Frühling auf dem Dach * Die Vandalen * Heinrich Heine * Reingefallen * Ohne Bleibe Mettachudyn als Detektiv * Der Goldzahn * Marx oder die Stiefel.
Sonnenstrahlen tanzten über die Wände. Die Geräusche der Straße drangen durch das offene Fenster herein und erregten die jungen Gemüter. Es war einfach unmöglich, in den vier Wänden zu sitzen. Sascha Pylnikow und Ljonka gingen auf den Hof. Dort spielten die Schlammanier Ball. Die rotblonde Elanljum saß auf einem Balken und las einen deutschen Roman.
Auf dem Hof war es schön, aber die Blutsbrüder wollten dem Lärm entfliehen, irgendwo in der Sonne liegen und sich ein bißchen unterhalten.
„Komm, wir klettern aufs Dach“, schlug Sascha vor. Sie stiegen über die dunkle, brüchige Treppe auf das Dach des halbzerstörten Seitenflügels. Als sie aus dem finsteren Dachboden auftauchten, mußten sie unter dem grellen Licht die Augen zusammenkneifen.
„Das ist prima“, flüsterte Sascha.
Auf dem Dach war der Schnee eben erst geschmolzen. Nur auf den überdachten Stellen, wo die Sonne nicht hinreichte, lagen noch kleine graue Fladen. Das rostige Dachblech glühte noch nicht. Es war angenehm warm — wie Samt.
Die Freunde legten sich auf die schräge Fläche, stützten die Füße gegen die Dachrinne und schoben die Hände unter den Kopf. Ljonka steckte sich eine Zigarette an. Ein Weilchen lagen sie unbeweglich und schweigend da. Sie lächelten behaglich und blinzelten wie junge Katzen in die Sonne.
„Fein“, murmelte Sascha verträumt. „Wunderbar. So könnte ich immer liegen.“ „Nee“, widersprach Ljonka. „Immer nicht. An so einem Tag möchte man was anstellen, sich austoben…“
Er richtete sich plötzlich auf, beugte sich über Sascha und klatschte ihm mit der flachen Hand auf den Bauch. Sascha kreischte, bog sich wie eine Weidengerte, packte Ljonkas Hals und zog ihn zu sich herunter.
Sie waren gleichaltrig und auch gleich stark, so daß der Kampf zehn Minuten lang unentschieden blieb. Endlich siegte Sascha. Er tanzte um Ljonka herum, der auf den Schultern lag.
„Sieg!“ schrie er. „In der ersten Halbzeit ist der Weltmeister geschlagen!“
Ljonka grinste über sein ganzes breites Gesicht und keuchte: „Das war unfair. Du hast mir die Gurgel zugedrückt, sonst…“ Sie hatten keine Lust mehr zum Stilliegen. Saschas Melancholie war wie fortgeblasen, und er tanzte auf dem baufälligen Dach einen Hopak.
Dabei stieß er an einen Stein. Er hob ihn auf, holte aus und warf ihn gen Himmel. Pfeifend beschrieb der spitze Stein einen Halbkreis, verschwand und fiel irgendwo auf einem fernen Hof zu Boden. „Ein sauberer Wurf!“ rief Ljonka und suchte auch nach einem Stein, um damit Ehre einzulegen. Aber auf dem Dache waren keine Steine mehr zu finden. Deshalb kletterte er durch das Dachfenster auf den Boden. Kurz darauf kam er zurück, die Hosentasche voll Ziegelbruch.
„Los!“ Ein dunkler Punkt sauste in den Himmel. Dann ein zweiter… „So macht es keinen Spaß“, meinte Sascha. „Wir müßten ein Ziel haben.“
Er hockte sich an den Dachrand und spähte in die Tiefe. Unten, in dem schmalen Durchgang zwischen zwei Mauern, sah er einen Müllhaufen. Parallel zum Seitenflügel lag das einstöckige Gebäude einer Wäscherei.
Die Sonnenstrahlen brachen sich an dem hohen First des Seitenflügels und vergoldeten die oberen Fensterrahmen.
