Anarchie Ostindischer Kaffee * Siwer Dolgoruki * Der erste Raubzug * Die Zecherei Barfuß im Ford * Zwei Jungkommunarden * Sodom und Gomorrha.
Vikniksor fuhr zu einem mehrwöchigen Kongreß für Sozialerziehung nach Moskau. Elanljum übernahm inzwischen die Regierung der Republik. Sie war ein willensstarker Mensch, aber eben eine Frau. Die Schkider begriffen die Situation und zogen ihre Konsequenzen. Sie schlugen über die Stränge. Eine Frau, meinten sie, könnte niemals den gleichen Respekt beanspruchen wie ein Mann. Sie würde auch nicht so durchgreifen wie Vikniksor. Das genügte, um außer Rand und Band zu geraten.
Anfangs gab es noch keinen richtigen Skandal. Nur die Disziplin lokkerte sich. Die Jungen gingen später zu Bett, kamen nicht rechtzeitig zum Essen und zum Unterricht und warfen den Erziehern häufiger als sonst Grobheiten an den Kopf. Doch bald erkannten einige, daß man aus dieser Situation einen Vorteil schlagen könne. Ihr Anstifter war Siwer Dolgoruki, der erst seit kurzer Zeit in der Schkid lebte. Nach Schkider Begriffen war er vornehmer Abstammung, nämlich der Sohn eines Künstlers. Aber sein ungehobeltes Benehmen hatte ihm in der Schkid den Spitznamen „Kutscher“ eingetragen. Kutscher stammte aus einer Intellektuellenfamilie — Eltern und Schwester waren, wie gesagt, Künstler. Da sie an ein ungebundenes Boheme-Dasein gewöhnt waren, hatten sie ihn schon als kleines Kind in ein Heim für Künstlerkinder gegeben. Dort war er bis zum Alter von neun Jahren geblieben. Schon damals kam seine Veranlagung zum Vorschein — er benahm sich flegelhaft und stahl. Daraufhin wurde er nach Zarskoje Selo versetzt, in ein Heim, das schon ein wenig primitiver war. Hier bestahl er hemmungslos, wen er konnte — die Vorgesetzten, die Angestellten und sogar seine Kameraden. Er besuchte das Gymnasium von Zarskoje Selo, war aber zu faul zum Lernen, fiel nur durch seine diebischen Talente auf und wurde schon aus der ersten Klasse hinausgejagt. Bald mußte er auch das Heim verlassen und wurde in eine Anstalt für Schwererziehbare gesteckt.
Das geschah bereits nach der Revolution. Zu dieser Zeit hatte Siwer Dolgoruki schon Vater, Mutter und Schwester für immer verloren. Der Vater war gestorben, Mutter und Schwester waren mit unbekanntem Ziel verreist und hatten ihn dabei in der Aufregung oder vielleicht auch absichtlich vergessen. Er wanderte von einem Heim für Schwererziehbare ins andere, flog aus jedem wegen Diebstahls wieder hinaus, schien dabei manchmal zur Besinnung zu kommen, wurde jedoch bald wieder rückfällig und mußte die Anstalt verlassen. Nach einem Aufenthalt im „Kloster“ kam er schließlich in die Schkid. Er galt als „hoffnungsloser Fall“, aber Vikniksor nahm ihn dennoch auf, weil er der Meinung war, man könne einen fünfzehnjährigen Burschen nicht als hoffnungslos bezeichnen. Übrigens wurde die Sache mit Dolgorukis Alter nie ganz geklärt. Er sagte zwar, er sei erst fünfzehn, aber er sah wie ein Achtzehnjähriger aus, und da seine Geburtspapiere verlorengegangen waren, konnte man seine Angaben nicht nachprüfen. Wahrscheinlich log er ein paar Jahre ab, wohl um vor den Gerichten möglichst lange als Minderjähriger zu gelten. Auf jeden Fall hatte er einen miserablen Ruf und begann gleich nach seinem Eintreffen in der Schkid zu randalieren und zu stehlen. Und als nun die Zeit der „Anarchie“ anbrach, verlor er die letzten Hemmungen. - Kutscher hatte mit Zigeuner „Blutsbrüderschaft im Bruch“ geschlossen. Zigeuner war für sein Alter recht gut entwickelt. Er freundete sich gern mit Jüngeren — besonders mit verrufenen Radaubrüdern — an, wohl weil er glaubte, er könne sie dadurch vor dem endgültigen Abgleiten bewahren, obgleich er keine moralische Standfestigkeit besaß. Der Verschlagenheit und Körperkraft Kutschers war er erst recht nicht gewachsen. So geriet er unter Kutschers Einfluß.
