Der grusinische Fürst Georgl Dshaporldse * Michail Korolews Personalakte * Ein habgieriger Charakter * Der Spekulant der Kolonie * Das geheimnisvolle Bündel und die Balalaika * Frachtbrief Nr. 234 * Dse und Happen * Der wiederkäuende Admiral * Der nackte Herr Sparbüchse.
Ein vierblättriges Kleeblatt kam von der Sergijewka, einem Internat mit üblem Ruf. In der Sergijewka eingeliefert zu werden, galt als ausgesprochenes Unglück.
Dort herrschte eiserne Kasernendisziplin. Die Zöglinge mußten in stickigen Räumen hocken und durften selten — auch dann nur unter Aufsicht — Spazierengehen. Für ihre Verfehlungen hatte sich der Direktor unwahrscheinliche Strafen ausgedacht. Eine bestand in folgendem:
Der Zögling kam splitternackt in den unbeleuchteten Karzer, der auf Befehl des phantasievollen Sadisten in einen Abort verwandelt worden war. Dort saß der Missetäter drei bis vier Tage lang ohne Wasser und Brot im Dreck und rang in den ekelhaften Ausdünstungen nach Luft. Die Sergijewka wurde schließlich so berüchtigt, daß sich die Gerichtsbehörden mit ihr beschäftigen mußten.
Es kam zu einem aufsehenerregenden Skandalprozeß, nach dem das Internat aufgelöst wurde. Seine halbwüchsigen Insassen steckte man in andere Anstalten. So kamen die vier in die Schkid.
Dshaparidse, der älteste, war der Sohn eines grusinischen Fürsten, eines Marineoffiziers.
Er hatte ein typisch grusinisches Gesicht: große Adlernase, abstehende Ohren und schneeweiße, ungleichmäßige Zähne.
So kamen die vier in die Schkid.
Wie es in der Familie Tradition war, mußte Dshaparidse seine Kindheit in der Kadettenanstalt verbringen. Dort lernte er fast zwei Jahre die Kunst des Kommandierens und des guten Benehmens. Die Anstalt impfte ihm die Liebe zu militärischer Haltung ein, zur Sauberkeit in der Kleidung, zu spartanischem Lebenswandel. Aber sie verdarb seinen Charakter, sie zerbrach auch seine Moral, sie machte ihn verlogen und unaufrichtig. 1917 wurde die Anstalt geschlossen. Die Kadetten mußten sie verlassen. Dshaparidse lebte eine Zeitlang daheim, wurde bei mehreren Diebstählen ertappt und wanderte von nun an von einem Internat oder Kinderheim ins andere. Schmiß man ihn aus einem Heim hinaus, kam er ins nächste. So landete er schließlich in der Sergijewka. Dort verbrachte er zwei Jahre. Im Alter von fünfzehn Jahren war er bereits überreizt und erschöpft, als er in der Republik Schkid einen stillen Hafen fand.
Korolew hatte einen kugelrunden Kopf und dicke, rosige Wangen. Seine kräftige, hochgewachsene Gestalt, die römische Nase und das etwas gelockte Haar gaben ihm das Aussehen eines Patriziers aus der Zeit Julius Cäsars. Korolew war ein uneheliches Kind. Im Fragebogen der „Personalakte Michail Korolew“ stand in der Rubrik „Beruf der Eltern“: …„Außerehelich geboren.“ In der alten Zarenzeit gab es für die Außerehelichen nur einen Weg — das Erziehungsheim und die Gewerbeschule.
Auch Korolew mußte als Kind von einem Heim ins andere wandern. Seine Personalakte war dabei angeschwollen: Jedes Internat hatte ihm eine Charakteristik mitgegeben.
Eine war in der Bürosprache eines alten Erziehungsbeamten abgefaßt. Er charakterisierte Korolew als „einen Knaben mit ziemlich ausgeprägter Neigung zur Faulheit“. Auf sechs Blättern vergilbten Kanzleipapiers würden die Resultate dieser „Neigung“ beschrieben: „Infolgedessen erweisen sich die Kenntnisse des Knaben gegenwärtig als so schwach, daß er nicht in die Klasse 'D' versetzt werden kann und er im Alter von beinahe vierzehn Jahren zum zweiten Male den Elementarunterricht für Kinder durchmachen muß, das heißt in einer Zeit, wo in ihm bereits in erheblichem Maße die physischen Bedürfnisse eines Erwachsenen erwacht sind und sich die Gewohnheit herausbildete, die Zeit heiter und müßig zu verbringen. Auf die Befriedigung selbiger Bedürfnisse sind natürlicherweise alle Gedanken und Wünsche des Knaben schon jetzt gerichtet.“
Weiterhin wurden die Mittel „zur Befriedigung der Bedürfnisse eines Erwachsenen“ beschrieben:
„Stark entwickelt haben sich in ihm die Gewohnheiten, zu rauchen, Leckereien zu naschen usw.