Sascha hockte einen Augenblick wie verzaubert da, in den Anblick der funkelnden Fenster versunken. Dann streckte er die Hand aus, griff nach einem Stein und warf ihn, ohne sich von der Stelle zu rühren, in eine Fensterscheibe.
Klirrend zersplitterte das Glas und zerstiebte in tausend kleine Diamantenfunken.
Sascha hob den Kopf. Ljonka stand neben ihm und starrte unverwandt, wortlos, auf das klaffende Loch. Dann nahm er einen Stein, zielte und warf die restliche Scheibe im oberen Fensterrahmen ein. Damit amüsierten sie sich lange, sie rannten auf den Boden, um sich neue Steine zu holen, sie schmissen mit ganzen Ziegeln. Als sämtliche Scheiben der Wäscherei zertrümmert waren, sahen sich die Freunde an.
„Na?“ fragte Ljonka gelassen.
„Dussel!“ brummte Sascha und schaute nach unten. Die Sonne strahlte so fröhlich wie zuvor, immer noch duftete es nach Frühling, aber es war auf dem Dach irgendwie ungemütlich geworden. Beide hatten die Lust verloren, weiter auf dem warmen Blech zu liegen.
„Wir wollen abhauen“, meinte Sascha.
„Ich spuck drauf!“ brummte er. „Sie werden nicht erfahren, wer's war. Niemand hat uns gesehen.“
Sascha seufzte nur. Unbemerkt kamen sie auf den Hof. Die Jungen spielten immer noch. Der graue Ball prallte auf dem flachen Brett ab und sprang in die Luft. Elanljum saß auf ihrem Balken, hatte das Buch weggelegt und blickte verträumt zu einer Schäfchenwolke am blauen Himmel empor. Ljonka und Sascha gingen zu ihr hin und fragten, ob sie sich neben sie auf den nach Fichtenharz duftenden Holzhaufen setzen dürften. „Wo wart ihr?“ fragte sie mit durchbohrendem Blick. Ljonka sah Sascha an.
„In der Klasse, Ella Andrejewna“, antwortete er. „So? Und was habt ihr da gemacht?“
Damit amüsierten sie sich lange.
„Jelchowski mußte Staub wischen, weil er Dienst hat, und ich…“ Ljonka heuchelte Verlegenheit. „Und du?“
„Ich… Ella Andrejewna, ich arbeite gerade an einer Übersetzung von Heine.“
Elanljum sah ihn erstaunt an, dann lächelte sie.
„Wirklich? Du übersetzt Heine? Bravo! Kommst du denn damit zurecht?“
„Sehr gut sogar!“ schwindelte Ljonka weiter. „Ich hab' schon hundert-zwanzig Zeilen übersetzt.“
Er merkte, daß Sascha ihn ansah und ihm ein Zeichen mit den Augen machte, aber nun konnte er nicht mehr zurück.
„Ich interessiere mich überhaupt sehr für die deutsche Sprache“, fuhr er fort. „Wissen Sie, das ist 'ne richtige Manie — ich bin ein Germanophile.“
Elanljum strahlte über das ganze Westfalengesicht. „Ich übersetze auch Goethe, Ella Andrejewna.“ Das genügte Elanljum.
„Du solltest mir die Übersetzungen zeigen. Warum hast du das nicht schon längst getan?“
Das Feuer der Beredsamkeit verließ Ljonka urplötzlich. Er hob horchend den Kopf, stotterte: „Ich glaube, Japs ruft!“ und rannte vom Hof.
Sascha stürzte hinter ihm her.
„Weshalb hast du das über Heine und Goethe zusammengelogen?“ fragte er, als sie in der Schkid die Treppe hinaufgingen. „Wo willst du die Übersetzungen jetzt hernehmen?“
Ljonka wußte weder, warum er gelogen hatte, noch wo er die Übersetzungen herbekommen sollte.
„Ich sag' einfach, ich hätte sie verbrannt“, beruhigte er den Blutsbruder.
In der Klasse war niemand außer Japs und Falke. Sie waren gerade — naß und vergnügt — vom Baden in Katharinenhof zurückgekommen, saßen jetzt auf der Bank und plauderten.
Japs schnupfte nach seiner Gewohnheit auf und schwenkte die Arme.