Nach dem Unterricht kam Kutscher einmal in die vierte Abteilung. „Komm mit“, sagte er zu Zigeimer. „Ich muß mit dir reden.“ Zigeuner stand auf und ging mit seinem Blutsbruder in den oberen Saal. Dort setzten sie sich auf die Fensterbank. „Was ist?“ fragte Zigeuner.
Kutscher sah sich um, schnalzte mit der Zunge und tuschelte geheimnisvoll: „Ich hab' 'n Ding vor… Kann man was dran verdienen.“
„Was denn?“
Kutscher sah sich noch einmal vorsichtig um.
„Kaffee“, flüsterte er. „Der Nackte Herr hat's mir gesteckt. Auf dem Hof steht ein Sack Konsumkaffee. Der Nackte und Bock haben ein Loch reingebohrt, zwei Pfund mitgehen lassen und sie an die estnische Händlerin verscheuert. Für zwanzig 'Eier'. Weißt du davon?“
„Ja… na und?“ Kutscher beugte sich vor.
„Der Kaffee ist verdammt viel wert“, flüsterte er, dicht an Zigeuners Ohr. „Na und?“ wiederholte Zigeuner.
„Der Sack enthält Kaffee für mindestens 'ne Milliarde.“ Zigeuner fuhr erblassend zusammen.
„Kapiert“, stammelte er. „Aber das will ich nicht, Kutscher, Ehrenwort, das mach' ich nicht mehr mit.“
„Idiot. Hat das Glück direkt vor der Fresse und will nicht.“
„Wir gehn doch dabei hoch…“
„Den Deibel tun wir. Wir drehn das Ding so, daß kein Schwein dahinterkommt. Glaub' mir doch,“ Zigeuner lehnte an der Fensterbank, biß sich auf die Lippen und starrte zu Boden.
„Wann?“ fragte er endlich.
„In der Nacht. Wir müssen mit aller Vorsicht rangehn.“ Nun, da Zigeuner einmal eingewilligt hatte, mitzumachen, war er auch Feuer und Flamme.
„Wer macht noch mit?“ stieß er hervor. „Zu zweit ist es zu schwierig, wir brauchen 'ne richtige Bande. Der Nackte und Ochse wissen schon davon. Die sollte man mit reinnehmen.“ „Gut.“
Die Blutsbrüder gingen zum Nackten Herrn und zu Ochse, einem Jungen aus der dritten Klasse. Ohne Umschweife setzten sie ihnen ihren Plan auseinander. Die beiden waren bereit, wenn sich der Nackte Herr auch noch ein wenig sträubte, genau wie es Zigeuner vorher getan hatte, aber aus Willenlosigkeit gab er ebenso wie Zigeuner schon nach wenigen Augenblicken seine Zustimmung.
Sofort wurden die Rollen verteilt. Zigeuner und Kutscher „drehten das Ding“, die anderen beiden sollten Schmiere stehen. In einem halbzerstörten Schuppen im Hinterhof wurde der Plan gründlich und in allen Einzelheiten ausgearbeitet.
Still war es in dem großen Schlafraum der Schule. Manchmal knarrte die Lüftungsklappe. Die Zöglinge schnarchten, jeder auf seine Art — einer pfeifend, ein anderer heiser, ein dritter sanft und gleichmäßig. Die Ecklampe warf einen friedlichen, unbeweglichen Schein. Hinter der Wand, in Elanljums Wohnung, schlug die sächsische Tischuhr zwei. Gleichzeitig fuhren in verschiedenen Ecken des Schlafraums vier Köpfe lauschend von den Kissen hoch. Die anderen Jungen schnarchten ruhig weiter. Da sprangen die vier lautlos aus dem Bett und schlichen aus der Tür.
„Nach unten!“ flüsterte Kutscher auf dem Korridor. Sie gingen über die Vordertreppe zum Nebeneingang der Pförlner-wohnung. Diese Tür wurde gewöhnlich nur verriegelt. Heute war sie abgeschlossen.
