen Zögling, Rädelsführer fanden. Zigeuner und Dolgoruki hatten sich angefreundet und wollten jetzt dem „Junkom“ gemeinsam ihre Macht zeigen. Höhnisch beobachtete Zigeuner die mühseligen Anstrengungen der Jungkommunarden, die Jungen zu überzeugen, daß der Dieb gefunden werden müsse. Er spottete nur über ihre vergeblichen Versuche, die anderen für ihre Organisation zu werben. Aber die Jungkommunarden beharrten auf ihrem Willen.
„Was nun?“ brummte Jankel niedergeschlagen.
„Was? Wir suchen eben selber!“ versetzte Dse hitzig. Er war kurz zuvor in den „Junkom“ eingetreten und wollte sich jetzt hervortun. Spatz unterstützte ihn. Er war begeistert von der Idee, Detektiv zu spielen.
„Tatsache, wir suchen selber. Wenn wir alle Öfen genau inspizieren, finden wir die Stiefel bestimmt.“
Es blieb den Jungen nichts anderes übrig. Sie begannen also mit ihrer Detektivarbeit.
Mit dem oberen Stockwerk fingen sie an. Das übereifrige Paar entwickelte eine besonders heftige Tätigkeit. „Guck ins Rauchloch“, befahl Spatz sachlich.
Dse steckte den Arm hinein, wühlte lange drin herum und förderte schließlich an Stelle der Stiefel einen Haufen Ruß zutage. Dabei wurden die Jungkommunarden von der Schule immer feindseliger behandelt. Irgend jemand taufte den „Junkom“ in „Jun-Schnüffler“ um, und die unglückseligen „Klassenbewußten“ wurden als „Schnüffelhunde“ beschimpf t, als sie in den Öfen herumfuhrwerkten. Trotzdem waren die Stiefel abends wieder da. Die Jungen hatten sie unten im Schornstein gefunden. Hinterher versammelte sich im Zimmer der „Junkom“ zur Beratung. „Schlecht sieht's aus.“
„Ja, die meisten sind gegen uns.“
„Man müßte ein Mittel finden, Leute, um die Massen zu erobern und sie auf unsere Seite zu ziehen.“
Plötzlich klopfte es. Japs, der die Tür vorsorglich verschlossen hatte, ging hin und griff nach der Klinke. „Wer ist da?“ fragte er. „Mach auf!“ Das war Zigeuners Stimme. Unentschlossen sah sich Japs nach den anderen um. „Mach nicht auf!“ knurrte Jankel wütend.
„Er hat uns heute madig gemacht, der Schuft. Sag ihm, wir wollen nichts mit ihm zu tun haben.“
„Richtig!“ pflichteten die übrigen bei. Zigeuner klopfte fluchend weiter. Dann ging er weg und kam kurz darauf mit Dolgoruki zurück. Beide versuchten, die Tür gewaltsam aufzubrechen.
„Aufmachen, ihr Halunken, sonst kriegt ihr samt und sonders Dresche!“ schrie Zigeuner, außer sich vor Wut, aber die Jungkommunarden waren fest entschlossen, den Angriff abzuschlagen. Die gesamte Zelle stemmte sich einträchtig gegen die Tür und hielt sie zu. Schließlich erkannte Zigeuner die Nutzlosigkeit seines Kampfes, ließ die Tür los und ging dann endgültig weg. Erleichtert atmete Dse auf.
„So was aber auch! Wir müssen unbedingt etwas unternehmen.“
„Ich weiß!“ rief Sascha eifrig.