„Du kennst die deutsche Sprache zuwenig, deshalb kannst du dir kein Urteil bilden!“ rief Japs.
„Ich wiederhole trotzdem: Heine ist unübersetzbar“, kreischte Kostja-Falke.
Sascha und Ljonka horchten auf. Hier sprach man also über Heine. „Soll ich dir beweisen wie man Heine so übersetzen kann, daß die Übersetzung nicht schlechter ist als das Original?“ beharrte Japs. Ljonka machte einen Satz auf ihn zu. „Ich nehm' dich beim Wort!“ schrie er. „Übersetz mal hundert Zeilen von Heine und ein paar Sachen von Goethe!“
Japs sah ihn erstaunt an und antwortete auf schnupfend: „Ich laß mich nicht provozieren.“
„Ach, bitte, lieber Japs!“ flehte der Fensterscheibenzertrümmerer. Dann erzählte er ihm, wie er Elanljum die Hucke vollgelogen hatte und wie wichtig es für ihn war, aus dieser unangenehmen Situation herauszukommen. Japs stieg das Blut ins Gesicht.
„Na schön“, meinte er, „das schaffen wir schon. Ich übersetze es dir. Das ist für mich 'ne Kleinigkeit.“
Wieder schien für Ljonka die Sonne, wieder hörte er den lustigen Straßenlärm und spürte den Frühling. Sascha blühte mit ihm auf. Später gingen sie mit Spatz und dem Nackten Herrn nach Katherinenhof, badeten, sahen beim Karussellfahren zu, drängten sich durch die fröhlich lärmenden Spaziergänger und kamen erst zum Abendessen in die Schule zurück.
Das Erlebnis auf dem Dach fiel ihnen erst beim Schlafengehen wieder ein. Während Ljonka die Stiefel aufschnürte, beugte er sich zu Sascha hinüber und flüsterte: „Und die Fensterscheiben?“
Sascha konnte nicht gleich antworten. Kostalmed, der diensthabende Prophet, donnerte mit seiner Löwenstimme durch den Schlafraum, daß alle hochschreckten: „Pantelejew, störe die Kameraden nicht beim Schlafen!“
Nachdem Kostalmed mit klapperndem Stöckchen in den anderen Schlafraum gegangen war, steckte Sascha den Kopf unter der Decke hervor und flüsterte: „Quatsch!“
Am nächsten Tage war anderes Wetter. Nachts hatte es ein Gewitter gegeben, der Morgen flimmerte in allen Regenbogenfarben, und blaß-graue Wolken verhüllten die Sonne. Dennoch spürte man, daß es Frühling war.
Sascha und Ljonka standen in glänzender Stimmung auf. Beim Frühstück setzte Japs den neben ihm sitzenden Ljonka in maßloses Erstaunen.
„Ich hab' hundertzwanzig Zeilen übersetzt!“ tuschelte er. „Wann?“ stieß Ljonka hervor. Er vergaß beinahe die nötige Vorsicht.
„Heute morgen“, antwortete Japs. „Ich bin um sieben aufgestanden und hab' mich gleich dran gemacht. Und zwei Gedichte von Goethe hab' ich ebenfalls übersetzt.“
Nach dem Frühstück übergab Japs tatsächlich Ljonka drei Bogen beschriebenes Papier, und Ljonka setzte sich auf der Stelle hin und schrieb die Übersetzung ab, damit die Handschrift nicht etwa Zweifel an der Identität seiner Arbeit aufkommen ließ. Er saß dabei am Fenster. Heine entzückte ihn und regte seine schöpferische Ader an. Er bekam Lust, selbst etwas zu verfassen. Nachdem er mit dem Abschreiben fertig war, blickte er auf die Straße hinunter. An der Ecke stand ein Milizionär mit einem Khakihelm und einem rotblonden Schnurrbart, lächelte in die Sonne und wischte sich die Regentropfen von seinem Gummicape. Die Spatzen tschilpten, und von den nassen Bürgersteigen stiegen dünne Nebelschwaden auf. Ljonka wollte dieses Bild so schön und lebenswahr wie nur möglich beschreiben. Und er tat es, so gut er konnte:
Die Spatzen tschilpen auf dem Pflaster,
die Straße lacht trotz allem Dreck,
und an der Ecke steht ein Posten,
wischt sich die Regentropfen weg.