„Verdammt!“ fluchte Zigeuner.
„Ist ja Wurscht“, antwortete Kutscher. „Wir gehen eben durch die Vordertür.“
„Und der Schlüssel?“ Kutscher überlegte nicht lange.
„Los, rauf! Wir bestechen ganz einfach den diensthabenden Schüler. Wenn uns jemand sieht, dann sagt ihr, daß ihr auf der Toilette wart, um zu rauchen.“
Doch sie brauchten diese Ausrede nicht. In der Küche brannte das Licht. Schaben liefen über die gekachelten Wände. Spatz, der Diensthabende, saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt. Kutscher trat allein in die Küche, ging auf Zehenspitzen zu Spatz hin und sah ihm ins Gesicht. Spatz schlief. Leise zog Kutscher den Tischkasten auf, nahm den Schlüsselring mit dem großen Schlüssel heraus, schob den Tischkasten ebenso vorsichtig wieder zu und machte sich aus dem Staube.
Jetzt brauchten sie nur noch die Ausgangstür zu öffnen. Das war nicht schwierig. Dann glitten die vier Jungen über die Treppe auf den Hof. Die Nacht war heiß. Es roch nach fauligem Holz und nach Erde. In den Fenstern der Schkid brannte kein Licht. Nur oben in der Mansarde, wo Alnikpop wohnte, flimmerte noch eine Petroleumlampe. Auf der Straße fuhr eine Droschke vorbei, dumpf klapperten die Pferdehufe über das Pflaster. Dann wurde es wieder still.
„Pssst!“ zischte Kutscher. Seine zusammengebissenen, weißen Zähne blitzten in der Dunkelheit auf.
Sie schlichen an der Mauer entlang bis zur Eisentür des Konsumladens. Daneben stand der Sack, als wäre er ein wertloses Ding. Zigeuner bückte sich und las beim Schein der Laterne: „Britisch-ostindischer Kaffee… Kaffee!“ Er schrie es beinahe. „Richtiger Kaffee, Donnerwetter!“
„Halt die Fresse, Zigeuner!“ zischte Kutscher. „Schnell! Nackter, Bock, los! Der Nackte auf den Zaun, Ochse zur Treppe!“ Er packte den Sack an einem Ende, Zigeuner umklammerte das andere. Mit der fünf Pud schweren Last rannten sie zum Zaun.
Dahinter lag eine Fabrik für Feuerlöscher. Sie war durch ein einstöckiges, halbzerstörtes Gebäude, das früher als Fabrikschuppen gedient hatte, von der Straße getrennt. „Steig auf den Zaun!“ befahl Kutscher seinem Blutsbruder. „Du auch, Nackter!“
Zigeuner und der Nackte kletterten auf den niedrigen Holzzaun, aus dem spitze Nägel ragten. Es war nicht einfach, sich auf den Nägeln zu halten. Kutscher hob den Sack unter Anspannung aller Kräfte zu den Kumpanen hoch.
„Nehmt ihn, aber leise!“ keuchte er. „Vorsicht!“
Dann kletterte er ebenfalls auf den Zaun, horchte und kommandierte:
„Runter damit!“
Der schwere Sack plumpste auf einen Kohlenhaufen. Die drei Strolche sprangen hinterher.
Einen Augenblick hockten sie schweigend da und betasteten ihre zerfetzten Hosen. Dann packten sie den Sack und schleppten ihn in den zerstörten Schuppen. Dort gruben sie ihn ein, schütteten Schutt darauf und machten sich unter den gleichen Vorsichtsmaßregeln auf den Rückweg.
Spatz schlief immer noch fest, deshalb war es das Werk eines Augenblicks, den Schlüssel in den Tischkasten zurückzulegen. Unbemerkt kamen sie in den Schlafraum, zogen sich aus und gingen zu Bett. Den Verkauf des Kaffees übernahm Kutscher, der Beziehungen zu Hehlern hatte.
„Trinkt, Genossen, trinkt, ihr Sündenlöcher!“
Sie tranken, tanzten und sangen…
Die Dielen krachten, die Köpfe brummten, in den Ohren dröhnte es, und vor den Augen drehte sich alles.
