Ein Griesgram „Eule“ * Plätzchen für Vikniksor * Nonne in Hosen * Einer gegen alle * „Der Heilige Geist“ Der Neue kommt hinter Gitter * Ljonkas Kindheit * Versöhnung Lorbeeren vertreiben den Schlaf.
Kurz nach dem Brand bekam die Republik Schkid einen neuen Bürger. An einem Wintermorgen erschien dieser griesgrämige junge Mann am Schkider Horizont. Im Gegensatz zu vielen anderen wurde er nicht hergebracht, sondern kam allein. Er klopfte ans Tor, und der Pförtner Meftachudyn ließ ihn ein, nachdem er festgestellt hatte, daß der untersetzte Junge mit den hervorstehenden Backenknochen und den dicken Augenbrauen eine Einweisung der Kommission für Minderjährige in Händen hielt.
Auf dem Hofe sägten die Schkider gerade unter Vikniksors Leitung Holz. Der Junge fragte nach Viktor Nikolajewitsch, ging zu ihm hin und zeigte verlegen das Schreiben vor.
„Aha, Pantelejew?“ Vikniksor lächelte spöttisch, während er das Schreiben überflog. „Ich habe schon von dir gehört. Man sagte mir, daß du Verse schmiedest? Macht euch bekannt, Jungens, das ist Alexej Pantelejew, euer neuer Kamerad. Übrigens ein Poet.“ Diese Empfehlung beeindruckte die Schkider nicht besonders. Fast sämtliche Bürger der Republik schrieben Gedichte, beginnend bei Vikniksor, den bekanntlich einst Alexander Block beneidet und nachgeahmt hatte. Mit Gedichten konnte man die Schkider nicht so leicht verblüffen. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn der Neue Degen verschluckt oder auf dem Kontrabaß gespielt, wenn er wenigstens eine irgendwie auffallende Vergangenheit gehabt hätte. Ein Degenschlucker war er jedoch keinesfalls, und was seine Vergangenheit betraf, so war es vollständig unmöglich, etwas aus ihm herauszubekommen, wie die Schkider sehr bald feststellten.
Es war ein ungewöhnlich schüchterner und wortkarger Bursche. Auf Fragen antwortete er nur „ja“ oder „nein“, oder er schüttelte bloß brummend den Kopf.
„Weswegen bist du hergekommen?“ erkundigte sich Kaufmann, als der Neue seine Privatsachen gegen die Anstaltskleidung eingetauscht hatte und nun mit finster gerunzelter Stirn über den Korridor schlenderte.
An Stelle einer Antwort sah Pantelejew den neuen Kameraden nur ärgerlich an und errötete wie ein kleines Mädchen. „Warum bist du in die Schkid gekommen?“ wiederholte Kaufmann. „Ich bin eben hier — wird schon seinen Grund haben“, brummte der Neue kaum hörbar.
Es war schwierig, ihn zum Sprechen zu bringen. Niemand versuchte es mehr. Farbloser Durchschnitt! stellten die Schkider fest. Sogar ein bißchen stur. Sie wunderten sich etwas, als der Neue nach der üblichen Prüfung sogleich in die vierte Abteilung eingeschult wurde. Doch beim Unterricht in der Klasse tat er sich ebenfalls nicht hervor. Er antwortete recht und schlecht; wenn der Lehrer ihn an die Tafel rief, errötete er verlegen, sagte lange Zeit gar nichts und gestand dann, ohne den Lehrer anzusehen: „Ich weiß nicht mehr… hab's vergessen.“ Nur in den Unterrichtsstunden für Russisch wurde er etwas lebhafter. In der Literatur kannte er sich aus.
In der Schkid war es üblich, daß die Neuen — unabhängig von ihrem Verhalten — in den ersten beiden Wochen keinen Urlaub bekamen. Aber Besuch von Verwandten durften sie empfangen. Im Sommer saßen die Jungen mit ihren Angehörigen auf dem Hofe, sonst im Weißen Saal. Am ersten Sonntag besuchte niemand den Neuen. Fast den ganzen Tag stand er geduldig auf dem Treppenabsatz an dem großen Fenster, das auf den Hof ging. Man konnte ihm ansehen, wie sehr er auf jemanden wartete. Aber niemand kam. Am nächsten Sonntag ging er nicht mehr ins Treppenhaus. Bis zum Abend saß er in der Klasse und las ein Buch, das er sich aus der Bibliothek entliehen hatte — Leonid Andrejews Erzählungen. Vor dem Abendessen, als die Urlauber bereits zurückkehrten, steckte der Diensthabende den Kopf in die Klasse: „Pantelejew, Besuch!“ Errötend sprang Pantelejew auf, ließ das Buch fallen und rannte mit unverhohlener Erregung aus dem Raum.
Im halbdunklen Flur standen an der Küchentür eine schwermütige, verweinte Dame mit einem Trauerhut und ein stupsnäsiges zehn- oder elfjähriges Mädchen. Der Diensthabende, der mit den Schlüsseln an der Haustür stand, sah, daß sich der Neue verlegen umblickte, bevor er Mutter und Schwester küßte und sie dann sogleich in den Weißen Saal zog. Dort führte er sie in die entfernteste Ecke und hieß sie auf der Bank Platz nehmen. Und nun entdeckten die Schkider zu ihrem Erstaunen, daß der Neue nicht nur reden, sondern auch lachen konnte. Zwei- oder dreimal brach er bei einem Bericht seiner Mutter in schallendes Gelächter aus. Doch nachdem Mutter und Schwester fortgegangen waren, verwandelte er sich wieder in den griesgrämigen Menschenfeind. In die Klasse zurückgekehrt, setzte er sich an seinen Platz und vertiefte sich erneut in sein Buch.
Kurz darauf trat Spatz zu ihm. Er hatte keinen Urlaub bekommen, weil er in der fünften Gruppe steckte.
„Hast du was zu futtern?“ fragte er und lächelte den Neuen etwas verkrampft an.
Pantelejew holte eine schmuddelige Kohlpastete aus seinem Fach, brach die Hälfte ab und gab sie Spatz. Dabei sagte er nichts. Er reagierte nicht einmal auf das Lächeln. Das war beleidigend. Deshalb fühlte sich Spatz nicht zu Dank verpflichtet, als er die Gabe in Empfang nahm.
