DER KLEINE KERL AUS DEM SMOLNY

Der kleine Kerl Zur Kanonier-Insel * Die Schkider baden * „Guten Tag, Kameraden!“ * Kuchen aus Hamburg * Vikniksor hat einen Einfalt * Die Nationalhymne der Republik Schkid.


Die Strolchrepublik Schkid bekam Paten — die Hafenarbeiter. Die Arbeiter vom Handelshafen halfen zunächst mit Geld; damit wurden Lehrbücher und Lebensmittel gekauft. Dann fuhren sie Brennholz an, und als der Sommer kam, stellten sie dem Heim die Kanonier-Insel und das Hafengebiet für Besichtigungen und Ausflüge zur Verfügung.

Die Ausflüge waren für die Schkider ein Fest. Sie brachen schon morgens auf, verbrachten den ganzen Tag im Hafen und kamen erst spätabends befriedigt, wenn auch müde, unter das Dach des alten Hauses an der Alt-Petershofer Allee zurück.

Die Vorbereitungen für den Ausflug auf die Insel nahmen gewöhnlich die ganze Aufmerksamkeit der Schkider in Anspruch. Geschäftig rannten sie umher — einige holten die Mäntel aus der Garderobe, andere packten die „Freßkörbe“, und die übrigen vermochten nur aus lauter Ungeduld nicht stillzusitzen.

Es war deshalb kein Wunder, daß die Jungen eines Sonntags bei den üblichen Ausflugsvorbereitungen gar nicht merkten, wie eine kleine Kindergestalt in einem ziemlich verschlissenen grauen Mantel und einer pfannkuchenartigen Mütze auftauchte. Der kleine, unauffällige Kerl zog den Naseninhalt hoch und staunte die umherrennenden Jungen an. Dann lehnte er sich an den Ofen, um nicht umgestoßen zu werden, und blieb dort unbeweglich stehen, in die Betrachtung seiner Umwelt versunken.

Inzwischen stellten sich die Jungen paarweise auf und warteten auf den Abmarschbefehl.

Erst als Vikniksor zum letzten Male die Reihen abschritt, bemerkte er die kleine Gestalt, die sich in die Ecke gedrückt hatte. „Ach ja. He, Jeonin, komm mal her! Stell dich in die letzte Reihe… Kinder“, sagte er zu den anderen und wies auf den Neuen, „das ist ein neuer Zögling.“

Die Jungen sahen sich nach ihm um, hatten seine Existenz aber schon im nächsten Augenblick wieder vergessen. Die Schkid marschierte ab.

Auf der Straße war es sonntäglich lustig und belebt. Wie Spatzen zwitscherten überall die Sonnenblumenverkäuferinnen. Die sonnenwarmen Bürgersteige glänzten. Bis zum Hafen war es ziemlich weit, aber die wohlgelaunten Schkider schritten tüchtig aus, und bald öffnete sich vor ihnen knarrend das hohe blaue Tor des Handelshafens.

Kühle Weite wehte ihnen entgegen. Vor ihnen blinkte der Seekanal. Seine Fluten waren anders — brodelnder und erregender — als die Gewässer der Fontanka oder des Obwodny-Kanals. Trotz des Feiertages wurde gearbeitet. Bei den langgestreckten Güterschuppen, die wie dicke Wale aussahen, luden die Lastträger Kornsäcke aus. Der Wind trieb feinen Silberstaub durch die Luft. Weiter hinten lag ein deutscher Dampfer am Kai. Er war mit Lokomotiven beladen. Die Schkider versuchten, seinen Namen zu lesen; es war ein langes Wort, und sie konnten es nur mit Mühe entziffern: „Bürgermeister von Hamburg.“

„Das ist aber ein Wort: Dabei bricht man sich die Zunge ab!“ sagte Mamachen erstaunt. Er war erst vor kurzem in die Schkid gekommen.

„Mamachen“ war sein Spitzname. Man hatte ihn so getauft, weil er dauernd sagte: „Ach, du mein Mamachen!“

Mamachen war einäugig. Das andere Auge hatte er bei einer Prügelei eingebüßt, deshalb trug er immer eine schwarze Binde.

Trotz seines Gebrechens erwies sich Mamachen als rauflustiger, munterer Bursche, und bald war er überall beliebt. So konnte er sich auch jetzt nicht enthalten, dem deutschen Matrosen, der an Deck stand, die Zunge zu zeigen.