Dieselben verleiteten ihn zur mühelosen Beschaffung von Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen zwecks Befriedigung solcher Bedürfnisse, wodurch er in seinen Handlungen natürlich ständig einen habgierigen Charakter offenbarte; so entfernte er Drähte und anderes Zubehör der elektrischen Beleuchtung, schraubte Türklinken ab, entwendete kleines Handwerkszeug aus der Schusterwerkstatt und anderes mehr. All diese Gegenstände wurden von ihm auf dem Markt gegen Zigaretten und Leckereien eingetauscht.“
Dann siedelte das Kinderheim in ein Erholungsheim, eine Kolonie, über, wo „die Beaufsichtigung und pädagogische Lenkung Korolews selbstverständlich durch die örtlichen Bedingungen erschwert und kompliziert wurden. Die tadelnswerte Veranlagung dieses Knaben trat schroff zutage: Die Nähe des Dorfes, der dort blühende Warenaustausch, die Erschwerung einer dauernden Anwesenheitskontrolle der Zöglinge schufen einen hierzu fruchtbaren Boden. Trotz des Verbotes, das ihm persönlich erteilt worden war, lief Korolew hier ständig ins Dorf und kehrte erst spätnachts in die Schule zurück; im Dorf tauschte er Gegenstände aus Staatseigentum, die sich in seinem Besitz befanden oder die er den Kameraden gestohlen hatte (meistens handelte es sich dabei um Handtücher), gegen Lebensmittel ein; Opfer seiner Spekulationen wurden sogar die Pflegerinnen, bei denen er sich unter dem Vorwand, ihnen einen Dienst erweisen zu wollen, einzuschmeicheln verstand. Von einer empfing er Geld für einen Hering und brachte ihr statt dessen ein Glas Milch mit der Beteuerung, der Hering sei verdorben gewesen; von einer anderen erhielt er Geld für Tabak und Zigaretten, brachte ihr gar nichts dafür und versprach ihr, sie in der Zukunft zu entschädigen. Wie sich herausstellte, hatte er die Zigaretten selbst geraucht…“
Um dieser Taten willen wurde Korolew aus der Kolonie zu seiner Mutter nach Petrograd geschickt.
„Aber er machte sich die Schwäche der Mutter zunutze, fälschte einen Urlaubsschein und kehrte mit einer irgendwo besorgten Balalaika und einem Bündel Lumpen an den Aufenthaltsort der Kolonie zurück. Er schlich am Internat vorbei ins Dorf, tauschte dort die mitgebrachten Gegenstände ein und kehrte anschließend nach Petrograd zurück…“ Der Verfasser der Charakteristik wußte nicht, wo sich der wegen Diebstahls hinausgeworfene Michail Korolew herumgetrieben, wo er die Balalaika und das „Bündel Lumpen“ besorgt hatte. Korolew war den ganzen Sommer über als blinder Passagier in Militärzügen mitgefahren. Dort hatte er auch die Balalaika stibitzt. Diese Charakteristik stammt nicht aus dem Sergijewker Internat, sondern aus einem Heim für normale Kinder. Sie schließt mit der Bitte, Korolew in eine „Schule für in pädagogischer Hinsicht schwierige Kinder im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren“ zu überführen. Dieser Bitte wurde entsprochen.
Man schickte Korolew wie einen toten Gegenstand mit dem „Frachtbrief“ Nr. 234 in die verrufene Sergijewka: „Anbei Michail Korolew, fünfzehn Jahre alt.“
Die Sergijewka gab ihm eine nicht weniger glänzende Charakteristik: „Ein zweifellos begabter Knabe, aber faul und zuweilen einfach verschlafen. Ist fähig, während des Unterrichts zu dösen. Fügt sich nicht immer der Disziplin, sehr verstockt, zeitweise herausfordernd frech und grob. In der Schule verbrachte er ein Jahr und wurde in dieser Zeit mehrfach bei großen und kleinen Diebstählen ertappt. Brach Schlösser auf und entfernte sich eigenmächtig aus der Schule. Unaufmerksam im Unterricht. Las in der Stunde Bücher, die nicht zum Lehrfach gehörten. Trieb häufig Unfug und störte dadurch die Mitschüler. Hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Kameraden und genoß bei ihnen Autorität. Verhielt sich zu den Älteren unbefangen aufmerksam oder mürrisch verschlossen. Hält sich für außerordentlich selbständig. Rauchte, wurde mehrfach beim Kartenspiel erwischt. Benimmt sich der Mutter gegenüber höflich.“
Das letzte Gutachten über Korolew stammte vom Psychoneurologischen Institut. Es war von Gribojedow, Professor der Psychiatrie, unterschrieben und lautete:
„Michail Korolew leidet an heftiger Neurasthenie, offenbar auf Grund von geistiger Überanstrengung. Im Sommer leidet er an Schlaflosigkeit, schläft zwei Nächte hintereinander fast gar nicht. Korolew braucht zur Erholung eine Wasser-, Licht- und Luftkur, die vielleicht im pädagogisch-klinischen Institut für Nervenkranke durchgeführt werden kann.“
Indessen erhielt Korolew keine „Wasser-, Licht- und Luftkur“. Die Sergijewka wurde aufgelöst, und er kam in die Schkid.