Der Himmel dampft wie Tabakschwaden,
und aus dem Tor stinkt es nach Müll.
Der Posten nimmt den Helm vom Kopfe,
weil er sein Haar glattstreichen will.
Vor dem Cafe stehn ein paar Schieber
und bieten Zigaretten an. Vom Eingang
kommen Wodkadüfte, davor hält eine Droschke an.
Doch tschilpen Spatzen auf dem Pflaster,
verkünden, daß es Frühling wird;
die schmutziggrauen Straßen schlafen,
sie stinken weiter unbeirrt.
Das Gedicht zeigte er den Kameraden und Alnikpop. Es gefiel allen, und Jankel nahm es zur Veröffentlichung in einer seiner Zeitschriften an.
Sascha verbrachte den Morgen im Museum und stellte dort eine Tabelle der einzelnen Baustile zusammen. Die ionischen und korinthischen Säulen, die Pilaster und Apsiden versetzten ihn in Entzücken. Er und Ljonka hatten an diesem Morgen die Wäscherei und die eingeschlagenen Fensterscheiben vollständig vergessen. Aber beim Mittagessen entlud sich das Gewitter. Genauer gesagt, grollte der erste Donner schon eine halbe Stunde vor dem Essen. In der Schkid verbreitete sich nämlich das Gerücht, unbekannte Täter hätten in der Wäscherei sämtliche Scheiben zertrümmert. In diesem Augenblick begannen zwei Herzen heftig zu klopfen, zwei Paar Augen sahen sich an und blickten wieder fort. Beim Mittagessen, nach dem Namensaufruf — die Diensthabenden stellten gerade die dampfenden Schüsseln mit Hirsebrei auf die Tische —, kam Vikniksor in den Eßraum.
Er trat hastig ein, warf einen flüchtigen Blick auf die Reihen der Schüler, die sich bei seinem Erscheinen erhoben hatten, und sagte: „Setzt euch!“ Dann tippte er sich nervös mit dem Finger an die Schläfe, ging durch den Raum und blieb an einem Tisch stehen.
„Irgendwelche Strolche haben sämtliche Scheiben in der Wäscherei eingeschlagen“, sagte er, nach seiner Gewohnheit die einzelnen Worte dehnend.
Fragend blickten die Augen der Esser von der erkaltenden Hirsegrütze auf.
„Sämtliche Scheiben in den fünf Fenstern“, wiederholte Vikniksor. „Das ist Vandalismus, Jungen, das ist eine Degenerationserscheinung. Ich muß die Namen der Schurken, die das gemacht haben, herausfinden.“
Ljonka sah zu Sascha hinüber. Der Blutsbruder war rot geworden und hatte die Augen niedergeschlagen.
„Es ist Vandalismus“, fuhr Vikniksor fort, „Fensterscheiben einzuschlagen, wenn wir nicht einmal die Mittel besitzen, um die Scheiben, die von selbst entzweigingen, wiedereinzusetzen.“ In fiebernder Ungeduld wartete Sascha auf die Beendigung des Mittagessens. Dann rief er Ljonka beiseite: „Komm, ich muß mit dir reden.“
Sie gingen in die obere Toilette. Dort war niemand. Sascha lehnte sich an die Wand.
„Das kann ich nicht aushallen“, stieß er hervor. „Wir waren wirklich Viecher.“
Ljonka biß sich auf die Lippen.
„Wir gehen jetzt hin und gestehen es ein“, schlug er vor. Sascha kämpfte einen Augenblick mit sich. Dann pustete er, rieb sich die Wange, nahm Ljonka an der Hand und sagte: „Los!“ Vikniksor ging gerade die Treppen hinauf. Als er bei ihnen vorbeikam, wandte sich Ljonka um. „Viktor Nikolajewitsch.“ Vikniksor sah den Jungen an. „Ja?“
Ljonka blickte weg.
„Ich und Jelchowski haben die Fensterscheiben in der Wäscherei eingeschlagen.“
Schweigen. Vikniksor war über die Schnelligkeit des Geständnisses verdutzt.
