Als „Schkid, die Republik der Strolche“, Ende der zwanziger Jahre im Verlag der Jugendinternationale, Berlin, erschien, war dem Buch außer dem „Epilog“ ein Brief angefügt, den einer der Autoren am 7. April 1929 an den Verlag gerichtet hatte. Die russische Ausgabe war zwei Jahre zuvor in Leningrad herausgekommen. Inzwischen sind die Angaben über die „Helden und Autoren“ — wie L. Pantelejew schrieb — bereits „überholt und bedürfen der Ergänzung“:
…Der „defekte“ Wildfang Japs hat das Institut für dramatische Kunst in Leningrad beendet. Er ist Regisseur an einem Leningrader Theater. Sascha Pylnikow, der Radaubruder, hat sich jetzt selbst in einen „Propheten“ verwandelt; er lehrt Mathematik in einer Leningrader Schule. Kolka, der Zigeuner, ist Bezirksagronom im Tscherepomezker Gouvernement. Falke ist im letzten Kurs des Instituts für Kunstgeschichte, und Happen ist auf der Akademie für Luftschiffahrt auf der Krim. Bessowestin ist Ingenieur, „Kaufmann von Offenbach“ Offizier. Was uns, die Autoren dieses Buches, betrifft, so sind mir weiterhin literarisch tätig. Genösse Bjelych hat ein Buch mit Kindererzählungen herausgegeben: „Isidors Ziege“. Jetzt schreibt er einen großen autobiographischen Roman: „Das Haus der lustigen Bettler“.
Ich schrieb ein Buch für Kinder: „Porträt“ und eine Novelle aus dem Leben minderjähriger Verbrecher: „Die Uhr“. Auf Verlangen eines Theaters und einer Filmgesellschaft bearbeite ich gegenwärtig den gleichen Stoff („Die Uhr“) für die Bühne und den Film.
Gemeinsam mit Bjelych arbeite ich an einem Zyklus „Schkider Erzählungen“. Außerdem sind wir für die Presse tätig…
Heute ist längst veraltet, was damals berichtet wurde. Der Mitautor, Grigori Georgiewitsch Bjelych, weilt, wie viele seiner Mitschüler, nicht mehr unter den Lebenden. Er ist 1938 im Alter von zweiunddreißig Jahren gestorben. Als Verfasser von Kindererzählungen und Redakteur der Zeitschrift „Smena“ hatte Bjelych die schon in der „Schkid“ begonnene schriftstellerische und journalistische Tätigkeit fortgesetzt. Er war der Jankel, den wir in der „Schkid“ kennenlernten.
Da ist der Augenblick, in dem er und Pantelejew zum Schulleiter gehen und um ihre Entlassung bitten.
Jankel brachte vieles vor. Er sagte, daß sie ihrem Alter nach nicht mehr in die Schule hineinpaßten; er sprach von ihrem Wunsch, so schnell wie möglich ins Leben zu treten, um zu arbeiten.
„In stummer Erwartung sahen sie den Direktor an. Nachdenklich saß Vikniksor da, ein kaum merkliches, verständnisvolles Lächeln auf den Lippen. Dann stand er auf, ging durch den Raum und maß die beiden Jungen noch einmal mit einem eindringlidien Blick.
'lhr habt recht', sagte er dann.
Jankel und Ljonka fuhren vor Erleiditerung zusammen.
'lhr habt recht', niederholte Vikniksor. 'Ihr habt jetzt das ausgesprochen, was ich eudi in einem halben Jahr sagen wollte. Ich sehe, daß ich mich etwas in der Zeit geirrt habe. Ihr seid ein halbes Jahr früher reif geworden. Die Schule hat euch als kleine Diebe, als Strolche aufgenommen. Jetzt seid ihr aber herangewachsen, und ich spüre, daß die Zeit, die ihr in der Schule verbracht habt, für euch nicht umsonst war. Ich habe sdion längst erkannt, daß ihr durch die Umerziehung stark genug geworden seid, um ins Leben zu treten. Ich weiß, ihr werdet künftig keine Parasiten, kein Abschaum der Gesellschaft mehr sein, und deshalb sage ich euch ganz offen: Ich halte euch nicht zurück… Wenn es euch aber schwerfallen sollte, eine Beschäftigung zu finden, dann kommt zu mir. Ich will versuchen, euch dabei zu helfen. Ihr seid es wert.'“
Ja, sie waren stark genug, genügend umgemodelt, nun ins Leben zu treten. Die „Schkid“ hatte sie für das Leben gewonnen, für ein neues Leben. Das ist die große Idee, die das ganze Buch durdizieht.