„Trinkt!“ schrie Kutscher. „Trinkt, Brüderchen!“
Er saß auf einem knorrigen Birkenklotz mit abgeschabter Rinde.
Zigeuner lag auf dem Fußboden wie Stenka Rasin, der am Ufer der breiten Wolga zecht. Ochse, Kaufmann, der Nackte, der Gewissenlose, Happen, Hühnchen waren dabei, und außerdem noch zwei Jungkommunarden, ja, zwei Jungkommunarden, die der Versuchung nicht hatten widerstehen können — Ljonka und Jankel. Sie feierten das „erfolgreich gedrehte Ding“.
Kutscher hatte den Kaffee für achthundert „Eier“ losgeschlagen. Achthundert Millionen Rubel![8] Das war damals eine erhebliche Summe, ganz besonders für dieSchkid mit ihren mageren Lebensmittelrationen, mit der Hirsegrütze und dem Seehundstran.
Das Geld war nicht gleichmäßig verteilt worden. Kutscher hatte dreihundert „Eier“ bekommen, Zigeuner zweihundert, der Nackte und Ochse je hundertfünfzig. Anläßlich ihres Erfolges veranstalteten sie jetzt ein nach Schkider Begriffen außergewöhnliches Gelage. Die Diebe waren nicht entdeckt worden. In der Schule erfuhr man überhaupt nichts von dem Diebstahl. Die Konsumangestellten vermuteten, Einbrecher von außerhalb hätten den Kaffee gestohlen. Sie kamen nicht auf den Gedanken, sich einmal bei ihren Nachbarn umzusehen. Und die Bande, die plötzlich soviel Geld besaß und nicht wußte, wohin damit, praßte… „Sauft!“
Bierflaschen auf dem Fußboden, eine Schnapspulle auf dem Brettertisch, daneben Wurst, Konfekt, Keks, Schokolade… „Sauft!“
Ein Gelage in dem halbzerstörten Seitenflügel, im Holzschuppen… Viele tranken zum erstenmal Alkohol.
Sie erbrachen sich auf die Diele, neben die Schokolade und die Kekse. „Sing, mein Liebling!“ Kutscher fiel dem Gewissenlosen um den Hals. „Sing, verdammt, ich bitte dichl Ich will ein Lied!“ Und der Gewissenlose sang mit seiner weichen, schönen Stimme:
Überwuchert sind die schmalen Wege,
über die mein Liebster einstmals zog.
Moos und Gras wächst jetzt auf jedem Stege,
wo wir gingen, bis das Glück uns trog…
Jankel und Ljonka hockten in der Ecke, still, ohne sich zu rühren. Der Rausch drang ihnen in jede Pore ihres Körpers und ließ ihr Herz schneller klopfen. Aber — hämmerte es nur vom Rausch? Nicht auch vor Scham und Beklommenheit? „Jungkommunarden sind wir… und haben uns verkauft… Ach, verdammt!“
Doch die Hemmungen fielen, als sie genug Branntwein im Leibe hatten. Die Scham verging, der Rausch blieb. Sie umschlangen sich und sangen — Ljonka in krampfigem Baß, Jankel mit seinem natürlichen Tenor:
Für fuffzehn „Eier“ mach ich Skandal!
He, Kutscher! Bier her, verflucht noch mal!
Kaufmann wälzte sich sternhagelvoll auf dem Fußboden, packte den Nackten Herrn und kitzelte ihn.
„Nackter, gib mir ein 'Eierchen'!“
Der Nackte drückte ihm einen Millionenschein in die Hand. Wenn man hundert Stück davon in der Tasche hat, ist man nicht geizig.
Die letzten Glasscherben in den Fensterrahmen klirrten beim Tanz; der Bier floß von dem Tisch aus Holzscheiten und vermischte sich mit dem Erbrochenen auf dem Fußboden.
Kam mein Liebster aus der Stadt,
wo er sich besoffen hat.
Der Gewissenlose sang, Kutscher, der Künstlersohn, fiel ihm um den Hals und lachte und weinte.
„Gewissenloser, sing! Sing, du Tranfunzel! Du platzt vor Talent… Hoho! Ha-a-a!“ Dann umarmte er Zigeuner, küßte ihn und stammelte: „Zigeunerfresse, Freundchen!.. Meine Mutter und mein Vater waren Halunken, du bist mein einziger Freund. Wenn ich noch tiefer sinke, bin ich in der Hölle…“ Sie tranken, sangen, tanzten.