„Ausgezeichnet“, sagte er nach kurzer Überlegung. „Ihr könnt beide nach Hause gehen.“ Der Blitz schlug ein.
Sascha taumelte ans Fenster, schlug die Hände vors Gesicht und duckte sich.
„Viktor Nikolajewitsch!“ jammerte er. „Das kann ich nicht. Meine Mutter ist krank… ich kann nicht hingehen.“
Mit zusammengebissenen Zähnen und verkrampften Fäusten stand Ljonka neben Sascha.
„Verzeihen Sie, Viktor Nikolajewitsch“, setzte er an. „Nein, da gibt es keine Entschuldigung. Schert euch aus der Schule. In einem Monat können eure Mütter herkommen. Bedankt euch bei mir, daß ich euch nicht in die Besserungsanstalt schicke.“
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging in seine Wohnung. Ljonka sah ihm nach. Dann klopfte er Sascha auf die Schulter. „Komm, Rührmichnichtan.“
„Ich kann nicht nach Hause“, sagte Sascha.
„Für mich ist es auch nicht gerade ein Genuß“, brummte Ljonka finster.
Sie saßen im Hof, auf demselben Holzhaufen, wo sie sich gestern mit Elanljum unterhalten hatten.
Es wurde Abend. Graue Wolken zogen um die Wette über den Himmel und zerstäubten in kleine Regentropfen.
Sascha hockte wie eine Frau da — die Knie zusammengepreßt und die Wange in die Hand gestützt. Er hatte ein kleines, graues Bündel auf den Knien.
Es enthielt zwei Taschentücher, ein Aphorismenbuch und den ersten Band des „Kapitals“ von Karl Marx.
Sascha preßte das Bündel an sich, hob den Kopf und seufzte. „Was stöhnst du?“ brummte Ljonka. „Damit änderst du nichts. Wir wollen uns lieber überlegen, was wir jetzt machen. Nach Hause gehen wir doch nicht?“
„Nein“, seufzte Sascha.
„Na, dann müssen wir uns den Kopf zerbrechen, wo wir 'ne Bleibe finden.“
„Ja.“ Sascha nickte. Die Blutsbrüder überlegten.
„Ich hab's!“ erklärte Ljonka. „Im Seitenflügel ist 'ne Kammer unter der Treppe, da krauchen wir rein.“
Sie standen auf und zogen los. Tatsächlich waren in der Treppe, die sie gestern benutzt hatten, um aufs Dach zu kommen, mehrere Stufen eingebrochen. Auf diese Weise hatte sich ein Spalt gebildet, durch den die Freunde nun in einen dunklen, engen Verschlag kletterten. Ljonka riß ein Streichholz an. Das kleine gelbe Feuer schwelte und flackerte in der feuchten Luft. Die Jungen sahen sich um und erschauerten. Die Backsteinwände waren glitschig vor Nässe. Braune Moosfetzen hingen daran. Auf dem Fußboden lagen alte, schmutzige, zerrissene Matratzen. Die Füße versanken in der grauen, vor Nässe klebrigen Wergfüllung.
„Relativ komfortabel“, versuchte Ljonka zu spotten, aber seine Stimme klang dumpf und gequält.
„Widerlich, in solchem Dreck zu schlafen!“ Sascha runzelte die Stirn und trat gegen einen Werghaufen.
„Was soll'n wir machen? Laß nur, Mann, daran gewöhnst du dich.“ Ljonka hatte in seinem Leben schon in ekelhafteren Höhlen übernachten müssen. Er ging jetzt dem Freund mit gutem Beispiel voran, unterdrückte seinen Abscheu und ließ sich auf dem feuchten, ungemütlichen Lager nieder. Sascha legte sich neben ihn.
Sie unterhielten sich noch ein wenig. Es waren traurige Gespräche, die alle auf die Ausweglosigkeit ihrer Situation hinausliefen. Dann schliefen sie ein. Nach sechs Stunden wurden sie von grellem Licht und einer groben Stimme geweckt. Sie schreckten hoch und sprangen auf. Durch das Loch in der Ecke ragten ein Kopf und eine Hand mit Laterne. „Aufstehn, aufstehn! Puh, da liegen…“ Es war Meftachudyn.