Das Leben vorher war unendlidi schwer gewesen. Gegen eine Welt von Feinden hatte sich die Revolution verteidigen müssen. Krieg, Bürgerkrieg und die Hungersnot, die der großen Dürre im Jahre 1921 folgte hatten auch unter der heranwachsenden Jugend ihren Tribut gefordert. Viele Jugendliche verloren Eltern und Erzieher, wurden heimatlos, aus der Bahn einer normalen Entwicklung geworfen. Sdiaren hungriger und zerlumpter Kinder trieben sidi die Bahnstrecken entlang, überliefen die Städte, bettelten, stahlen und wurden zu einer regelrechten sozialen Plage.
Noch tobte der Bürgerkrieg, nodi lag die Wirtschaft danieder, als die Sowjetmacht den Kampf gegen die Kinderverroahrlosung begann. Sammelstellen wurden geschaffen, die die verwahrlosten Kinder aufnahmen und auf sdmell eingeriditete Kinderheime und Sdiulen verteilten.
Eines dieser Heime war die „Schkid“ in Petrograd, heute Leningrad. Trotz ungünstigster Bedingungen unternahm sie ihre ersten Schritte im Kampf gegen das jugendliche Verbrechertum. Es herrschte Mangel am Notwendigsten. Die Versorgung der Stadtbevölkerung mit Lebensmitteln war unvorstellbar schlecht. Heizmaterial konnte nur unter größten Schmierigkeiten beschafft werden. Um jedes Stück Kleidung mußte man einen hartnäckigen Kleinkrieg mit den Verteilungsstellen führen. Und sddießlidi gab es keinen Stab von erfahrenen und bewährten Pädagogen, die fähig gewesen wären, die kleinen Banditen zu brauchbaren Menschen zu erziehen — diese Jungen, die in die „Schkid“ kamen, belastet mit einer schrecklidien und traurigen Vergangenheit, boshaft und hungrig, mißtrauisch gegen jedes und alles, behaftet mit der Psychologie des Hooligans, dem „alles erlaubt ist“. Unüberwindlich schienen die Schwierigkeiten, vor denen die Sowjetmacht auf diesem Gebiet stand. Hingebungsvolle und opferfreudige Arbeit aber schuf hier Bahn. Unter gewaltigen Anstrengungen, nach vielen Rücksdüägen nur gelang es damals, das Übel einzudämmen und ein Netz von Anstalten und Schulen für die verwahrlosten Kinder zu schaffen.
Noch 1929 schirieb Pantelejew in seinem Brief an den Verlag: „Unser Sowjetland ist nicht sehr reich. Die Mittel zur Bekämpfung der Kinderobdachlosigkeit sind knapp.“
Aber er konnte damals schonhinzufügen: „Dennoch, der Stamm der jungen Landstreicher nimmt mit jedem neuen Jahr merklich ab. Es kommt die Zeit, da die Republik SCHKID ihre Tore schließen wird — niemand wird in ihren Mauern mehr Unfug treiben…“
Die Zeit ist längst gekommen.
Erst zwanzig Jahre alt war Pantelejew, als er diesen Brief schrieb. Heute gehört er zu den beliebtesten Jugendsdiriftstellern der Sowjetunion. Alexej Iwanowitsdi Pantelejew ist am 22. August 1908 in Petersburg geboren. In dem vorliegenden Buch erzählt er selbst die Gesdiidite seines Lebens bis zum Eintritt in die „Schkid“. „Dieser stille, schüditerne, wortkarge Bursdie war, wie man so sagt, durdi Feuer und Wasser gegangen.“ Ungefähr drei Jahre war Ljonka Bürger der Republik „Schkid“. Hier träumte er zusammen mit seinem „Blutsbruder“ Jankel von Zukunftsplänen. Nach Baku, wo damals der berühmte Regisseur Peristiani wirkte, sind die beiden allerdings nicht gekommen. Ljonka arbeitete in verschiedenen Berufen, ehe er 1925 Filmbesprediungen, Skizzen und Kurzgesdiiditen für Zeitungen und Zeitsdiriften zu sdireiben begann. Er war Schuhmacher, Kinomedianikerlehrling, Kochgehilfe in einem Restaurant und Bibliothekar.
