SASCHA PYLNIKOW

Kosfalmed handelt *Schnell zur Gymnastik! * Die Heilung der Aussätzigen * „Alte Kameraden“ * Himmlisches Manna auf dem Klassenofen * Der Junge mit dem Weibergesicht * Der Pantoffel * Einbrechermanieren Rührmichnichtan.


Es klingelte, die Pause war zu Ende. Kostalmed kam in die Klasse der vierten Abteilung.

„Schnell zur Gymnastik!“

Widerwillig trotteten die Jungen aus dem Zimmer.

„Schnell!“ trieb Kostalmed sie an und klopfte mit seinem runden, polierten Stöckchen.

Japs und Jankel blieben auf ihrem Platz sitzen.

„Was ist mit euch?“ Kostalmed hob fragend die Brauen.

„Wir können nicht“, stammelte Japs mit verzerrtem Gesicht. „Uns tun die Beine weh.“

Kranke Schkider waren auf Anordnung Vikniksors von der Teilnahme am Gymnastikunterricht befreit.

„Zeigt her“, sagte Kostalmed.

Japs hinkte zu ihm hin und hob den bloßen Fuß. Die Ferse war gelb und geschwollen. In der Mitte hatte sich ein abscheulich aussehendes Geschwür gebildet.

„Eiterbeule im letzten Stadium“, erklärte Japs. „Ich komme kaum noch zur Toilette, von der Gymnastik kann gar keine Rede sein.“

„Schön, bleib hier“, antwortete Kostalmed. „Und du?“ Er sah Jankel an.

Jankel kroch beinahe auf allen vieren zu dem Propheten hin. „Ich habe keine Kraft mehr“, krächzte er. „Das verdammte Ding peinigt mich.“

Er schob die Hose hoch. Von der Kniekehle bis zum Becken zog sich eine fürchterliche, rote, blutunterlaufene Schramme. „Wo hast du dir das geholt?“ forschte Kostalmed mit gerunzelter Stirn.

„Beim Holzsägen“, antwortete Jankel. „Mit der Säge. Ich kann nicht laufen, Onkel Kostja, geschweige denn Übungen machen.“

„Bleib hier“, sagte Kostalmed zustimmend und verließ die Klasse.

Jankel schloß hinter ihm die Tür.

„So, Mann“, erklärte er dann. „Jetzt können wir uns wohl heilen.“

Er ging zu seiner Bank zurück, krempelte die Hose auf, spuckte sich in die Hand und wischte die entsetzliche Wunde mit einer einzigen Bewegung ab.

Japs tat das gleiche.

Geheilt setzten sie sich in ihre Bänke. Japs holte ein Buch hervor, Jankel eine angefangene Zeitung.

Jankel hatte sich dieses Mittel zum Gymnastikschwänzen ausgedacht.

Mit seinem Zeichentalent malte er gegen geringes Entgelt kunstvoll Eiterbeulen, Wunden, Geschwüre und anderes mehr. Kostalmed meinte, die Jungen seien tatsächlich krank. Und während er die Treppe zum Gymnastiksaal hinaufging, war sein Herz unter der rauhen Schale eines berufsmäßigen Propheten übervoll von Mitleid mit den unglücklichen Duldern.

Im Gymnastiksaal hatten sich die Jungen schon versammelt. Als Kostalmed eintrat, schlenderten und rannten sie johlend in dem großen Raum umher.

„Auf-Stellung!“ schrie Kostalmed.

Wie Ameisen wimmelten die Jungen durcheinander und bauten sich schließlich der Größe nach in einer geraden Linie auf.

Der erste von rechts war Kaufmann, hinter ihm kamen Zigeuner, Dse und Pantelejew. Hinter Pantelejew stand sonst Jankel, dessen Platz jetzt frei geblieben war.

„Aufrücken!“ kommandierte Kostalmed.

Die Reihe rückte auf.

„Augen… rechts!“

Alle drehten die Köpfe nach rechts, mit Ausnahme von Spatz, der sich aber dann besann und ebenfalls nach rechts blickte. „Worobjow, vortreten!“ befahl Kostalmed. Spatz trat vor.

„Du kriegst eine Eintragung in die 'Chronik'“, verkündete Kostalmed. „Stell dich wieder auf deinen Platz.“

Nachdem der Prophet erreicht hatte, daß die Reihe eine ideal gerade Linie bildete, ließ er sie rechtsum machen.