Die Blutsbrüder wurden hellwach und gähnten niedergeschlagen. „Hast du denn kein Mitleid?“ fragte Ljonka. „Mitleid haben, geht aber nicht. Viktor Nikolajewitsch sagen: Durchsuch ganzes Haus, wenn finden, dann rausholen.“ „Halunke!“ brummte Ljonka. „Und überhaupt, schlafen hier unmöglich.“
„Warum?“ fragte Sascha.
„Weil Tiktive kommen.“
„Wer?“ forschte Sascha erstaunt.
„Tiktive… mit Knüppel und Gewehr.“
„Er meint wahrscheinlich Detektive“, stellte Ljonka fest. „Er will uns angst machen.“ Er sah zu dem Wächter auf. „Nein, Meftachudyn, wir gehn nicht weg. Wir wissen nicht, wohin.“ Meftachudyn schnaufte, dann verschwanden der Kopf und die Hand mit der Laterne, und die Stiefel des Tataren trampelten die Treppe hinab.
Die Freunde legten sich wieder hin. Das Einschlafen fiel ihnen jetzt schwer. In der Kammer war es kalt geworden, und sie zitterten unter Saschas Mantel und auf den beiden nassen, zerfetzten Matratzen.
„Wir wollen Feuer machen“, schlug Ljonka vor.
„Nicht doch!“ widersprach Sascha erschrocken. „Hier ist lauter Stroh und so was. Das gibt 'nen Brand.“
„Unsinn.“
Ljonka kroch von den Matratzen herunter und schob das Werg von dem schmutzigen Steinfußboden. In den Kreis, der sich auf diese Weise gebildet hatte, legte er ein Häuflein Werg und riß ein Streichholz an. Aber das durchnäßte Werg wollte kein Feuer fangen.
„Hast du Papier?“
Aufstehn, aufstehn!
„Nein“, antwortete Sascha. „Nur Bücher, und um die ist es zu schade.“
Ljonka wühlte in seiner Hosentasche und zog zusammengefaltetes Papier hervor.
„Was ist das?“ erkundigte sich Sascha.
„Heinrich Heine“, sagte Ljonka kläglich und lächelte traurig in die Dunkelheit.
Er zerknüllte ein Blatt und zündete es an. Die Flamme leckte über das Papier, erlosch, rauchte und schlug dann wieder hoch. „Komm her“, sagte Ljonka.
Sascha rückte heran.
Sie hatten die Übersetzung von Heine fast ganz verbrannt, als sich auf der Treppe Schritte näherten. Ljonka erstickte das Feuer mit den bloßen Händen. Es erlosch sofort.
Wieder tauchte eine Hand mit Laterne in der Deckenöffnung auf, und diesmal folgten ihr zwei Köpfe.
„He, ihr Hühner! Kommt raus!“ Das war Alnikpops Stimme. Sascha und Ljonka preßten sich lautlos an die Wand. „Na, wird's bald!“
„Komm raus!“ flüsterte Ljonka.
Hintereinander kletterten sie durch das Loch ins Treppenhaus — verschlafen und schmutzig, mit nassem Werg und Stroh beklebt. Ohne ein Wort gingen sie die Treppe hinunter. Alnikpop und Meftachudyn brachten sie ans Tor. Alnikpop hatte die Hände fröstelnd in die Ärmel gesteckt.
„Nicht nett von Ihnen, Onkel Sascha“, sagte Sascha Pylnikow. „Was soll ich machen, Jungens! Viktor Nikolajewitsch hat es so angeordnet.“ Er machte ihnen die Pforte auf und fügte hinzu: „Alles Gute!“
Auf der Straße war es finster und kalt.
Die Laternen brannten nicht mehr, der Mond schien nicht, und die Sterne flimmerten nur verschwommen zwischen den Wolken. Langsam trotteten Sascha und Ljonka die dunkle, breite Allee hinunter, vorüber an einem hell erleuchteten Restaurant. „Halunken!“ brummte Sascha.