Der Matrose war jedoch nicht im geringsten beleidigt. „Sdrastwuitje, Komsomol!“ rief er mit gutmütigem Lächeln herüber. „Verflucht! Der spricht ja russisch!“ riefen die Jungen erstaunt. Aber sie hatten keine Zeit, um stehenzubleiben. Es zog sie auf die Insel; die Sonne brannte schon vom Himmel, und sie wollten baden.

Sie liefen unter einem Riesenkran hindurch, der vor Anstrengung knirschte und surrte. Als sie sich später umblickten, sahen sie, wie seine gigantische Stahlpranke sich langsam öffnete, eine nagelneue deutsche Lokomotive um die Taille packte und sie lautlos in die Luft hob.

In einigen Booten überquerten sie den Kanal und tauchten unter das grüne Blätterdach — sie gingen wie gewöhnlich bis zur Spitze der Kanonier-Insel, dorthin, wo sie in einen langen schmalen Damm auslief.

Die Hitze machte sich bemerkbar. Die Gesichter der Jungen waren schon schweißüberströmt, als Vikniksor ihnen endlich erlaubte, haltzumachen.

„Hurra-a-a! Baden!“

„Wir wollen baden!“

Im Umsehen wimmelten nackte Körper über den Steinhang. Es war windstill, das Meer schien den Atem anzuhalten, aber am Ufer war das Wasser trotzdem unruhig.

Die Wellen rollten heran und brachen sich rauschend an den Steinen.

Es war schwierig, ins Wasser zu kommen, weil man von der Brandung gegen die Steine geschleudert wurde. Aber die Jungen wußten damit fertig zu werden.

„Na, wer macht den Anfang?“ schrie Jankel und klatschte sich auf die nackten Schenkel.

„Fang du doch an!“

„Laß mich!“ Zigeuner sprang vor. Er stellte sich dicht ans Ufer, wartete eine hohe Welle ab und tauchte genau hinein. Kurz darauf schwamm er schon draußen, von den Wellen gewiegt. Ein Körper nach dem anderen verschwand in den Wogen und tauchte nach wenigen Minuten hinten auf der Sandbank wieder auf. Jankel war als letzter zurückgeblieben. Er wollte gerade ins Wasser springen, als er den Neuen bemerkte. „Willst du nicht baden?“

„Nein. Ich kann es auch nicht.“

„Du kannst nicht schwimmen?“

„Nein.“

„So was!“ Jankel war aufrichtig erstaunt. Dann überlegte er und meinte: „Zieh dich trotzdem aus und geh ins Wasser, sonst veräppeln dich die Jungen. Du brauchst keine Angst zu haben, hier ist es flach.“ Widerstrebend zog sich Jeonin aus und kletterte ins Wasser. Im Verhältnis zu seinen vierzehn Jahren war er klein, dazu schwächlich, mit ungeschickten, eckigen Bewegungen.

Zweimal wurde er wieder ans Ufer geschleudert. Jankel schwamm um ihn herum.

„Macht nichts!“ rief er ermunternd. „Du bist es nur noch nicht gewohnt. Halt dich an den Steinen fest, wenn eine Welle kommt.“ Schließlich hatte er es satt, sich mit dem Neuen herumzuplagen und schwamm den anderen nach.

Auf der Sandbank sonnten sich die Jungen und mokierten sich über Vikniksor: Der paddelt wie ein altes Weib!

Schnell verging die Zeit, und unversehens wimmelten die nackten Körper wieder über den Steinhang.

Die Jungen hatten das Baden satt und wollten jetzt etwas essen. Brot und Butter wurden ausgegeben.

Jankel erinnerte sich wieder an den Neuen. Er suchte ihn, weil er sich mit ihm unterhalten wollte, aber Jeonin war nirgendwo zu sehen.

„Viktor Nikolajewitsch, hat der Neue schon sein Brot bekommen?“ forschte er. Vikniksor blickte in sein Heft und schüttelte den Kopf. Da ließ sich Jankel die Brotportion geben und machte sich auf die Suche.

Wie groß war sein Erstaunen, als sich seinen Augen folgendes Bild bot: An der anderen Seite des Dammes saß der Neue unter einem Strauch, neben ihm zwei deutsche Seeleute.

Und am verblüffendsten war, daß sich alle drei lebhaft in deutscher Sprache unterhielten. Dabei sprach der Neue die fremde Mundart genauso fließend wie das Russische.

Oho! dachte Jankel mit unwillkürlicher Begeisterung und sprang hinter dem Strauch hervor.