Vielleicht wäre der Neue auch weiterhin unbemerkt geblieben, wenn nicht ein Ereignis die ganze Schule gegen ihn aufgebracht hätte.
Fast gleichzeitig mit Pantelejew war noch eine Person in die Schkid gekommen; sie gehörte weder zu den Zöglingen noch zu den Propheten. Es war Vikniksors Mutter, eine gebrechliche alte Frau, die — wer weiß, woher — eingetroffen war und sich in seiner Wohnung niedergelassen hatte. Sie war beinahe blind. Die Schkider, die — einzeln genommen — gutmütig, feinfühlig und teilnahmsvoll sein konnten, aber in ihrer Gesamtheit von erbarmungsloser Grausamkeit waren, hatten die alte Frau deshalb „Eule“ getauft. Sie war ein harmloses Wesen. Nur selten verließ sie Vikniksors Wohnung. Zweimal am Tag sahen die Schkider, Avie sie sich, einen Topf oder eine Pfanne in einer Hand, mit der anderen an der Wand entlang zur Küche oder wieder zurück tastete. Waren Vikniksor oder sonst ein Prophet nicht in der Nähe, dann rannten die Strolche aus der ersten Abteilung an ihr vorbei, um ihr ins Ohr zu schreien: „Da kriecht die Eule! Huhu! Die Eule!“ Aber die alte Frau schien nicht nur blind, sondern auch taub zu sein. Ohne sich um das wilde Geschrei zu kümmern, setzte sie ihrenmühseligen Weg fort, ein sanftes Lächeln auf dem grauen, zerfurchten Gesicht. Eines Tages verbreitete sich in der Schkid das Gerücht, Eule backe in der Küche prachtvolle Plätzchen. Es war am Ende der Woche, als die Jungen ihre häuslichen Vorräte bereits aufgegessen hatten und vom Heißhunger geplagt wurden. Eine besonders große Rolle spielte der Hunger bei dem mageren Japs, der in Petrograd keine Angehörigen hatte und deshalb nur auf die Anstaltskost und die freiwilligen Spenden seiner Kameraden angewiesen war.
Während die Eule mit Unterstützung der Köchin Maria am Herd herumwirtschaftete, drängten sich die Jungen an der Küchentür. Das Wasser lief ihnen im Munde zusammen. „Wie das duftet!“ seufzten sie neidisch. „Das werden aber Plätzchen!“
„Toll!“
„Vikniksor hat's gut! Der kriegt feine Sachen zu essen!“
Japs war außer Rand und Band. Er flitzte in die Küche, schnupperte gierig den appetitlichen Duft des gebackenen Butterteigs und lief händereibend in den Korridor zurück. „Leute!“ sprudelte er hervor. „Ich hält's nicht mehr aus! Mit Öl und Butter! Ohne Ersatzstoffe!“
Er rannte wieder in die Küche, kniete hinter dem Rücken der Eule nieder, hob die Arme gen Himmel und grölte: „Vikniksor! Lukull! Ich beneide dich! Ich sterbe vor Sehnsucht! Mein halbes Leben für ein Plätzchen!“
Die Jungen lachten. Wie ein Hanswurst verneigte sich Japs bis zur Erde vor der alten Frau, die nichts davon bemerkte. „Mutter des Augustus!“ schrie er. „Witwe des Porphyren! Ich bete dich an!“
Schließlich jagte Marta ihn hinaus.
Aber Japs war schon zu sehr in Fahrt, um innehalten zu können. Als die Eule zehn Minuten später mit einer Schüssel dampfender Plätzchen über den Korridor ging, sprang er lautlos auf sie zu und stiebitzte ihr ebenso lautlos ein heißes Plätzchen von der Schüssel. Das war für die Schkider ein Signal. Seinem Beispiel folgten zuerst Jankel, Zigeuner und Spatz, dann die übrigen. Der Weg der alten Frau führte über den Korridor, durch das Treppenhaus und den Weißen Saal. Überall standen graue, lautlose Schatten. Sie stützte sich mit der linken Hand gegen die glatte Alabasterwand, während sie langsam über das Parkett des Weißen Saales schlurfte, und mit jedem Schritt schmolz das Häuflein appetitanregender Plätzchen in der blauen Porzellanschüssel zusammen. Als die Eule die Wohnungstür öffnete, waren auf der blauen Schüssel nur noch Fettflecke.
Die Schkider hatten sich in ihre Klassen zerstreut. Die vierte Abteilung dröhnte vor Gelächter. Japs stopfte das fünfte oder sechste Plätzchen in den Mund, leckte sich die fettigen Finger ab und spielte seinen ausgelassenen Kameraden vor, wie die Eule mit der leeren Schüssel in die Wohnung kommt und Vikniksor sich in Erwartung eines leckeren Frühstücks genießerisch die Hände reibt. „Iß doch, mein lieber Vitja! Das habe ich für dich gebacken, Söhnchen!“ äffte Japs die alte Frau nach. Dann reckte er den mageren Hals und verdrehte die Augen — so ein Gesicht würde der erschrockene, verdutzte Vikniksor machen.
Die Jungen hielten sich vor Lachen den Bauch. Ihre Augen und Zähne blitzten. Aber ganz unbesorgt war das Gelächter nicht. Sie wußten, daß ihr Streich böse Folgen haben, daß dem Verbrechen die Strafe auf dem Fuße folgen würde.
Da bemerkte jemand, daß der Neue mit gerunzelter Stirn an der Tür stand und die Szene ohne zu lächeln betrachtete. Nur er hatte keine fettigen Lippen, nur er hatte die Plätzchen der Eule nicht angerührt. Und dabei hatten viele Jungen ihn an der Küchentür stehen sehen, als die alte Frau den Raum verließ. „Was starrst du uns an?“ fragte Zigeuner. „Du Gaffer! Hast du etwa kein Plätzchen erwischt?“
„Geht alle zum Teufel“, brummte der Neue.
„Was?“ fuhr Spatz auf ihn los. „Warum sollen wir zum Teufel gehen?“
„Weil das eine Roheit ist!“ entgegnete der Neue errötend. Seine Lippen zitterten. „Schöne Helden seid ihr: Fallt über eine alte Frau her.“ In der Klasse wurde es still.