Dann ging die ganze abgerissene, betrunkene Bande barfuß spazieren. Lachend, schreiend, fluchend taumelten sie die Straße hinunter. Der Gewissenlose trottete mit gesenktem Kopf dahin und sang auf Kutschers Bitte:
„Wenn du nicht das Saufen läßt,
nimmt dich jeder Bulle fest!“ —
„Kind, das ist mir einerlei,
denn ich kauf mich immer frei!“
An der Kalinkin-Brücke stand ein Auto, ein klappriger, hochbeiniger Ford, der aussah wie ein Bürgersöhnchen mit kurzen Hosen und nackten Knien.
„Ein Motor!“ grölte Kutscher. „Ein Motor! In meinem ganzen Leben bin ich noch nicht mit'm Motor gefahren!“ Er schwankte auf den Chauffeur zu. „Wieviel kostet es bis zum Newski?“ Der Chauffeur — er mochte Lette oder Deutscher sein — sah die barfüßigen, struppigen Jungen erstaunt und entsetzt an. „Verschwindet, ihr Tagediebe!“ schrie er zurück. „Wieviel?“ brüllte Kutscher wütend und riß einen Packen Geldscheine aus der Tasche.
Der Chauffeur sah sich hastig nach allen Seiten um. Dann machte er die Wagentür auf. „Steigt ein! Hundert 'Eier'.“
„Rein, Leute!“ grölte Kutscher unbedenklich.
Barfuß kletterten sie in den Wagen und ließen sich auf den Ledersitzen nieder. Die kurze Fahrt ging an der Fontanka entlang. Auf dem Newski-Prospekt machte der Chauffeur die Tür auf. „Raus!“
Die Jungen kletterten aus dem Auto und schlenderten über denNewski. Dort aßen sie Eis mit fade schmeckenden Waffeln und Äpfel, rauchten teure „Zephir“-Zigaretten und pöbelten die Passanten an. Anschließend ging die Horde ins Kino. Ein Gruselfilm wurde gespielt — „Die geheimnisvolle Hand“ oder „Der blutige Ring“. Die Strolche starrten auf die Leinwand, knackten Sonnenblumenkerne, lutschten Bonbons und rülpsten nach dem vielen Branntwein und Bier.
Erst nach Mitternacht kehrten sie in die Schule zurück. Der verschlafene Meftachudyn öffnete ihnen das Tor. „Banditen! Wir euch Kopf abreißen! Wartet, wenn Viktor Nikolajewitsch zurück sein!“ schimpfte er.
Und der Erzieher vom Nachtdienst schrieb in die „Chronik“: „Starolinski, Offenbach, Koslow, Bessowestin, Pantelejew, Tschornych und Ustinowitsch kamen spät in der Nacht zurück. Die Zöglinge Dolgoruki und Gromonoszew erschienen überhaupt nicht.“ Kutscher und Zigeuner übernachteten nämlich in einer verrufenen Straße…
Wieviel kostet es bis zum Newski?
Mit gesenktem Kopf standen Jankel und Ljonka da. Sie konnten den anderen nicht in die Augen sehen. Die Mitglieder des ZK saßen gelassen am Tisch und durchbohrten die Schuldigen mit ihren Blicken. Der Fall wurde diskutiert:
„Sie haben von allein gestanden. Man muß Gnade walten lassen.“
„Tatsache. Wir geben ihnen eine Rüge, aber nicht öffentlich.“ Dann wurden die beiden aufgefordert: „Seht uns in die Augen.“ Jankel und Ljonka blickten zu Japs auf.
„Japs, Ehrenwort… Wir waren Schweine!“
Kutscher zerrann das Geld zwischen den Fingern. Es war nur scheinbar schwierig, dreihundert Millionen durchzubringen — in Wirklichkeit hatte er an einem Tag schon die Hälfte verschleudert, und wenige Tage später saß er — Peng! — auf-dem trockenen. Und sich nach Schokolade, Kino, westfälischem Schinken und Autofahrten nun mit Machorka und einer Pfundration Brot zu begnügen, war nicht gerade einfach. Deshalb baldowerte Kutscher eine neue Sache aus — und setzte sie in die Tat um.