Die Deutschen sahen dem neuen Ankömmling verwundert entgegen, lächelten dann freundschaftlich, nickten ihm zu und forderten ihn durch Gesten auf, sich zu ihnen zu setzen. Jankel wollte sich um keinen Preis blamieren. Er kramte in seinem Gedächtnis, um ein paar passende deutsche Worte zu finden, die er in den Deutschstunden gehört hatte.

„Gutten Tag“, sprach er dann mit weltmännischer Verbeugung. „Deutschland… Kamraden!“

„Guten Tag, Guten Tag!“ Die Deutschen lächelten wieder, aber Jankel fiel keine deutsche Antwort mehr ein. Deshalb drückte er dem Neuen das Brot in die Hand und rannte davon. Bei den anderen angelangt, setzte er ein unschuldiges Lächeln auf und ging zum Direktor. „Viktor Nikolajewitsch, wie heißt auf deutsch… na, zum Beispiel: 'Genösse, gib mir eine Zigarette'?“ Vikniksor lächelte gutmütig.

„Das weiß ich nicht mehr. Frag Ella Andrejewna. Sie ist dort in dem Häuschen.“ Jankel ging hin. Am jenseitigen Ufer der Insel saß Elanljum tatsächlich in einer kleinen, halbverfallenen Laube. Sie war später gekommen als die Jungen, hatte allein gebadet und ruhte sich jetzt aus.

Jankel wiederholte seine Frage, aber Elanljum riß nur verblüfft die Augen auf.

„Wozu brauchst du das?“

„Bloß so. Ich möchte mich in der deutschen Umgangssprache üben.“ Nach kurzer Überlegung sagte ihm Elanljum die deutsche Übersetzung.

„Vielen Dank, Ella Andrejewna!“ rief Jankel und raste zu den Deutschen, voller Besorgnis, er würde die Wörter unterwegs durcheinanderbringen.

Bei ihnen angelangt, verbeugte er sich noch einmal. „Kamraden! Biite gäben Sie mir ain Sigarette!“

Die Deutschen lachten auf, und jeder holte eine Zigarette hervor. Jankel nahm alle beide und entschwand, äußerst zufrieden mit seinen praktischen Sprachübungen.

Am Ufer holte er eine Zigarette aus der Tasche und steckte sie sich an. Der duftende Tabak kitzelte ihn in der Kehle. Die anderen Jungen wurden von dem ungewohnten Duft angelockt. „Wo hast du die her?“

„Der raucht Zigaretten!“

Jankel gab keine Auskunft. Er erzählte nur, wie gut der Neue deutsch sprechen könne.

Doch bald hatten die Jungen die Deutschen entdeckt. Allmählich versammelte sich die gesamte Schkid-belegschaft um die Matrosen. Jeonin spielte den Dolmetscher.

Er übersetzte die Fragen der Jungen und die Antworten der Deutschen.

Und die Jungen hatten zahlreiche und verschiedenartige Fragen. Weshalb ist die Revolution in Deutschland fehlgeschlagen? Gibt es in Deutschland auch Kinderheime? Und verwahrloste Jugendliche? Kann man in den deutschen Schulen Russisch lernen? Sind die Matrosen schon einmal in Afrika gewesen? Haben sie Krokodile gesehen? Weshalb rauchen sie Zigaretten ohne Pappmundstück? Warum jagen die Deutschen die Kapitalisten nicht zum Teufel?

Die Matrosen keuchten und schwitzten, beantworteten jedoch jede Frage.

Die Jungen waren so sehr in die Unterhaltung vertieft, daß sie gar nicht merkten, wie der Schulleiter mit seiner deutschen Frau hinzutrat.

„Oh, hier ist ja Besuch!“ sagte Vikniksor.

Elanljum strahlte über das ganze Gesicht. Sie fing sofort an, deutsch zu plappern.

Die Jungen verstanden davon kein einziges Wort, blieben jedoch sitzen und betrachteten die Ausländer vergnügt. Die älteren hielten es für ihre Pflicht, mit dem Neuen, der so außergewöhnliche Deutschkenntnisse an den Tag gelegt hatte, nähere Bekanntschaft zu schließen. „Wo hast du so gut Deutsch gelernt?“ fragte Zigeuner. Jeonin lächelte.

„Im Otschakow-Heim. Ich liebe die deutsche Sprache, darum hab' ich sie gelernt. Ich hab' sie mir allein beigebracht.“

„Was ist das für ein Heim?“

„Ein Internat. Früher, vor der Revolution, hieß es so. Es liegt beim Smolny. Von dort bin ich zu euch versetzt worden.“ „Wegen Aufsässigkeit?“ forschte Spatz ernsthaft. Der Neue grinste nur.