„Was weißt du?“
„Ich hab' eine Idee!“
„Na und?“
„Wir gründen einen Lesesaal des 'Junkom' für alle Jungens.“ „Richtig!“
„Jeder kratzt ein paar Bücher zusammen.“
Aufmachen, ihr Halunken…
Die Zelle war begeistert, und alle Jungkommunarden machten sich mit Feuereifer an die Arbeit. Als Jankel eine Woche später aus dem Urlaub zurückkam, schleppte er eine Menge alte Zeitschriften an, die er noch vor seiner Einlieferung in die Schkid gesammelt hatte. Ljonka brachte einen fast genauso schweren Packen Bücher verschiedenartigen Charakters mit — beginnend mit Kindermärchen und endend bei Plutarch und anderen historischen Werken. All das wurde sorgfältig sortiert und mit einigen Büchern von Falke, Sascha und Japs auf einem großen Tisch ausgelegt. Beim Abendessen erhob sich Jankel und forderte die Anwesenden auf, die Zeit mit nützlicher Lektüre zu verbringen. Wie der Bauch eines Hungrigen verschluckte das Zimmer des „Junkom“ einen Zögling nach dem anderen. Bald waren alle Plätze besetzt. Der Lesesaal des „Junkom“ gefiel. Dort standen weiche Sessel, und alles sah so gemütlich und komfortabel aus, wie es die Gründer beabsichtigt hatten. Man konnte folgende Gespräche hören: „Nicht übel.“
„Was ist nicht übel?“
„Ich meine, die Jungkommunarden haben sich nett eingerichtet.“
„Ja, und was zu lesen gibt's auch.“
Bücher und Zeitschriften fanden reißenden Absatz. Bald war die Lesehalle allgemein beliebt. Die Leitung des „Junkom“, die sich „ZK“ nannte, dachte bereits an eine Vergrößerung der Lesehalle. Auch das Kollektiv der Zelle nahm zu. Die Aufnahmeanträge kamen nicht nur aus der dritten, sondern auch aus der zweiten, ja der ersten Abteilung. Es wurde Zeit, sich ernsthaft an die Arbeit zu machen. Deshalb berief das ZK eine öffentliche Zellenversammlung ein. An ihr nahmen siebzehn Mitglieder und Kandidaten des „Junkom“ teil. Das „Zentralkomitee“, genauer gesagt, das Präsidium, wurde auf der Versammlung endgültig bestätigt. Es bestand aus den Gründern und ältesten Mitgliedern — aus Japs, Ljonka, Sascha, Falke und Jankel. Zum Studium der Gesellschaftswissenschaft wurden die Mitglieder je nach ihrem Alter in zwei Gruppen eingeteilt. Leiter beider Gruppen blieb Japs. Dann schlug jemand vor, der „Junkom“ solle auch die Erziehung zur gesellschaftlichen Arbeit übernehmen. Es wurde beschlossen, Arbeitssamstage zu organisieren, an denen Holz geholt und zersägt, der Bürgersteig gefegt, der Müll fortgeschafft und andere Arbeiten verrichtet werden sollten. Die Jungkommunarden nahmen den Vorschlag einstimmig an und setzten ihn schon am nächsten Sonnabend in die Tat um. Dabei zogen sie auch die Parteilosen zur Mitarbeit heran. Die Jungen arbeiteten nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Verantwortungsgefühl. Trotzdem wurden sie von der Opposition verhöhnt. Angesichts der großen Popularität des „Junkom“ trat die Opposition zwar nicht offen auf, sie bemühte sich aber, den Jungkommunarden überall eins auszuwischen. Es gab drei unentwegte Oppositionelle: Zigeuner, Dolgoruki und Bessowestin, der bereits in „Gewissenloser“ umgetauft worden war.[7] Der „Junkom“ fürchtete sie nicht — er war inzwischen qualitativ und quantitativ erstarkt.
„Packt zu, Leute!“ rief Dse, der sich mit einem schweren Balken abmühte.
Die „Leute“ packten mit Feuereifer an, und der Balken verschwand im Schuppen. Der Arbeitssamstag wurde ein voller Erfolg. Das beflügelte die Arbeit noch melir.