Das galt den NÖP-Leuten, die zu dieser späten Stunde noch zechten. Die Jungen bekamen allmählich Hunger. Auf dem Newski-Prospekt kauerten die Kutscher der Nachtdroschken frierend auf ihren Wagen.
„Komm wieder zurück“, sagte Ljonka.
„Hat das Sinn?“ wandte Sascha ein. „Sie lassen uns ja doch nicht schlafen.“
„Ach was — los, komm!“
Sie gingen zur Schkid zurück.
Der wachsame Meftachudyn hatte das Tor verschlossen. Sie mußten über das mit Stacheldraht umwickelte zerbrochene Gitter klettern. Unbemerkt kamen sie in ihren Verschlag unter der Treppe und schliefen ein.
Am nächsten Morgen erwachten sie aus alter Gewohnheit um acht Uhr.
Als sie auf den Hof kamen, klingelte es in der Schkid gerade zum Frühstück. Die verschleierte Sonne erwärmte die Erde. Auf dem Gras verdampfte der Tau.
Hinter dem Holzstoß kam Meftachudyn hervor. Er hatte eine Axt in der Hand, wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab, sah nach Osten und gähnte. Als er die Jungen erblickte, ging er zu ihnen hin.
„Na, doch hier geschlafen?“
„Nein“, widersprach Sascha erschrocken. „Nein, nicht hier, wir…“
Meftachudyn lachte.
„Ich wissen, ich selbst sehen, wie reingekommen.“ Er sah in die Luft und ergänzte: „Ich doch Mitleid. Ich — meine Pflicht getan.“
Ljonka klopfte dem Tataren auf die Schulter.
„Ich weiß.“ Als Meftachudyn weg war, schlug er vor: „Wir gehn jetzt in die Schkid.“
Sie stiegen die Treppe hinauf und gingen in die Küche. Der Älteste und der Diensthabende gaben ihnen Tee und riefen Jankel und Japs.
„Na, wie steht's?“ fragte Japs teilnahmsvoll.
„Schlecht“, antwortete Ljonka. „Wir können nicht länger ohne Bleibe rumlaufen. Ist zu kalt.“
„Tja“, meinte Jankel nachdenklich. „Geht doch mal zu Vikniksor und jammert ihm was vor. Vielleicht erbarmt er sich.“
Die Blutsbrüder tranken ihren Tee aus und folgten dem Rat. „Herein!“ rief Vikniksor, als sie an seine Tür klopften.
Sie traten ein und blieben an der Tür stehen.
„Was wollt ihr?“
„Verzeihen Sie uns, Viktor Nikolajewitsch…“
„Nein… Schert euch aus der Schule, habe ich gesagt. Solche Schurken will ich hier nicht haben.“ Die Jungen wandten sich zum Gehen.
„Übrigens… wenn ihr die Fensterscheiben wiedereinsetzt, dann…“
„Dann?“
„Dann dürft ihr in einem Monat in die Schule zurückkommen.“ „Vielen Dank, Viktor Nikolajewitsch.“
Damit verließen sie das Zimmer. Sie wußten vor lauter Kummer nicht mehr, was sie machen sollten.
„Was heißt denn das?“ stieß Ljonka hervor. „Wenn wir die Fensterscheiben nicht wiedereinsetzen, dürfen wir dann überhaupt nicht mehr wiederkommen?“ „Scheint so“, seufzte Sascha.
„Wir müssen uns also überlegen, wo wir das Geld herkriegen. Die Scheiben müssen wir wohl auf jeden Fall wiedereinsetzen.“ Sie gingen in den Hof zurück. „Komm auf die Straße“, sagte Sascha.
Der herrliche Frühlingstag machte ihnen diesmal kein Vergnügen. Langsam, ziellos schlenderten sie davon. „Wir müssen was verkaufen“, stellte Sascha fest. „Ja.“ Ljonka nickte. „Aber was?“ Sie überlegten.
Als sie am Jussupow-Park vorbeikamen, schlug Ljonka vor: „Gehn wir da mal rein.“
Im Park setzten sie sich auf eine Bank. Hier war der Frühling noch deutlicher zu spüren als auf der Straße. Die Knospen sprossen, und am Ufer des Teiches, auf dem das Eis schon geschmolzen war, kam das erste Gras hervor. Die Blutsbrüder saßen da und zerbrachen sich den Kopf.