„Deswegen auch“, erwiderte er dann ausweichend. „Wegen allen möglichen Sachen.“

Allmählich kamen sie ins Gespräch. Der Neue erzählte von sich. Er sei als Vollwaise aufgewachsen, habe aber noch irgendwo einen Onkel, wisse jedoch nicht, wo. Sein Vater sei 1914 an der Front gefallen und die Mutter kurz darauf gestorben.

Schnell verflog die Zeit, und erst Vikniksors Ruf ließ die Jungen in die Gegenwart zurückkehren.


Warum jagen die Deutschen die Kapitalisten nicht zum Teufel?


Die Sonne ging bereits hinter dem Finnischen Meerbusen unter, als Vikniksor den Befehl gab, die Anker zu lichten. Sie gingen zusammen mit den Matrosen zurück.

Nachdem sie den Kanal überquert und das Hafengebiet betreten hatten, dankten die Deutschen den Jungen für das freundschaftliche Gespräch, baten sie, einen Augenblick zu warten, und verschwanden auf ihrem Schiff. Kurz darauf kamen sie mit einem Paket zurück und händigten es Elanljum mit ein paar Worten ein. Elanljum strahlte.

„Kinder, die deutschen Matrosen haben euch Kuchen geschenkt. Sie lassen euch bitten, sie nicht zu vergessen. Beide haben Kinder, die in eurem Alter sind.“

Die Schkider brachen in ein Freudengebrüll aus, schwenkten zum Abschied die Mützen und marschierten zum Tor.

Nur „Brotkanten“ war unzufrieden. Seiner Meinung nach hatten die Deutschen viel zuwenig gegeben.

Den ganzen Weg über murrte er leise vor sich hin und setzte Kossar, seinem Nebenmann, auseinander, daß die Deutschen Geizkragen seien.

„Das ist doch kein Geschenk! Das ist eine GemeinheitI Ich wünsche bloß, daß die Teufel denen genausowenig Wasser geben, wenn sie in der Hölle schmoren!“

„Wieso?“ erkundigte sich Kossar verdattert.

„Weil jeder bloß ein Stück bekommt, wenn der Kuchen geteilt wird“, murrte Brotkanten finster. Nach einiger Überlegung fügte er hinzu: „Vielleicht bleibt dabei aber noch eines für mich übrig.“

„Schluß mit der Stänkerei!“ fuhren ihm die Älteren über den Mund. Zigeuner beließ es nicht bei bloßen Worten, sondern langte ihm noch eine und brachte ihn dadurch endgültig zum Schweigen.

Brotkanten hatte diesen Spitznamen wegen seiner ungewöhnlichen Kopfform bekommen. Sein Schädel war plattgedrückt, lief oben spitz zu und sah tatsächlich wie ein Brotkanten aus.

Brotkanten war zwar noch neu in der Schkid, stand aber bereits im Ruf eines dauernden Miesmachers. Deshalb kümmerte sich für gewöhnlich niemand um sein „Gemecker“. Wurde es den Jungen schließlich zuviel, reagierten sie wie Zigeuner.

Die Schkider hatten die Matrosen ins Herz geschlossen, besonders Jankel, dem die Begegnung außer den erfreulichen Erinnerungen noch eine ausländische Zigarette mit schmalem Goldrand eingebracht hatte.

Auf dem Ausflug hatten die Jungen den Neuen achten gelernt. Durch die Begegnung mit den Deutschen war er in den Vordergrund gerückt, und der Umstand, daß die Älteren neben ihm gingen, bewies, daß er zur „Creme“ der Schkid gehören würde.


So kam es auch. Jeonin wurde in die vierte, obere Abteilung eingeschult. Er war gescheit, schon sehr entwickelt und gleichzeitig ein großer Radaubruder. Das gefiel den Älteren. Bald hatte er auch einen Spitznamen weg. Er wurde „Japs“ getauft wegen seiner leicht geschlitzten Augen und überhaupt wegen seiner verhältnismäßig großen Ähnlichkeit mit den Söhnen aus dem Land der aufgehenden Sonne. Sein Ansehen stieg weiter, als er der Schöpfer der Schkidhymne wurde. Das geschah so:

Als die Erzieher eines Abends ihre Zöglinge in die Schlafräume geschickt und sich die Klassen schon geleert hatten, saßen nur noch Jankel und Japs in der vierten Abteilung auf ihrer Bank. Jankel zeichnete, und Japs machte eine Abschrift aus einem deutschen Buch.