„So?“ Zigeuner baute sich finster vor Pantelejew auf. „Geh doch zu Vikniksor — petzen.“ Pantelejew schwieg. „Geh! Versuch's doch mal!“
„So ein Halunke! Hund!“ kreischte Spatz und holte gegen den Neuen aus. Pantelejew packte ihn am Arm und stieß ihn zurück. Und obgleich er Spatz und nicht Japs zurückgestoßen hatte, heulte Japs auf und sprang auf die Bank.
„Bürger! Achtung! Ruhe!“ brüllte er. „Leute! Ein einmaliges Ereignis in der Geschichte unserer Republik: In unseren Reihen ist ein Engel aufgetaucht, eine Nonne in Hosen, eine Büßerin aus einem Pensionat für adlige Jungfrauen…“
„Idiot!“ knurrte Pantelejew. Er hatte es leise gesagt, aber Japs war das Wort nicht entgangen. Seine kleine rote Nase färbte sich noch tiefer. Er blieb einen Augenblick lang schweigend auf der Bank stehen, sprang dann zu Boden und trat vor Pantelejew hin. „Du stellst dich also gegen die Klasse, mein Freund? Horchen wolltest du?“ Er drehte sich zu den anderen um. „Jungens! Hat jemand noch ein Plätzchen?“
„Ich!“ Der sparsame Brotkanten holte ein zerdrücktes, mit Tabakkrümeln beschmiertes Plätzchen aus der Tasche. „Gib es her!“ Japs nahm das Plätzchen und hielt es Pantelejew hin.
„Iß!“
Der Neue wich zurück und preßte die Lippen aufeinander. „Essen sollst du!“ Japs war blutrot geworden. Er wollte dem Neuen das Gebäck in den Mund stopfen.
Pantelejew stieß seine Hand weg.
„Hau ab!“ sagte er sehr leise und griff nach der Türklinke. „Nein, so kommst du nicht davon!“ kreischte Japs noch lauter. „Auf ihn, Jungens!“
Mehrere stürzten sich auf den Neuen, einer schlug ihm die Füße weg, er fiel zu Boden. Zigeuner und Kaufmann hielten ihm die Hände fest, und Japs stopfte ihm keuchend das schmutzige, fette Plätzchen in den Mund. Der Neue riß sich los und schlug Japs mit dem Kopf gegen das Kinn.
„Ach, prügeln willst du dich?“ brüllte Japs.
„So ein Schuft!“
„Du brauchst wohl Keile, he?“
„Gebt ihm den Heiligen Geist!“
„Los!“
Pantelejew wurde in einen Winkel der Klasse gezerrt und bekam einen Mantel über den Kopf geworfen. Dann ging das elektrische Licht aus, und in der nun eingetretenen Stille prasselten dem widerspenstigen Neuen die Schläge auf den Kopf.
Niemand merkte, daß sich die Tür öffnete. Grell flammte das Licht auf. Mit blitzendem Zwicker stand Vikniksor auf der Schwelle und sah die Jungen drohend an.
„Was geht hier vor?“ Sein Bariton klang laut, aber unheilverkündend ruhig.
Die Jungen waren rechtzeitig auseinandergeflitzt. Nur Pantelejew saß noch vor der Tafel auf dem Fußboden und wischte sich die Stupsnase, aus der das Blut rieselte. Es vermischte sich mit den Tränen und den Krümeln des verhängnisvollen Plätzchens, die ihm am Kinn klebten.
„Ich frage, was hier vorgeht?“ wiederholte Vikniksor noch lauter. Wortlos standen die Jungen auf ihren Plätzen. Vikniksors Blick fiel auf Pantelejew, der sich erhoben hatte, ihm den Rücken kehrte, seine Jacke glattzog und sich Tränen und Krümel vom Mund leckte. Vikniksor musterte ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Er schien etwas zu begreifen, denn er lächelte verächtlich. „Na, komm mal mit!“ befahl er dem Neuen.
Pantelejew hörte das nicht, wandte aber den Kopf und sah den Direktor an.
„Du! Du sollst mitkommen, sage ich.“
„Wohin?“
Vikniksor wies mit dem Kopf auf die Tür und ging hinaus. Pantelejew folgte. Er zog sich dabei noch einmal die Jacke zurecht, sah aber die Jungen nicht an. Sie warteten einen Augenblick, warfen sich einen Blick zu und stürzten in wortlosem Einverständnis hinterher. Durch die halboffene Tür des Weißen Saales sahen sie, daß Vikniksor die Tür zu seiner Wohnung öffnete, den Neuen eintreten ließ und die hohe weiße Tür wieder zuschlug. Die Jungen blickten sich noch einmal an. „Jetzt petzt er — Tatsache!“ seufzte Spatz.
„Klar!“ pflichtete ihm Brotkanten finster bei. Er litt sowieso unter dem Verlust seines letzten Plätzchens.
„Na, wenn schon. Er ist sogar im Recht, wenn er petzt“, meinte Jankel. Er war der einzige, der nicht mitgemacht hatte, als der Neue den Heiligen Geist bekam.
Aber unabhängig davon, wie jeder die moralische Standfestigkeit des Neuen einschätzte, war allen trübe und schauderhaft zumute. Plötzlich passierte etwas vollkommen Unbegreifliches. Die hohe weiße Tür flog krachend auf, und den Augen der verdatterten Schkider bot sich ein Schauspiel, das sie niemals erwartet hätten: Vikniksor zerrte den blassen, blutbeschmierten Pantelejew am Schlafittchen heraus, schleifte ihn durch den ganzen großen Saal und brüllte, daß es durch die Schule schallte: „He! Aufseher, Diensthabender! Holt den diensthabenden Erzieher her!“
Aus dem Lehrerzimmer lief bereits der verschlafene, verschreckte Reibeisen herbei.
„Was ist, Viktor Nikolajewitsch?“
„In den Karzer!“ krächzte Vikniksor keuchend und wies auf Pantelejew. „Sofort! Für drei Tage!“
Aufgeregt rannte Reibeisen davon, um die Schlüssel zu holen, und fünf Minuten später saß der Neue bereits in dem engen Karzer — dem einzigen Raum der Schule, der ein mit dicken Eisenstäben vergittertes Fenster hatte.