Hier bestätigten sich die ersten beiden Charakteristiken nicht. Korolew stahl nicht, er benahm sich ordentlich und randalierte mit Maßen. Auch Spuren von „geistiger Überanstrengung“ waren nicht festzustellen. Nur in einem Punkt erwies sich das Gutachten Professor Gribojedows als richtig. Korolew litt an Neurasthenie und Schlaflosigkeit. In seinen schlaflosen Nächten tobte er besinnungslos, beschimpfte die Erzieher mit den übelsten Worten, johlte und weinte. War er dann erwacht, wieder zur Besinnung gekommen, bereute er alles und wurde wieder zu einem „normalen Schwererziehbaren“. Soweit Michail Korolew. Der dritte im Bunde war Wolodja Starolinski.
Er war klein, hatte ein durchaus kindliches Gesicht und sah, was Kleidung und Figur betraf, wie ein Gymnasiast des alten Regimes aus. Er hatte keinen Vater mehr, nur eine Mutter und einen Stiefvater, von Beruf Lastfahrer. Auch Starolinski war Neurastheniker. Er litt an Kleptomanie. Wenn er seine Anfälle bekam, stahl er alles, was ihm in die Finger geriet. Außerdem war er ein besessener Kartenspieler. Diebstähle hatten ihn in die Sergijewka gebracht, genau wie seine Kameraden. In die Schkid kam er mit schlechtem Ruf.
Der vierte hieß Tichikow.
Die Sergijewka charakterisierte ihn folgendermaßen: „Jewgeni Tichikow stammt aus einer intellektuellen Familie, ist Vollwaise, hat einen Onkel. Er ist sehr begabt, eignet sich alles Wissen leicht an, lernt gut, ist aber zuweilen faul. Hat ein gutes Verhältnis zu seinen Kameraden, sondert sich aber ziemlich ab. Mag gemeinsame Spaziergänge nicht und versucht immer, unter einem Vorwand zu Hause zu bleiben. Zu den Älteren benimmt er sich zurückhaltend, widerspricht immer logisch und flucht fast nie. Verhält sich im Unterricht ordentlich. Raucht, spielt manchmal Karten, ist Schiebergeschäften nicht abgeneigt, im allgemeinen aber ein wißbegieriger, freundlicher, ernsthafter und etwas verschlossener Knabe.“
Tichikow hatte einen dreieckigen Kopf, eine hohe Stirn, einen winzigen, ungefügen Körper. Bis zum Ende seines Aufenthaltes in der Schkid blieb er verschlossen und randalierte nur selten. Als fest verschworene, untrennbare Einheit kam das Kleeblatt in die Schkid. Die Jungen glaubten, ihre Interessen gemeinsam verteidigen zu müssen. Durch die Erfahrungen in der Sergijewka belehrt, erwarteten sie keinen guten Empfang.
Doch sie irrten sich. Sie wurden sehr freundlich aufgenommen, wie übrigens auch alle anderen.
Schon am ersten Tage schloß sich Dshaparidse als der reifste an die Großen an. Als er erfuhr, daß in der Schkid Zeitungen herausgegeben wurden, äußerte er den Wunsch, eine Zeitschrift „Der Schachspieler“ zu veröffentlichen. Jankel, der wahrscheinlich darin einen Vorteil für sich sah, schloß mit ihm „Blutsbruderschaft im Bruch“. Kaufmann schloß mit Korolew Blutsbrüderschaft, und Pantelejew nahm Starolinski unter seinen Schutz.
Nur Tichikow blieb allein. Er saß dauernd auf seiner Bank, las Jules Verne oder ein anderes Buch und kaute. Er kaute unablässig, rülpste und kaute weiter. Deshalb bekam er späterhin den Spitznamen „Wiederkäuer“.
Das Kleeblatt hatte seine alten Spitznamen mitgebracht: Korolew hieß „Fläschchen“, Starolinski „Knabe“, Tichikow „Admiral“, und Dshaparidses Name war nicht druckfähig.
In der Schkid gelang es nur Tichikow, seinen Spitznamen „Admiral“ zu bewahren. Die übrigen wurden gleich am Ankunftstage umgetauft. „Dshaparidse ist zu lang“, erklärte Japs. „Und Schweinereien nehmen wir bei uns nicht als Spitznamen. Deshalb nennen wir dich einfach 'Dse'.“
„Das ist eure Sache“, stimmte der Grusinier zu. „Meinetwegen 'Dse'.“ Japs hatte Starolinski gleich als „Nackten Herrn“ bezeichnet. Er wurde also „Nackter Herr“ getauft, und später nannte man ihn den „Herrn“ oder den „Nackten“.
Korolew wurde „Happen“ getauft, weil er statt „Stück“ immer „Happen“ sagte: „Gib mir einen Happen Brot“ oder: „Leih mir ein Häppchen Sacharin.“
Gleichzeitig mit dem Sergijewker Kleeblatt traf „Sparbüchse“ in der Schkid ein, ein lautloses Männlein mit nebelhafter Vergangenheit.