Da kam Vikniksor in die Klasse. Er schien guter Laune zu sein, denn er summte ein Kampflied vor sich hin.


Einträchtig schmetterten sie.


Er ging durch den Raum, betrachtete die Wände und die gesenkten Köpfe der Schüler und blieb dann vor ihrer Bank stehen. „Wißt ihr was, Kinder“, sagte er, „wir sollten uns eine eigene Schulhymne zulegen.“

Jankel und Japs sahen Vikniksor verwundert an, schwiegen aber diplomatisch.

„Unsere Schule“, fuhr dieser fort, „ist doch in ihrer Art eine Republik. Wir haben ein Wappen, deshalb müssen wir auch eine Nationalhymne haben. Was meint ihr dazu?“

„Na klar“, murmelte Jankel ausweichend. Er wechselte einen Blick mit Japs.

„Und was ist schon dabei?“ fragte Vikniksor lebhaft. „Wir setzen uns jetzt zu dritt dahinter und dichten eine. Ich hab' schon einen Einfall. Wir nehmen die Melodie des Studentenliedes 'Gaudeamus'. Das wird prächtig.“

„Dann man los“, willigten die Hymnendichter lustlos ein. Hingerissen von seinem Einfall, setzte sich Vikniksor neben sie auf die Bank und sang ihnen zur Erläuterung des Versmaßes das „Gaudeamus“ zweimal vor.

Jankel holte ein Blatt Papier, und sie machten sich ans Werk. Während Vikniksor seine unzugängliche Direktorenwürde vollständig vergessen hatte, zerbrach er sich gemeinsam mit den Jungen über Vers und Reim den Kopf.

Schon zweimal hatte ein Erzieher zur Tür hereingesehen, voller Verwunderung über das merkwürdige Bild und ohne zu wagen, die Zöglinge ins Bett zu scheuchen. Denn sie befanden sich ja unter Vikniksors Schutz.

Nach anderthalb Stunden angestrengten Kopfzerbrechens und langer, schöpferischer Streitgespräche war die Nationalhymne endlich fertig. Die drei Verfasser begaben sich in den Weißen Saal. Dort setzte sich Vikniksor an den Flügel und griff in die Tasten.

Die beiden Schkider legten das Blatt auf den Notenständer und warteten auf ihren Einsatz.

Die Begleitmusik brauste auf, die beiden Jungenstimmen vereinten sich mit dem tiefen Baß des Direktors, und einträchtig schmetterten sie die neue Nationalhymne der Republik Schkid:

Ost und West und Süd und Nord

hat sich hier gefunden.

Eintracht ist das Losungswort,

dem wir treu verbunden.

Schluß mit der Vergangenheit!

Lernend nützen wir die Zeit

für das neue Leben,

für das neue Leben!

Es war nicht gerade der richtige Zeitpunkt für solchen Gesang. Oben, in den Schlafräumen, wollten die Jungen eben einschlafen, während hier unten, in dem halbdunklen riesengroßen Saal, drei Kehlen unbarmherzig ihre Stimmbänder strapazierten in dem Bestreben, sich gegenseitig zu überschreien.

Schule, du bist unser Hort,

unsre Mutter! Lehre,

wie man leben soll hinfort

zu der Heimat Ehre.

Vikniksors Baß überdröhnte die kraftvollen Akkorde des Flügels, und die beiden schrillen, schwachen Stimmen sekundierten ihm nicht immer ganz richtig:

Arbeit steht noch viel bevor,

bis sich öffnet uns das Tor,

um uns freizugeben

für den Weg ins Leben.

Als der Gesang beendet war, stand Vikniksor auf und schöpfte Atem. „Das habt ihr gut gemacht!“ sagte er. „Gleich morgen muß die ganze Schule unsere Nationalhymne singen.“ Stolzgeschwellt marschierten Jankel und Japs hocherhobenen Kopfes an dem Erzieher vorbei und verschwanden im Schlaf raum. Am nächsten Tage ochsten sämtliche Schkider an der neuen Nationalhymne der Republik Schkid, und die Namen von Jankel und Japs waren bei den aufgeregten, hingerissenen Zöglingen in aller Munde. Die Hymne hob den Neuling in olympische Höhen, und beide Verfasser wurden die Helden des Tages.

Am Abend, im Eßraum, sang die ganze Schule ihre Nationalhymne unter Vikniksors Leitung bereits im Chor.

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