Die Schkider waren starr und stumm vor Staunen. Doch noch verblüffender fanden sie Vikniksors Rede, die er ihnen nach dem Abendessen hielt. „Jungen!“ begann er beim Eintreten und machte einige lange, abgehackte Schritte quer durch den Raum — das pflegte bekanntlich die innere Erregung des Schkider Präsidenten zu verraten —, „Jungen, heute wurde in unserer Schule eine empörende Gemeinheit verübt. Ich sage euch ganz offen, daß ich diese Angelegenheit mit Schweigen übergehen wollte, weil sie mich persönlich und einen mir nahestehenden Menschen betrifft. Doch danach passierte etwas anderes, nicht weniger Abscheuliches. Ihr wißt, wovon und von wem ich rede. Einer von euch — seinen Namen nenne ich nicht, er ist euch allen bekannt — hat ein widerwärtiges Verbrechen begangen. Er kränkte einen alten, hilflosen Menschen. Ich wiederhole, daß ich eigentlich nicht mehr näher darauf eingehen wollte. Doch danach wurde ich Zeuge einer noch verabscheuungswürdigeren Tat. Ich sah, daß ihr euren Kameraden verprügeltet. Ich begreife euch, Jungens, ich teile sogar in gewissem Maße eure Empörung, aber- man muß doch maßhalten können. Wie schändlich Pantelejew auch gehandelt haben mag, es ist eurer unwürdig, euer Mißfallen mit so wilden barbarischen Mitteln auszudrücken, ein Lynchgericht zu veranstalten, sich also genauso zu benehmen wie die Nachfahren der amerikanischen Sklavenhalter. Denn ihr seid Sowjetmenschen und außerdem schon beinahe erwachsen…“ Vikniksor frönte noch lange seiner Lieblingsbetätigung — dem Reden. Er verbreitete sich darüber, daß man gerecht sein müsse. Pantelejew habe eine dunkle Vergangenheit hinter sich. Er sei von der Straße verdorben, habe in Gefängnissen und Resserungsanstalten gesessen und sich in schlechter Gesellschaft — unter Dieben und Banditen — befunden. Das alles müsse man berücksichtigen, bevor man sozusagen das Urteil fälle. Außerdem sei er vielleicht hungrig gewesen, als er die niedrige, unwürdige Tat beging. Kurz, man müsse ihn nachsichtig behandeln und nicht den ersten Stein auf ihn werfen, ohne die Motive seines Verbrechens genau zu kennen. Und die Jungen sollten sich zu gegenseitigem Verständnis und zu Standhaftigkeit erziehen… Lange redete Vikniksor, aber die Schkider hörten nicht mehr zu. Unmittelbar nach dem Abendessen versammelten sich die Großen in der vierten Abteilung. Sie waren aufgeregt, ja kopflos.
„Trotzdem ist er eine Nonne in Hosen!“ rief Zigeuner, kaum daß er die Schwelle überschritten hatte. „Hm ja“, brummte Jankel vielsagend.
„Was ist denn nun, Leute?“ forschte Kaufmann. „Er hat uns also nicht verpfiffen?“
„Nee, hat er nicht — Tatsache!“ bestätigte Spatz.
„Setzen wir einmal voraus, daß es keine Tatsache, sondern eine Hypothese ist“, erklärte Japs gewichtig. „In diesem Fall möchte ich wissen, wieso Vikniksor ihn in dieser Situation noch verteidigt!“
„Halt lieber die Klappe, Japs“, sagte Jankel ernsthaft. „Du hast auf keinen Fall das Recht, deinen Senf dazuzugeben.“ Japs errötete, brummte etwas Giftiges vor sich hin, hielt aber trotzdem den Mund.
Vor dem Einschlafen schlichen mehrere Mann zum Karzer. Das gelbliche Licht einer fünfkerzigen Glühbirne fiel aus dem Schlüsselloch. „Pantelei, schläfst du schon?“ fragte Jankel halblaut. Drinnen knarrte die Eisenpritsche, aber es erfolgte keine Antwort. „Pantelej, Ljonka!“ flüsterte Zigeuner durch das Schlüsselloch. „Sei nicht mehr böse darüber, ja? Weißt du, entschuldige uns. Wir haben einen Fehler gemacht, weißt du.“ „Gut… geht zum Teufel“, sagte drinnen Ljonka mit dumpfer Stimme. „Laßt mich schlafen.“
„Pantelei, hast du vielleicht Hunger?“ fragte Brotkanten. „Nein“, klang es energisch zurück. Zögernd verzogen sich die Jungen.
Später sammelten sie trotzdem unter sich und brachten dem stolzen Gefangenen mehrere Kanten Brot und ein Stück Zucker. Weil diesmal undurchdringliches Schweigen im Karzer herrschte, schoben sie die bescheidene Gabe unter der Tür hindurch. Auch danach knarrte die Eisenpritsche nicht.
Vikniksor hatte die Wahrheit gesprochen: Der Neue übernachtete nicht zum erstenmal in einem vergitterten Raum. Dieser äußerlich stille, schüchterne, wortkarge Bursche war, wie man so sagt, durch Feuer und Wasser gegangen.