Bessowestin, ein Schüler aus der dritten Klasse, der gut Klavier spielte, wenn es auch mit dem Lernen bei ihm haperte, setzte sich ans Piano. „Im Schritt marsch!“ kommandierte Kostalmed. Bessowestin griff in die Tasten, und drei Dutzend nackte Füße marschierten zu den Klängen des Marsches „Alte Kameraden“ an den Saalwänden entlang.

Sie gingen im Gänsemarsch, vorneweg Kaufmann. Er marschierte besser als die anderen, mit der guten Haltung, die er in der Kadettenanstalt gelernt hatte. In anderen Fächern kam er nicht mit, aber Gymnastik liebte er sehr.

Die übrigen marschierten nicht so schneidig, nur Pantelejew und Zigeuner versuchten es Kaufmann gleichzutun, wienn auch ohne Erfolg.

Spatz, der eine Eintragung in die „Chronik“ bekommen hatte, war ungezogen. Er ging nicht im gleichen Schritt und Tritt, und wenn er hinter Kostalmed war, zeigte er ihm einen Vogel oder streckte ihm die Zunge raus.

„Links! Links!'' kommandierte Kostalmed und schlug mit seinem polierten Stöckchen den Takt. 'Links! Links! Eins, zwei-eins, zwei…' Die schwache Herbstsonne spiegelte sich in den Quadraten des Parketts und glitt in weißen Flecken über die marmorierten Wände. 'Zur Gymnastik… auflösen!' Kaufmann ging bis zur Mitte der Wand und bog dann scharf nach links.

An der gegenüberliegenden Wand bogen die Jungen abwechselnd nach rechts und links, um zu zweit, dann zu viert nebeneinander zu marschieren.

'Halt! Abteilung… auflösen!'

Die Jungen verteilten sich auf den Quadraten des Parketts wie Figuren auf einem Schachbrett. 'Rührt euch!'

Kaufmann setzte einen Fuß vor und legte die Hände auf den Rücken. Die übrigen standen, wie es gerade kam. Viele zogen sich die beim Marschieren hinuntergerutschten Hosen hoch, richteten den Gürtelriemen, schneuzten sich oder husteten. 'Stillgestanden! Erste Übung! Los!' Bessowestin spielte einen Walzer.

Und zum Takt von Kostalmeds Stöckchen machten die Jungen verschiedene Turnübungen und schwedische Gymnastik.

'Ich hab' Kohldampf', konstatierte Japs und klappte das Buch zu.

Jankel sah von dem Pferd, das er gerade malte, zu Japs und erwiderte:

'Ja, was zum Futtern war nicht übel.'

'Hast du was?'

Jankel winkte ab.

'Am Donnerstag? Wenn ich was hätte, dann hätte ich das schon längst verdrückt, Junge.'

Niedergeschlagen guckte er in sein leeres Bankfach, suchte dann in den anderen Bänken, aber überall gab es nichts.

'Wenn wir doch wenigstens einen Brotkanten fänden.'

Plötzlich schlug sich Japs an die Stirn.

'Ich hab' eine Idee! Weißt du noch, wie Hühnchen uns erzählte, in seiner Klasse lägen auf dem Ofen…'

Jankel sprang auf. 'Tatsache, prima Idee!' Sie rannten zum Ofen und reckten die Köpfe. 'Verdammt!' seufzte Jankel. 'Wie sollen wir da raufkommen?'

'Los, laß mich aufsitzen. Ich klettere dir auf die Schultern.' 'Klar.'

Jankel bückte sich und stützte die Hände auf die Knie. Japs erklomm seine Schultern. 'Richte dich etwas auf.' Jankel stellte sich auf die Zehenspitzen. 'Es langt.'

Japs klammerte sich an das Ofensims und spähte in die staubige Vertiefung.

'Na, was ist?' fragte Jankel, die Blicke auf den schmutzigen Fußboden geheftet.

Japs tastete in der Vertiefung herum. Dann ertönte ein Freudenschrei.

'Das ist was!'

'Was?'

'Eine weiße Semmel… noch eine… ein Stück Zucker… Brot… eine Menge Brotreste.'

'Los, wirf sie runter!'

Etwas Steinhartes fiel auf den Fußboden. Dann prasselte ein Steinregen.