Damals entsdilossen sidi Pantelejew und Bjelych, zusammen ein Buch über ihre gemeinsamen Erlebnisse in der „Schkid“ zu verfassen. In kurzer Zeit war der Entschluß in die Tat umgesetzt. Das fertige Manuskript übergaben die jungen Autoren — Pantelejew wär kaum achtzehn Jahre alt — einem Bekannten aus der Leningrader Abteilung für Volksbildung, der sie verwundert fragte: „Was — Ihr habt ein Buch geschrieben?“ Die Verwegenen waren zunächst entmutigt und hatten kaum Hoffnung, daß sich ein Verlag für das Buch interessieren könnte. Zufällig erfuhren sie einige Monate später, daß der Staatsverlag für Literatur das Manuskript — mit ausdrücklicher Befürwortung Gorkis — angenommen hatte und zum Druck vorbereitet.
Für Pantelejews Weg als Schriftsteller wurde die Bekanntschaft mit Gorki bestimmend. Auf Empfehlung des großen Dichters arbeitete er unermüdlich an seiner Weiterbildung und besuchte die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. 1930 veröffentlichte Pantelejew die Erzählung „Das Paket“, in der von der Heldentat eines einfachen Rotarmisten aus der Reiterarmee Budjonnys erzählt wird. Das Thema der Heldentat ist überhaupt in seinem Schaffen führend geblieben. Während des Grollen Vaterländischen Krieges lebte der Schriftsteller im belagerten Leningrad. Seine Kriegseindrücke fanden ihren Niederschlag in zahlreichen Erzählungen. Großer Popularität bei den jugendlichen Lesern erfreuen sich seine autobiographische Erzählung „Ljonka Pantelejew“ sowie die Erzählungen „Die erste Heldentat“, „Das Ehrenwort“ und andere. Pantelejew ersdiließt den Jugendlichen in seinen Werken nicht nur die Romantik einer Heldentat, sondern weckt in ihnen den Wunsch, sich auch im alltäglichen Leben Eigenschaften eines „wahren Menschen“ anzuerziehen. Sein Werk ist von dem optimistischen Glauben an den Menschen durchzogen. Es ist derselbe kämpferische Humanismus, die gleiche pädagogische Idee, für die Gorki oft so schöne Worte fand: „Unser Ziel ist es, die Jugend zu lehren, das Leben zu lieben und an das Leben zu glauben. Der Mensch muß wissen, daß er der Schöpfer und der Herr der Welt ist, daß er die Verantwortung für alles Unglück der Welt trägt und daß ihm auch die Ehre gebührt für alles Gute, das es in der Welt gibt.“ (Gorki an Romain Rolland, 1917).
Dem Buch über die „Schkid“ war seinerzeit ein erstaunlicher Erfolg beschieden: Innerhalb kurzer Zeit erschienen zehn Auflagen in russischer Sprache, in vielen Ländern wurde „Schkid“ übersetzt. Wie hoch Gorki das Buch einschätzte, drückt sich in folgendem Brief an Makarenko aus:
Lieber Genösse Makarenko,
da ich „Phantasie“ besitze, konnte idi mir natürlidi vorstellen, wie schwer es für Sie sein muß, über dreihundert Jugendliche, die für Disziplin und organisierte Arbeit nicht viel übrig haben, das Kommando zu führen. Doch obgleich ich es mir vorstellen konnte, vermochte ich natürlich nicht die ganze Kompliziertheit Ihrer Lage mitzufühlen.
Jetzt aber fühle und — verstehe ich Sie. Fühlen und verstehen, wer Sie sind und wie verteufelt schwer Ihre Arbeit ist, lehrten mich zwei ehemalige kleine Diebe, die Verfasser des hochinteressanten Buches „Die Republik Schkid“. „Schkid“ ist eine Abkürzung von „Dostojewski-Schule für Schwererziehbare“. Sie, die Zöglinge dieser Sdiule waren, haben deren Alltag und ihre eigene Lage in dieser Sdiule geschildert und die wirklich monumentale Gestalt des Schulleiters Viktor Nikolajewilch Sorokin dargestellt, eines wahren Märtyrers und echten Helden. Um zu verstehen, was ich Ihnen aus ganzem Herzen sagen möchte, müssen Sie dieses wundervolle Buch selber lesen. Aber ich möchte Ihnen folgendes sagen: Mir scheint, Sie sind ebenso ein großer Mensch wie dieser Vikniksor, wenn nicht ein größerer, ebenso ein Märtyrer und echter Kinderfreund. Gestatten Sie mir respektvolle Anerkennung und Bewunderung Ihrer Willenskraft. Es liegt etwas besonders Bedeutsames darin, daß ebensolche Burschen wie Ihre Zöglinge, Ihre Kolonisten, mir geholfen haben, mit Ihnen zu fühlen und Ihre Arbeit zu verstehen. So ist es doch, nicht wahr?