Der sonnige Juli brachte leuchtende Tage, aber die Jungkommunarden hatten keine Zeit, die Sonne zu genießen. Die Arbeit hielt sie endgültig im Bann. Der „Junkom“ wuchs. Immer neue Zirkel entstanden — für Zeichnen, für Literatur, für Politik. Außerdem wurde wöchentlich ein Zeitungsbericht gegeben. Aber seine höchste Blüte erreichte der „Junkom“, als der neue Lehrer und Erzieher Dmitri Petrowitsch Tjulentschik in die Schkid kam. Zuerst konnten die Jungen nichts mit ihm anfangen, sie hielten ihn für streng und trocken. Zudem hinkte er — ein In der ersten Zeit bekam er wegen seines tänzelnden Ganges den Spitznamen „Ein Rubel zwanzig“. Doch als ihm die Jungen dann nähergekommen waren, und sie ihn liebten, nannten sie ihn nur noch Onkel Dima.
Tjulentschkik war ein stiller, etwas sentimentaler Ukrainer. Er liebte seine Heimat und sein Fach — die russische Sprache. An der Arbeit des „Junkom“ nahm er aktiven Anteil, und in kürzester Frist hatte der Literaturzirkel des „Junkom“ die meisten Mitglieder. Anfangs arbeiteten die Zirkelteilnehmer hinter verschlossenen Türen. Als sie sich aber zu einem leistungsfähigen Kollektiv zusammengefunden hatten, zeigten sie ihre Leistungen in der Schulöffentlichkeit. Der „Litzirkel“, wie sie ihn nannten, veranstaltete regelmäßig Versammlungen, auf denen die Zirkelteilnehmer aus ihren Werken vorlasen. Literarische Almanache erschienen. Ihnen folgten literarische Gerichtsverhandlungen über die Helden von klassischen Werken, und als Krönung des Ganzen gründete der Litzirkel des „Junkom“ einen eigenen Verlag und gab sich den Namen „Grüner Ring“. „Grüner Ring“ — das waren nicht bloß schöne Worte, sondern eine Allegorie für die Gemeinschaft — den Ring — der jungen, grünen Literaten. Und damit wurde Japs' alter Traum von einer guten Literaturzeitschrift endlich Wirklichkeit.
Der „Grüne Ring“ gab die umfangreiche literarischkünstlerische Monatszeitschrift „Die Argonauten“ heraus. Und wenig später erschien das erste Heft der Bibliothek „Grüner Ring“ mit einem Poem von Ljonka Pantelejew über die Blockade und den Hunger.
London-Chikago
ohne Zwischenstation!
Ein gellender Schrei,
sind die Reklamen…
So begann dieses Poem, das Ljonka „Wir gegen sie“ genannt hatte. Dem ersten Heft folgten noch andere.
Die Jungkommunarden standen jetzt fest auf ihren Beinen. Im Zimmer des „Junkom“ war dauernd Hochbetrieb. In jeder der vier Ecken arbeitete ein Zirkel, und in der Mitte saßen die Leseratten am Tisch, die Nase ins Buch gesteckt. Und genau wie in jener dunklen Nacht, als die illegale kommunistische Organisation geboren wurde, konnte man hier Redefetzen hören — aber nicht mehr leise und unterdrückt, sondern laut und frei.
„Der zweite Kongreß der Komintern… im Jahre 1920… siebenund-dreißig Länder…
Und mit angehaltenem Atem lauschten die Zuhörer dem Lektor. 'Fein', sagte Jankel in solchen Augenblicken gerührt zu Ljonka, mit dem er vor kurzem 'Blutsbruderschaft im Bruch' geschlossen hatte. 'Fein', bestätigte Ljonka und ließ den Blick durch das blitzsaubere lustige Zimmer schweifen. 'Die Komintern… die Bedingungen für den Parteieintritt… Es darf keine Spaltung geben… Propaganda…'“
Neue Worte klangen auf und prägten sich den Jungkommunarden fest ein. In der Ecke stand die rote Fahne der Schule, und fröhlich leuchtete die gelbe Sonnenblume mit den beiden Anfangsbuchstaben des Schulnamens — das Wappen der Republik Schkid.