Es waren die verschimmelten, hart gewordenen Überreste von Frühstücksbroten, die einstmals von den satten Schülern der Handelsschule auf den Ofen geworfen worden waren. Das letzte Fundstück — eine Semmel mit einer daran klebenden Wurstscheibe, die sich in eine Art Steinkohle verwandelt hatte — knallte zu Boden. Japs wollte gerade von Jankels Schultern springen, als der Ruf ertönte: 'Was ist hier los?'

Jankel fuhr vor Überraschung zusammen, ließ die Hände sinken, und die Pyramide stürzte in sich zusammen. In der Klassentür stand Vikniksor, neben ihm ein etwa fünfzehnjähriger Junge mit breitflächigem Weibergesicht und abstehenden harten Haaren. Er trug eine graue Jacke, die von einem Riemen mit silberner Gymnasiastenschnalle umgürtet war.

'Was soll das?' fragte Vikniksor noch einmal. 'Wo ist die Klasse?'

'Beim Turnen', antwortete Jankel leise. 'Und ihr?'

'Uns tun die Beine weh', stammelte Jankel beinahe flüsternd. Vikniksor runzelte die Stirn.

'Die Beine? So… Und warum seid ihr auf den Ofen geklettert? Um euch auszukurieren?'

Die Gegner der Turnübungen und der schwedischen Gymnastik schwiegen.

'Beide in die fünfte Gruppe!' erklärte Vikniksor. 'Und jetzt marsch nach oben.'

In Begleitung Vikniksors und des Unbekannten mit dem Weibergesicht stiegen die Freunde treppauf. Im Gymnastiksaal marschierten die Jungen wieder. Bessowestin spielte einen Marsch zum Text des bekannten Liedes:

Ein großes Krokodil,

das kam herbei vom Nil,

marschierte durch die Stadt,

weil's solchen Hunger hat.

'Halt! Stillgestanden!' kommandierte Kostalmed bei Vikniksors Erscheinen.

Die Jungen machten halt. Vikniksor ging zu Kostalmed. 'Weshalb sind Tschornych und Jeonin in der Klasse geblieben?' fragte er laut.

'Sie sind krank, Viktor Nikolajewitsch', antwortete der Lehrer. Vikniksor runzelte die Stirn. 'Das stimmt nicht, sie sind vollkommen gesund.'

'Unmöglich, Viktor Nikolajewitsch! Ich habe es selbst gesehen…' 'Ich sage Ihnen doch, daß sie gesund sind.' Vikniksor drehte sich zur Klasse um. 'Jungen, Jeonin und Tschornych kommen in die fünfte Gruppe, weil sie eine Krankheit simuliert und den Unterricht geschwänzt haben. Das soll euch eine Lehre sein. Von nun an müssen die Kranken eine Bescheinigung des Sanitäters vorzeigen.' Jankel und Japs hatten sich bereits eingereiht. Der Unbekannte in der grauen Jacke war an der Tür stehengeblieben. Vikniksor besann sich auf ihn.

'Das ist euer neuer Kamerad Pawel Jelchowski', stellte er vor. 'Jelchowski, stell dich in die Reihe.'

Verwirrt und unentschlossen ging der Neue auf die Jungen zu. 'Reih dich hinter Tschornych ein', sagte Kostalmed. Die Jungen rückten auseinander, und Jelchowski stellte sich hinter Jankel. Japs kam hinter ihm. Vikniksor winkte Kostalmed und verließ den Saal. 'Wie heißt du, Halunke?' fragte Japs den Neuen. 'Warum bin ich ein Halunke?' erkundigte sich der Junge erstaunt. Seine Stimme klang dünn und merkwürdig piepsig. 'Warum?' wiederholte Japs. 'Weil wir deinetwegen reingerasselt sind, du Schwein. Wärst du nicht gekommen, wäre nichts passiert.'

'Das ist unlogisch', piepste Jelchowski. 'Ich hab' keine Schuld daran.'

'Unlogisch, ach nee! Sitz du erst mal in der fünften Gruppe!' mischte sich Jankel ein. Er hatte nicht einmal die Brotreste wegstecken können und malte sich schon das zweifelhafte Vergnügen aus, fünf Wochen lang ohne Urlaub und infolgedessen auch ohne zusätzliche Verpflegung im Heim hocken zu müssen.

Kostalmed kam in den Saal zurück. Er machte ein wütendes Gesicht — offenbar hatte er vom Chef einen Tadel bekommen. 'Stillgestanden!'

Wieder marschierte die Klasse rund um den Saal. Wieder spielte Bessowestin den Marsch:

…fand 'nen Chinesenkopf,

den packte es am Zopf

und fraß sich daran satt,

weil's solchen Hunger hat.