Ljonka hatte in einer Familie, die man nicht als arm bezeichnen kann, das Licht der Welt erblickt. In dem Geburtsschein, den der neugebak-kene Schkider zusammen mit der Einweisung Vikniksor vorgelegt hatte, stand, daß sein Vater „Reserveleutnant mit persönlich verliehenem Adel“ und seine Mutler „die Tochter eines Kaufmanns der ersten Innung“ seien. Übrigens war der Vater schon seit vielen Jahren tot, und seine Gesichtszüge wären wahrscheinlich längst aus Ljonkas Gedächtnis entschwunden, hätte eine alte Zeitschrift nicht sein Foto enthalten. Diese vergilbte Zeitschrift wurde mit einigen anderen Dingen, die von der alten Zeit übriggeblieben waren, in der Familie sorgsam aufbewahrt. Das Foto zeigte einen jungen Kosakenoffizier; er trug eine schneeweiße Uniformjacke mit Schulterstücken und sah stolz und fröhlich in die Welt. Darunter stand eine Notiz, deren Überschrift lautete: „Heldentat eines Leutnants aus dem Fünften Sibirischen Kosakenregiment.“ In der Notiz wurde berichtet, daß der Leutnant I. A. Pantelejew in einen japanischen Hinterhalt geriet, als er mit einer Geheimmeldung zum russischen Kommandostab unterwegs war. Bei dem folgenden Schußwechsel wurde der Leutnant durch einen Streifschuß verwundet. Er wehrte jedoch den Feind ab und brachte die Meldung trotz seiner Verwundung zum Kommandostab. Für diese Heldentat wurde Ljonkas Vater geadelt und bekam einen Orden. Ljonka konnte sich nur noch undeutlich an den Vater erinnern, aber aus den Erzählungen seiner Angehörigen wußte er, daß es ein ehrenhafter, aufrechter, unbestechlicher Mann gewesen war. Nach dem Russisch-Japanischen Kriege hatte ihm eine glänzende Karriere — Orden, Rangerhöhungen, Reichtum — bevorgestanden. Doch der Vater hatte allem entsagt und war ins Zivilleben zurückgekehrt. Er mußte den gleichen Beruf ergreifen, den sein Vater und sein Großvater ausgeübt hatten: er handelte mit Bau- und Brennholz. Diese Beschäftigung paßte ihm gar nicht, aber er sah keinen Ausweg. Deshalb begann er zu trinken. Und er trank so lange und soviel, bis er ein Trunkenbold wurde und seine Familie verließ. Später starb er in der Fremde, fern von Frau und Kindern.
Ljonkas Kinderzeit verlief glatt und ungestört. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr kannte er weder Not noch Hunger oder Kälte. Kinderfrauen und Gouvernanten hüteten und erzogen ihn, die Köchin bereitete ihm das Essen. Sogar seine Schuhe brauchte er nicht selbst zu putzen; das machte das Stubenmädchen. Nach dem Fortgang des Vaters wurde das Leben zwar schwieriger — die Mutter mußte den Kindern reicher Leute Musikunterricht geben, um Geld zu verdienen —, doch diese Veränderungen wirkten sich kaum auf Ljonkas Leben aus. Er kam zur ordnungsgemäßen Zeit in die Vorbereitungsschule und dann in die Realschule… Schon früh faßte er eine Vorliebe für die Lektüre, für Pap'er, Federn, Bleistifte und die übrigen Schreibutensilien. Mit sechs Jähren versuchte er bereits, Gedichte und Geschichten zu schreiben. Wegen dieser vorzeitigen Gelehrtheit wurde er wohl von Bruder und Schwester „Bücherschrank“ genannt. Aber das alles fand sehr schnell ein Ende, verschwand spurlos aus seinem Leben — die Köchinnen und die Stubenmädchen, die Religionsstunden in der Realschule, die Weihnachtsbäume und die duftenden Frühlingshyazinthen auf dem Ostertisch.
Ljonkas Kindheit endete ebenso früh wie die von vielen seiner Altersgenossen. Die Revolution brach aus, und alles ging aus den Fugen. In Petrograd begann eine Hungersnot, vor der Ljonkas Familie ins Jaroslawler Gouvernement floh, in ein Dorf, wo Ljonkas ehemalige Kinderfrau wohnte. Von dort zogen sie noch weiter — in ein Städtchen an der Kama. Hier arbeitete die Mutter als Leiterin einer Musikschule, hier besuchte Ljonka wieder die Schule.
Im Winter 1919 fuhr die Mutter in dienstlichem Auftrage nach Petrograd. Ihre Reise sollte einen Monat dauern. Aber sie kam weder nach einem Monat noch später zurück. Ljonka wohnte bei seiner Tante. Sie hatten nichts zu essen, und die Tante setzte ihn vor die Tür. Nach längerem Suchen fand Ljonka Unterkunft in einer Landwirtschaftsschule, wo bereits sein jüngerer Bruder lebte. In dieser Schule, die von der Obrigkeit vergessen zu sein schien, bekamen die verlausten Kinder nichts als Rübenkraut zu essen. Das Diebeshandwerk blühte. Die Jungen bestahlen ihre eigenen Kameraden, ihre Vorgesetzten und die Bauern der umliegenden Dörfer. Ljonka hatte sich bisher für einen ehrenhaften Menschen gehalten. Schon der Gedanke, sich fremder Leute Gut anzueignen, war ihm zuwider, und lange Zeit nahm er an den Raubzügen seiner Kameraden nicht teil. Doch eines Tages zwangen sie ihn, einen Brotlaib zu stehlen. Das war der erste Schritt auf jenem dornigen Pfad, den er von nun an weitergehen sollte. Sehr bald floh er aus dem Internat. Er kam in ein anderes, lief aber schon nach einem Monat unter Mitnahme von Sachen, die ihm nicht gehörten, auch von dort weg. Als er die Sachen auf dem Markt verkaufte, wurde er verhaftet. Ein neues Kinderheim, abermals Flucht. Diesmal mußte er die Stadt verlassen, weil er bereits polizeilich gesucht wurde. Seine Irrfahrten durch die Heimat begannen — eine Heimat, über die noch immer der Bürgerkrieg hinwegbrauste. In den Jahren dieses obdachlosen Daseins traf er auf Weiße, Rote und „Grüne“. Er begegnete guten und schlechten Menschen. Die guten verschafften ihm nützliche Arbeit, die schlechten brachten ihn von diesem richtigen Wege wieder ab.
Einen Winter verlebte er in der Stadt Menselinsk, wo ihn die dortigen Komsomolzen beherbergten. Sie gaben ihm Kleider und Schuhe und schickten ihn in eine Gewerbeschule. Es waren düstere Wintermonate, aber in Ljonkas Gedächtnis leuchten sie in strahlendem Licht. Zusammen mit den Komsomolzen nahm Ljonka an der Niederschlagung eines Kulakenaufstandes teil. Er erhielt ein Gewehr und versah wie andere Halbwüchsige den Wachdienst in der Stadt. Sein Leben schien wieder ins rechte Gleis zu kommen. Er hoffte, die dunkle Vergangenheit endgültig hinter sich zu haben. In seiner Freude ahnte er nicht, daß ihm neue Stürme, neue Leiden bevorstanden.