Nun, das märe alles, mas ich Ihnen sagen wollte.
Lesen Sie die „Republik Schkid“ — erschienen im Staatsverlag —, schreiben Sie mir Ihre Gedanken über dieses Buch und seinen Haupthelden Vikniksor.
Ich drücke Ihnen fest die Hand.
Sorrent, 28. März 1927
Als uns das Buch über die „Schkid“ vor dreißig Jahren in die Hände fiel, erregte es uns ebenso wie kurz darauf der Film „Der Weg ins Leben“. In diesem Film erlebten mir das große Drama des Kampfes um den Menschen, seiner Befreiung aus den Niederungen des Lebens. Es mär kein Film nach dem „pädagogischen Poem“ von Makarenko. Dessen Name und dessen Werk waren uns damals noch unbekannt. Aber heute missen wir, daß sich in dem pädagogischen und literarischen Werk Makarenkos jener heroische Kampf um den Mensdien widerspiegelt. Damals führte die Partei „die letzten Schläge gegen die letzten Reste einer mißratenen, demoralisierten Kindheit“, schrieb Makarenko im „Weg ins Leben“.
Als lebendiges Zeugnis dieser Übergangszeit beriditet die Chronik der „Schkid“ von manchem, was in den pädagogischen Grundsätzen Makarenkos nicht mehr zu finden ist, was längst als falsch und fehlerhaft erkannt und beseitigt wurde. Das Gesamtbild der jungen Generation prägten nicht die verwahrlosten Kinder — diese Geißel der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution —, sondern die heldenhaften Leistungen junger Kämpfer und Aktivisten, der kühnen Erbauer des Sozialismus in der Sowjetunion. Der Leser von heute sollte diese Tatsache berücksichtigen. „Schkid — die Republik der Strolche“ wird uns das Verständnis für die Gesamtentmicklung erleichtern. Damals haben wir das Buch verschlungen und empfanden so, wie es Gorki in seinem Brief beschrieb. Durch allen Unfug hindurch spürten und erkannten wir den revolutionären, optimistischen Elan, der uns mitriß. Der Kampf der Sowjetpädagogen, ihr unbedingter Wille, das Übel mit der Wurzel auszurotten, ihre revolutionäre Geduld und Zähigkeit — dies alles sdmf unauslöschlidie Eindrücke. Aus diesem Buch schlug etwas von der heroischen Leidensdiaft zu uns herüber, mit der in der Sowjetunion eine tiefe revolutionäre humanistische Pädagogik lebte. Hier klang der Ton einer optimistisdien, aber durchaus realistischen Pädagogik. Wir waren mit den sowjetischen Pädagogen felsenfest davon überzeugt, daß kein so junger Mensch, wie die kleinen Banditen, endgültig verdorben und für die menschlidie Gesellschaft verloren sein könne. Wir erlebten bei der Lektüre des Buches mit, wie sich die „Schkider“ veränderten. Aber wir wußten auch schon damals, daß dies eine sowjetisdie Veränderung war. Die Strolche wären nicht von der jungen Sowjetmacht hervorgebracht worden. Sie waren eines der üblen Ergebnisse des Verfalls der alten Gesellschaft.
Sowjetisch war ihre Verwandlung in gesunde, aktive, sozialistische Menschen! In den dreißig Jahren, die inzwischen vergangen sind, blieb die Pädagogik in der Sowjetunion nicht auf dem Fleck stehen. Sie wuchs mit der ganzen Sowjetmacht. Der Start des ersten künstlichen Planeten hat einen neuen, bedeutsamen Zeitabschnitt eingeleitet: den umfassenden Aufbau der kommunistischen Gesellschaft in der Sowjetunion. Die Veränderungen, die gegenwärtig im sowjetisdien Schulwesen vor sich gehen, tragen dieser stürmisdien Weiterentwicklung Rechnung.
Wenn wir heute auf das Buch von der „Schkid“ zurückblicken, mag sinngemäß gelten, was Makarenko 1935 schrieb, als er sein literarisches Meisterwerk, das pädagogische Poem „Der Weg ins Leben“ abschloß: „In weiter, weiter Ferne liegt mein erster Tag in der Gorki-Kolonie, jener Tag voller Schimpf und Ohnmacht, und er kommt mir jetzt vor wie ein ganz winziges Bildchen im kleinen Guckloch eines Panoramas.“