In einer dunklen Nacht machte dieselbe Bande einen Einbruch in das Konsumlager auf dem Hof. Die Strolche drückten die Türfüllung ein, kletterten hindurch, holten eine Kiste „Osman“-Zigaretten heraus und setzten die Türfüllung wieder ein. Die Prasserei begann von neuem.
Überall — in den Korridoren, den Klassen und Schlafräumen der Schule — lagen Zigarettenstummel mit Goldmundstück. Sämtliche Schkider rauchten „Osman“-Zigaretten, denn wenn Kutscher so viel Geld besaß, war er großzügig.
Kostalmed und Alnikpop, die besten Erzieher, befanden sich gerade in Urlaub. Elanljum verlor vollständig die Fassung, die Leitung glitt ihr aus den Händen. Sie brachte es nicht mehr fertig, in diesem Sodom und Gomorrha Disziplin zu halten… Die Diebstähle nahmen unaufhaltsam zu. Handtücher, Decken, Stiefel verschwanden.
Der „Junkom“ versuchte, sich zur Wehr zu setzen, doch schon beim ersten Versuch verprügelten Kutschers Kumpane den kleinen, schwarzen Kostja Finkelstein; Ljonka und Jankel bekamen ebenfalls eine Tracht Prügel. Sie sollten es nicht wagen, die Sache mit dem Kaffee und der „Geheimnisvollen Hand“ zu erzählen. Eines Tages kam der Nackte zu Ljonka. Die beiden Jungen hatten sich angefreundet; der Nackte liebte Ljonka und war aufrichtig zu ihm. „Ich hab' Angst, Ljonka“, sagte er. „Unsere Bande plant einen Einbruch in die Fabrik 'Skorochod'. Dabei muß der Wächter beseitigt werden. Und ich soll ihn umbringen, bei Gott!“ Der ehemalige Gymnasiast war blaß vor Erregung. „Ja, ich! Und eines Tages kommt dann Vikniksor in den Eßraum und fragt: 'Wer hat ihn ermordet?' Das würde ich nicht aushalten. Einen hysterischen Anfall würde ich kriegen und schreien.“ Der Nackte verzog das Gesicht wie ein Kätzchen und brach in bittere Tränen aus.
„Reg dich nicht auf“, tröstete Ljonka. „Du hast es ja noch nicht getan. Es bleibt dir bestimmt erspart.“
Und eines Tages sagte er: „Tritt doch in den 'Junkom' ein.“ Der Nackte traute seinen Ohren nicht. „Werden die mich denn aufnehmen?“
„Wir wollen es versuchen.“
Auf die nächste Versammlung des „Junkom“ nahm Ljonka den Nackten mit.
„Hier ist Starolinski“, sagte er. „Er will in den, Junkom' eintreten. Er hat zwar allerhand auf dem Kerbholz, aber er bereut es. Außerdem sind wir kein Komsomol, sondern eine Organisation für Schwererziehbare mit entsprechend geringeren Anforderungen.“ Der Nackte wurde als Kandidat aufgenommen. Er bekam eine entsprechend lange Probezeit und wurde verpflichtet, mit Kutscher zu brechen.
Kutscher focht das wenig an. Er „drehte“ ein „Ding“ nach dem anderen. Als aus dem Konsum nichts mehr zu holen war, stahl er die Glasscheiben aus einer Apotheke und brach die eingebauten Bleirohre aus den Toiletten der Schule. Eines Nachts verschwanden in der Schkid sämtliche Glühbirnen.
Die ganze Schkid wurde von der Seuche angesteckt. Der Pokrowsker Trödelmarkt und die Schwarzhändlerinnen zitterten vor den frechen Raubüberfällen der Strolche. In jener Zeit sang das Gesindel am Obwodny-Kanal folgendes Lied:
Von der Schkid, da kommt er her,
klaut uns alle Läden leer.
Jedes Marktweib flucht wie toll,
daß die Schkid der Teufel hol!
Nur Banditen gibt es da!
Lamza, driza a-za-za!
In diesen Tagen schien die Schule, die doch schon ein so gewaltiges Stück Weges hinter sich gebracht hatte, wieder in ihr Anfangsstadium zurückzufallen.