Obgleich es ihm in Menselinsk gut ging, gab er den Gedanken an eine Rückkehr nach Petrograd niemals auf. Er hoffte weiter, daß seine Mutter noch am Leben sei. Mehrmals schrieb er ihr, er fragte auch beim Petrograder Einwohnermeldeamt an, erhielt aber keine Antwort. Daraufhin beschloß er, sich auf eigene Faust nach Petrograd durchzuschlagen.
Diese Reise dauerte sehr lange. Statt in Petrograd landete Ljonka in der Ukraine, wo er sich mit Dieben zusammentat und wieder auf den Weg des Verbrechens kam. Beinahe ein Jahr lang zog er — gleich Tausenden von Jungen, die ebenso obdachlos waren wie er — durch die vom Krieg verwüsteten Gegenden. Dabei saß er wiederholt in den Wachlokalen der Miliz, bei der Eisenbahntscheka, in den Gefängnissen der Kriminalpolizei. Jedesmal wurde er in ein Kinderheim oder eine Erziehungskolonie gesteckt, von wo er nach einem Tage, einer Woche oder höchstens einem Monat wieder Reißaus nahm. Von einer Rückkehr nach Petrograd träumte er nicht mehr. Er hielt sich für endgültig gestrandet, er vermochte sich nicht mehr vorzustellen, daß er noch einmal vor Mutter und Schwester hintreten und ihnen in die Augen sehen könne.
Die ebenso obdachlos waren.
Mehrmals riß er sich zusammen und versuchte, das Stehlen aufzugeben und zu arbeiten. Er ging auf den Bahnhof und bot den Fahrgästen seine Hilfe beim Gepäcktragen an. Doch er sah so verkommen aus, daß sie erschraken, ihn zurückstießen und ihre Körbe und Koffer lieber selbst zur Straßenbahn oder zu einem Gepäckkarren schleppten. Er probierte es auch mit dem Handel. Als die Neue ökonomische Politik begann und der Privathandel wieder erlaubt wurde, kaufte er einem chinesischen Bekannten billige selbstgedrehte Zigaretten ab, ging damit auf die Hauptstraße und schrie: „Zigaretten zu verkaufen! Wer wünscht Zigaretten?“
Doch dabei rauchte er mehr Zigaretten, als er verkaufte. Abends rechnete er seinen Verlust aus und gab den Handel endgültig auf. Neue Irrfahrten, neue Obdachlosigkeit, Übernachtungen hinter Zäunen, Milizpfiffe, harte Gefängnispritschen, Karbolgeruch, Anstaltshemden mit fetten, schwarzen Stempeln am Saum, lärmende Märkte, auf denen das Hemd verkauft oder vertauscht wurde, wieder eine Nacht unter freiem Himmel, dann die Pfiffe der Miliz, eine neue Gefängniszelle mit Gefängnisgestank…
Schließlich hatte er das satt. Ihm wurde klar, es könne nicht mehr so weitergehen. Eines Abends saß er Kirschen essend an der Eisenbahn. Und plötzlich beschloß er zu seiner eigenen Überraschung: Ich fahre nach Petrograd.
Er brauchte sich von niemandem zu verabschieden. Den ersten Zug, der nach Norden fuhr, wartete er ab, sprang im Fahren auf das Trittbrett, kletterte von dort auf den Puffer und über die Eisentreppe aufs Wagendach. Er stieg von einem Zug in den nächsten um und fuhr — auf Puffern, Achsen, in Kohlenkisten und Ölbehältern — in die Heimat.
Nach dreieinhalbjähriger Abwesenheit stand er dann wieder in seiner Vaterstadt. Er ging durch die Petrograder Straßen, und die Tränen, die ihm gegen seinen Willen über das Gesicht flössen, zogen weiße Furchen über seine kohle- und ölverschmierten Wangen. In die Wohnung, in der sie vor der Revolution gelebt hatten, waren fremde Leute eingezogen. Als Ljonka klingelte und fragte, ob die neuen Mieter wüßten, daß seine Mutter noch am Leben sei, wurde ihm nicht einmal die Tür geöffnet. Eine alte Frau spähte ärgerlich über die Sicherheitskette hinweg, klappte ihm die Tür vor der Nase zu und befahl ihm, sich fortzuscheren, sonst würde sie ihn augenblicks dorthin schicken, wo solche Strolche wie er hingehörten. Fluchend trottete Ljonka die Treppe hinunter.
Den ganzen Tag irrte er hungrig durch die Stadt. Als er abends zufällig in eine Straße kam, fiel ihm ein, daß hier vor der Revolution seine Tante gewohnt hatte. Nur mit Mühe machte er das Haus und die Wohnung ausfindig. Es stellte sich heraus, daß die Tante dort immer noch wohnte. Aber sie wollte Ljonka nicht über die Schwelle lassen — sie konnte es nicht fassen, daß dieser kleine Lump ihr Neffe sei. Als sie ihn schließlich doch erkannte, war Ljonkas erste Frage: „Lebt Mama noch?“ Und da erfuhr er, daß seine Mutter am Leben war, daß sie sogar mit seinen jüngeren Geschwistern bei ihrer Schwester in einem kleinen Durchgangszimmer wohnte.
Auch sie hatte viel durchmachen müssen. Als sie im Frühjahr 1919 von ihrer Dienstreise zurückkehrte, wurde ihr Zug von Banditen überfallen. Die Banditen beraubten den Zug, erschossen das gesamte Bahnpersonal, töteten, verwundeten oder verschleppten viele Fahrgäste. Der Mutter gelang es, sich zu retten. Als sie jedoch schließlich in dem Städtchen an der Kama eintraf, war Ljonka schon fort. Jahrelang hielten ihn seine Angehörigen für tot. Und nun war er zurückgekehrt. Damit schienen Ljonkas schlimme Abenteuer endgültig abgeschlossen zu sein. Er wollte unter seine dunkle Vergangenheit einen energischen Schlußstrich ziehen und suchte Arbeit. Aber es war damals nicht einfach, welche zu finden. Überall herrschte Arbeitslosigkeit. Und Ljonka besaß keinerlei Spezialausbildung. Er ließ aber den Mut nicht sinken, obgleich er, kein leichtes Leben hatte: Daheim konnten sie sich nur selten satt essen. Die Mutter schlug sich mit gelegentlichen Unterrichtsstunden durch, Ljonkas jüngerer Bruder arbeitete für einen Groschenverdienst bei einem privaten Bäcker als Gehilfe. Ljonka gelang es, für kurze Zeit Arbeit zu finden: Ein paar Wochen lang spielte er „Sowjetpferdchen“ in einer Limonadenfabrik, das heißt, er fuhr mit einem Handwagen Bier- und Limonadenkisten aus.