Japs kochte vor Wut. Er wußte, daß er allein an dem Zwischenfall schuld war, aber er mußte seinen Zorn an jemandem auslassen, und deshalb nahm er sich den Neuen vor. Er trat ihm auf den Fuß, daß Jelchowski beinahe die Hausschuhe verlor, undpuffte ihnheimlich in den Rücken. Anfangs wollte sich Jelchowski nicht um die Piesackerei kümmern. Als sie aber überhandnahm, piepste er: ''Laß mich in Ruh'!' Japs wurde noch wütender und rückte dem Neuen immer dichter auf den Pelz. Er trat ihm auf den Schuh, daß Jelchowski hängenblieb, ihm die Schnalle abriß und er den Schuh verlor.

Japs' Benehmen wäre aufgefallen und hätte ihm eine noch empfindlichere Strafe zugezogen, wenn es nicht im selben Augenblick geklingelt hätte.

Die Jungen hatten beim Marschieren gesehen, wie Japs den Neuen piesackte. Jetzt umringten sie ihn.

Er hockte auf dem Boden, über den zerrissenen Schuh gebeugt. Sein Gesicht hatte sich verzogen. Er schien mit den Tränen zu kämpfen. Doch er weinte nicht. Statt dessen begann er zu niesen. Er nieste ganz sonderbar — sein Gesicht verkrampfte sich, und dann brachte er einen überraschend sanften Nieseton hervor: 'Hapsiii!' Er nieste häufig, in gleichmäßigen Abständen. Die Jungen standen verständnislos und neugierig um ihn herum.

'Was hat er denn?' fragte Japs erschrocken. 'Er niest', teilte Jankel mit. 'Das sehe ich, aber weshalb niest er?'

'Vielleicht aus Gewohnheit… so was ist erblich.'

'Ein Nieser', konstatierte einer.

Kaufmann bückte sich und schnippte Jelchowski schmerzhaft auf den Nacken. Da legte sich Ljonka Pantelejew ins Mittel. 'Warum verspottet ihr ihn?' fragte er. 'Dich hat man nicht so geschunden, Kaufmann, als du ein Neuer warst!' Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus.

'Das ist überhaupt nicht komisch', beharrte Pantelejew errötend. 'Ihr habt keinen Grund, mit eurer Humanität und eurer Freundlichkeit zu den Neuen zu prahlen, wenn ihr sie trotzdem prügelt. Stimmt das nicht?'

Niemand antwortete. Alle schwiegen, und bekanntlich kann das Schweigen Zustimmung ausdrücken.

Jelchowski hatte den zerrissenen Hausschuh inzwischen übergestreift und war aufgestanden. Er nieste zum letzten Male, sah die Jungen traurig an und heftete dann seinen dankbaren Blick auf Pantelejew. Als sie in die Klasse zurückgingen, trat Pantelejew im Korridor auf den Neuen zu. 'Wir wollen Blutsbrüder sein', sagte er. 'So werden hier die Freunde genannt. Wir wollen Freunde sein… ja?'

Jelchowski nickte wortlos. Pantelejew hielt ihm die Hand hin, und der Neue drückte sie herzhaft.


Pawel Jelchowski war in Smolensk geboren.