„Ich hab' was“, erklärte Ljonka errötend. „Was?“
„Einen Zahn.“
Er nahm die Mütze ab, schob das Futter weg, holte ein winziges Papierknäuel hervor und wickelte es umständlich auseinander. Ein runder Gegenstand kam zum Vorschein. „Einen Goldzahn“, wiederholte er. „Im Herbst fand ich ihn in Katherinenhof. Ich glaub', den kann man verkaufen.“ Sascha grinste.
„Warum hast du ihn denn so lange aufbewahrt?“ Ljonka errötete noch tiefer.
„Es ist natürlich dumm, aber es heißt doch, daß Zähne Glück bringen.“
„Glück!“ spottete Sascha. „Der Zahn hat dir wahrhaftig viel Gluck gebracht!“
Ljonka beschloß, den Zahn zu verkaufen. „Und was verkaufe ich?“ fragte Sascha.
Er knüpfte sein Bündel auf und holte das „Kapital“ von Marx heraus.
„Ob man dafür was bekommt?“ Ljonka sah auf den Titel. „Wahrscheinlich ebensoviel wie für meinen Zahn.“ Sascha blätterte in dem dicken Band. Dann schob er ihn in sein Bündel zurück.
„Nein!“ erklärte er. „Marx kaiin ich nicht verkaufen. Lieber verscheure ich meine Stiefel.“
Er trug neue englische Stiefel, die ihm sein Bruder mitgebracht hatte, als er ihn im Winter besuchte.
„Die verkaufe ich!“ Er zog die Stiefel aus und steckte sie in 'sein Bündel. „Los!“ sagte er dann. Die Jungen verließen den Park. Sascha war seit dem letzten Sommer nicht mehr barfuß gelaufen. Er trat jetzt ganz unsicher auf und fuhr bei jedem spitzen Stein hoch. Zuerst gingen sie in einen Juwelierladen. Der dicke jüdische Juwelier sah sich den Zahn gründlich an, zuerst mit bloßem Auge, dann mit der Lupe. Danach blickte er zu den Jungen auf.
„Wo habt ihr den her?“
„Gefunden“, antwortete Ljonka.
Der Juwelier überlegte einen Moment, warf den Zahn auf die Goldwaage, holte, ohne nach dem Preis zu fragen, fünf „Eier“ aus der Kasse und legte sie den Freunden hin. „Zuwenig“, sagte Ljonka. Der Juwelier griff nach dem Geldschein.
„Meinetwegen, her damit!“ stieß Ljonka hervor, steckte das Geld in die Tasche und ging mit Sascha aus dem Laden. „Verdammter Schieber!“ brummte er draußen.
Anschließend trotteten sie auf den Trödelmarkt, wo sie Saschas englische Stiefel für zehn „Eier“ an den ersten besten Altwarenhändler verkauften.
Für den Rückweg zur Schkid benutzten sie die Straßenbahn: Die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden hatten sie müde gemacht, und außerdem konnten sie sich diesen Luxus jetzt erlauben. Zuversichtlich gingen sie zu Vikniksor ins Arbeitszimmer. „Da seid ihr ja schon wieder!“ rief der Direktor. „Was wollt ihr?“
„Das Geld für Ihre Fensterscheiben bringen!“ Ljonka legte dem Direktor fünfzehn Millionen Rubel — das waren etwa zwei Goldrubel — auf den Tisch.
Vikniksor blickte auf das Geld, setzte sich dann an den Schreibtisch und schrieb eine Quittung aus.
„Hier, nehmt den Wisch!“ sagte er finster. Dann fügte er etwas freundlicher hinzu: „Kommt in einem Monat wieder.“
Die Blutsbrüder gingen aus dem Zimmer.
„Und wohin jetzt?“ fragte Sascha leise.
„Nach Hause“, antwortete Ljonka. „Wo sollen wir sonst hin.“ Sie gingen in die Klasse, verabschiedeten sich von den Kameraden und trennten sich dann — der eine trabte in die Mestschanskajer Straße, der andere zur Wassilewski-Insel.