Es war eine langweilige, einförmige, unsäglich schwere Arbeit, aber sie machte Ljonka glücklich. Ungeduldig wartete er auf den ersten Lohn, damit er der Mutter das erste ehrlich verdiente Geld bringen könnte. Aber zu einer Lohnzahlung kam es nicht. Eines Tages machte Ljonka mit seinem Begleiter die gewohnte Fahrt durch die Stadt. In der Gorstkiner Straße schleppte der Begleiter — ein alter Mann — eine Bierkiste in den ersten Stock einer Kneipe, während Ljonka mit dem Karren vor der Tür wartete. Er träumte vor sich hin, die ermüdeten Hände vermochten den schweren Karren nicht mehr im Gleichgewicht zu halten und ließen die Deichsel los. Dadurch rutschten die aufgetürmten Kisten vom Karren und krachten scheppernd auf das Straßenpflaster. Fast alle Flaschen waren entzwei. Ljonka wußte, daß ihm der deutsche Besitzer der Fabrik dafür das Fell über die Ohren ziehen würde. In seiner Angst ließ er den Karren stehen und nahm Reißaus. Am gleichen Tage begegnete er auf dem Markt einem Jungen namens Wolkow, den er von früher kannte. Sie hatten dieselbe Realschule besucht und sich ein wenig angefreundet. Damals war Wolkow ein hübscher, wohlerzogener Junge aus einer Äristokratenfamilie gewesen. Jetzt hatte er sich in einen waschechten geriebenen Taschendieb verwandelt. Er schlug Ljonka vor, mit ihm auf Halbpart zu „arbeiten“. Nach einiger Überlegung schickte Ljonka ihn zum Teufel. Er wußte nicht, daß es ihm beschieden war, den Burschen schon nach kurzer Zeit wieder zu treffen. In die Fabrik kehrte Ljonka nicht mehr zurück. Er gab seine Sehnsucht nach Arbeit auf und besuchte von nun an die Schule. Doch auch hier hatte er Pech — er mußte die Schule bald wieder verlassen. Es war ein ehemaliges privates Gymnasium, in dem sich die Bräuche der Zarenzeit erhalten hatten. Die Schüler bestanden größtenteils aus Bürgersöhnen und — töchtern. Sie bekamen irgendwie heraus, daß Ljonka früher gestohlen hatte und in Besserungsanstalten gewesen war. Sie schikanierten ihn. Und er mußte sein Recht auf das Studium mit den Fäusten verteidigen.
Nach einer Prügelei stellte die Direktorin, der Ljonka sowieso ein Dorn im Auge war, den Antrag, ihn auszuschließen. Am gleichen Tage traf ihn ein neues Mißgeschick: Krause, der deutsche Besitzer der Limonadenfabrik, machte ihn ausfindig. Ljonka hatte der Mutter verheimlicht, daß er aus der Fabrik weggelaufen war. Er hatte ihr weisgemacht, er habe die Fabrik nur verlassen, um wieder zur Schule zu gehen. Jetzt kam seine Lüge ans Tageslicht.
Aber die Mutter verzieh ihm, ja, sie half ihm sogar aus der Patsche. Mit großer Mühe trieb sie Geld auf und schickte Ljonka in die Fabrik mit dem Auftrag, dem Deutschen die Schulden zu bezahlen. Ljonka schämte sich, das Geld anzunehmen; er wußte, daß die Mutter Monate brauchen würde, um es abzuarbeiten, doch es gab keinen anderen Ausweg.
Auf dem Wege zur Fabrik kam er über den Trödelmarkt und ließ sich dort mit Falschspielern ein, in der Hoffnung, er könne der Mutter das Geld von dem Gewinn zurückzahlen. Aber schon nach zwanzig Minuten hatten ihm die Falschspieler fast sein gesamtes Geld — siebenhundert Millionen Rubel — abgegaunert.
Vor Verzweiflung wollte Ljonka in der Fontanka Selbstmord begehen. Vorher setzte er sich noch einmal in eine kleine Teestube an der Mutschnygasse, um sich für die letzten ihm verbliebenen „Eier“ richtig satt zu essen. Hier traf er seinen alten Freund Wolkow. Es war eine schicksalhafte Begegnung. Bereits am nächsten Tage war er in der Lage, seinem ehemaligen Chef die zerschlagenen Flaschen zu bezahlen. Der Mutler gab er das Geld zurück, raudite von nun an teure Zephirzigaretten, ging häufig ins Kino, staffierte sich neu aus und kaufte bei den Antiquitätenhändlern einen ganzen Berg von Büchern. Nach einem Monat stand er im Aufnahmeraum der Kriminalpolizei, und wieder einmal wurden ihm die Fingerabdrücke abgenommen. Zwei Wochen später marschierte er an einem Wintermorgen zur DostojewskiSchule, eine Einweisung der Gouvernementskommission für minderjährige Verbrecher in der Hand. Er ging freiwillig hin, weil er der Mutter keinen Kummer machen wollte. Aber im Grunde seines Herzens war er überzeugt, daß er höchstens zwei bis drei Wochen in der Schule bleiben würde. Er wußte genau, daß er hier ebenso Reißaus nehmen würde, wie er es bisher bei allen derartigen Instituten getan hatte.
Ljonka war niemals besonders gesprächig gewesen. Er mußte schon sehr eng mit jemandem befreundet sein, ehe sich ihm die Zunge löste. Hier, in der Schkid, freundete er sich gar nicht erst mit jemandem an. Er lebte vor sich hin, nur mit dem Gedanken beschäftigt, wie und wann er türmen könnte.