Sein Vater, Lehrer an der Elementarschule, gehörte zu den Menschen, die bei der alten Obrigkeit unbeliebt waren. Die Obrigkeit mochte allzu kluge, verschlossene und frei denkende Leute nicht. Pawels Vater war klug und frei denkend: Er gehörte zum sozialistischen Zirkel des Ortes. Deshalb wurde er von seinen Lehrpflichten entbunden, einfacher ausgedrückt — er wurde hinausgeworfen. Seitdem widmete er sich gänzlich der revolutionären Sache. Die Familie hungerte, die Kinder verwilderten. Der Vater suchte Arbeit, konnte aber keine finden. Die Mutter ging in Herrschaftshäuser waschen und scheuerte dort die Fußböden. Pawel verlebte eine freudlose Kindheit. Im Jahre 1917 wurde sein Vater auf der Straße von Kosaken ermordet. Pawel lebte eine Zeitlang bei der Mutter, dann gab sie ihn in ein Heim. Dort blieb er bis zum Jahre 1921. Sein älterer Bruder, ein Roter Kommissar, fuhr nach Petrograd zur Kriegsakademie und holte nach einem halben Jahre die Familie — Mutter, Schwester und den kleinen Pawel — zu sich. Nur einen Monat blieb Pawel bei ihm. Er randalierte wie wild, denn er war Hysteriker. Anfangs versuchte sein Bruder auf ihn einzuwirken. Als das nichts fruchtete, wandte er sich an die Abteilung Volksbildung. So kam Pawel in die Schkid. Sie empfing ihn feindselig. Als sie ihn aber später näher kennenlernte, liebte sie ihn wohl mehr als jeden anderen. Er war ein gutmütiger, ungewöhnlich warmherziger, nach Schkider Begriffen ehrenhafter Junge, und vor allem — er randalierte gern. Und das Randalieren wurde von den Schkidern bekanntlich abgöttisch verehrt. Am Tage nach Jelchowskis Ankunft sollten die Schkider ihre allwöchentliche Pilgerfahrt in die Badeanstalt machen. Alle vier Abteilungen hatten sich zum Namensaufruf im Saal aufgestellt. Nur der Neue fehlte. Alnikpop wurde ausgesandt, ihn zu suchen. Er kam nach kurzer Zeit wieder, ging zu Vikniksor und sprach mit ihm. Vikniksor wurde rot und rannte in die vierte Abteilung. Pawel Jelchowski saß auf seinem neuen Platz hinter Pantelejews Bank und las. Bei Vikniksors Eintritt hob er nicht einmal den Kopf. Vikniksor blieb einen Augenblick verdutzt stehen. 'Aufstehen!' rief er. Jelchowski sah ihn an, legte das Buch weg, blieb aber sitzen.

'Du sollst aufstehen!' brüllte der Direktor.

['was schreien Sie mich an!“ sagte Pawel gelassen, stützte die Hände auf den Pultdeckel und erhob sich.

„Weshalb gehst du nicht nach oben?“ forschte Vikniksor zornig und ging zu Pawels Bank.

„Was soll ich da?“ fragte der Junge zurück, ohne sich von der Stelle zu rühren.

„Was du da sollst? In die Badeanstalt gehen. Alle sind schon oben, nur du treibst dich noch hier herum. Bilde dir nicht ein, daß du bei uns machen kannst, was du willst. Keine Widerrede bitte, marsch nach oben!“

„Fällt mir nicht ein“, versetzte Pawel, ließ sich auf die Bank sinken und griff nach seinem Buch.

Wie ein Tiger stürzte Vikniksor auf ihn und krallte sich in seine Schultern.

„Nein, du gehst, und zwar sofort!“ brüllte er und zerrte Pawel aus der Bank.

Pawel setzte sich zur Wehr. Der Lärm lockte Lehrer und Schüler herbei.

„Ich will dir zeigen, wer hier zu bestimmen hat“, keuchte Vikniksor und versuchte, den Jungen auf den Korridor zu stoßen. Rot und zerzaust riß sich Pawel los. „Schuft!“ grölte er. Dann verzog sich sein Gesicht, und er brach in Tränen aus. Vikniksor war ebenso rot und zerzaust. Er hob den Kopf und rang nach Atem.

„In die fünfte Gruppe!“ stieß er hervor. Dann verließ er die Klasse. Dieser Zwischenfall machte den Neuen berühmt. Niemand wußte, weshalb er sich geweigert hatte, in die Badeanstalt zu gehen, und weshalb er dabei so randaliert hatte. Doch gerade das war ja für die Schkider höchstes Heldentum: zu randalieren um des Randalierens willen. Von diesem Augenblick an tat ihm niemand mehr etwas zuleide, obgleich das ganz gefahrlos gewesen wäre; denn er war schwächlich. Er bekam nur selten und immer aus unerfindlichen Gründen seine Wutanfälle, und auch das nur gegenüber den Vorgesetzten. Damals schwärmte die vierte Abteilung gerade für die Bücher Fjodor Sologubs. In einem Roman des seinerzeit bekannten Schriftstellers kommt Sascha Pylnikow vor, ein weibischer Junge. Japs wies die Klassenkameraden auf Jelchowskis Ähnlichkeit mit dieser Figur hin. Seitdem wurde Pawel nicht mehr „Nieser“ genannt, wie bisher, sondern „Sascha Pylnikow“.

Später hieß er außerdem noch „Rührmichnichtan“, „Baby“, „Postillion“. Meistens wurde er aber Sascha gerufen. Viele Jungen wußten nicht einmal daß sein wirklicher Name Pawel lautete.

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