Die Schkid kam ihm allerdings anders vor als die übrigen Kinderheime und Kolonien, die er bisher erlebt hatte. Hier waren die Jungen belesener, und vor allem — sie traten den Neuen freundlich gegenüber. Niemand verprügelte oder verfolgte ihn, obgleich Ljonka, durch bittere Erfahrungen belehrt, darauf gefaßt war, jedem, der ihm zu nahe treten wollte, eine Abfuhr zu erteilen.
Aber einstweilen wurde er in Ruhe gelassen, ja, es kümmerte sich überhaupt niemand um ihn, bis die Sache mit der Eule kam. Das war ein Ereignis, das die ganze Schule von ihm reden ließ, das ihn für eine gewisse Zeit zur auffälligsten Figur in der Schkider Republik machte. Ljonka war nicht gerade aus einem Pensionat für adlige Jungfrauen in die Schkid gekommen. Bei dem Wort „Diebstahl“ errötete er schon längst nicht mehr. Wenn es sich um etwas anderes gehandelt hätte, wenn die Jungen einen Einbruch in die Vorratskammer oder einen noch schwerwiegenderen Streich vorgehabt hätten, würde er vielleicht aus Kameradschaft mitgemacht haben. Aber es widerstrebte ihm, zu sehen, daß die Jungen über eine blinde alte Frau herfielen. Solche Dinge hatte er schon früher verachtet. Er ekelte sich zum Beispiel davor, in fremder Leute Taschen zu greifen. Deshalb hatte er auf die Taschendiebe immer nur hochmütig herabgesehen. Er fand einen Kofferraub oder einen Ladeneinbruch anständiger und weniger kleinlich als den Taschendiebstahl.
Als die Jungen über Ljonka herfielen und ihn verprügelten, wunderte er sich nicht allzusehr. Er wußte genau, daß der Heilige Geist zu den Kinderheimgebräuchen gehörte. Früher hatte er selbst wiederholt daran teilgenommen. Er wehrte sich nicht einmal sehr gegen die Schläge. Er versuchte nur, sein Gesicht und die anderen verwundbaren Körperstellen möglichst zu schützen. Als aber Vikniksor in die Klasse kam und ihn drohend anbrüllte, anstatt ihn zu verteidigen, wurde er wütend. Trotzdem folgte er dem Direktor gehorsam in sein Arbeitszimmer.
Vikniksor schloß die Tür hinter sich und betrachtete den Neuen, der noch immer aufschnupfte und sich mit dem Ärmel das blutbeschmierte Gesicht wischte. Der Direktor war ein passionierter Sherlock Holmes. Er beschloß deshalb, den Zögling zu überrumpeln. „Weshalb haben dich die Kameraden verprügelt?“ forschte er mit bohrenden Blicken. Ljonka antwortete nicht.
„Was schweigst du? Ich habe dich gefragt, warum du in der Klasse verprügelt worden bist?“ Vikniksor sah dem Neuen noch aufmerksamer in die Augen. „Wegen der Plätzchen, ja?“
„Ja“, brummte Ljonka.
Vikniksor stieg das Blut ins Gesicht. Es sah aus, als würde er gleich losbrüllen und mit den Füßen stampfen. Doch er brüllte nicht. Er sagte nur ruhig, deutlich und ausdruckslos, als diktiere er: „Schuft! Bastard! Mißgeburt!“
„Warum beschimpfen Sie mich?“ brauste Ljonka auf. „Woher nehmen Sie das Recht dazu?“
Da sprang Vikniksor auf.
„Was?“ brüllte er, daß es durch die ganze Schule schallte. „Was hast du gesagt? Woher ich das Recht nehme? Du Banditenkerl!“
„Selber einer!“ stammelte Ljonka.
Vikniksor erstickte fast vor Wut. Er packte den Neuen am Kragen und zerrte ihn zur Tür.
Alles übrige spielte sich dann vor den Augen der verdutzten Schkider ab.
Ljonka saß nun schon den dritten Tag im Karzer, ohne zu wissen, daß sein Schicksal die ganze Schule in wilde Erregung versetzt hatte. In der vierten Abteilung wurden vom Morgen bis in die Nacht endlose Debatten geführt.
„Schließlich ist es eine Gemeinheit, Jungens!“ schimpfte Jankel wütend. „Der Bursche hat die Schuld auf sich genommen, er leidet ohne jeden Grund, und wir…“
„Es würde mich interessieren, was du vorschlägst?“ Japs grinste ' böse.
„Was ich vorschlage? Daß die ganze Klasse zu Vikniksor hingeht und ihm sagt, Pantelejew habe keine Schuld, sondern wir allein.“ „Ach nee! Da müßten wir schön dumm sein. Geh doch selbst, wenn du willst.“
„Na und? Was glaubst du denn sonst? Ich geh' auch hin.“
„Bitte! Hau doch ab!“
„Und dann erkläre ich, wer die ganze Sache angestiftet hat. Und wer die Jungens auf Ljonka hetzte…“
„Ach so? Du willst petzen?“
„Immer sachte, Leute!“ brummte Kaufmann. „Ich will euch mal was sagen. Natürlich wäre es dumm, wenn die ganze Klasse hinginge. Melden wir uns alle, dann kommen wir samt und sonders in die fünfte Gruppe.“
„Wir müßten es auslosen“, piepsjg Mamachen. Vielleicht ein Orakel befragen Japs kicherte. „Nein, Leute“, widersprach Kaufmann. „Wir brauchen weder zu losen noch das Orakel zu befragen. Ich glaube, man müßte es anders machen. Einer sollte hingehen und alle Schuld auf sich nehmen.“
„Und wer?“ forschte Japs. „Du.“
„Ich?“
„Ja! Du sollst hingehen.“ Das klang wie ein kategorischer Befehl. Japs erblaßte.
Wer weiß, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn die Jungen nicht plötzlich erfahren hätten, daß Pantelejew aus dem Karzer entlassen worden sei. Wenige Minuten später erschien er in der Klasse. Sein Gesicht, mit blauen Flecken und blutunterlaufenen Stellen verziert, war blasser als sonst. Grußlos ging er zu seiner Bank, setzte sich und packte seine Habseligkeiten. Gelassen holte er mehrere Bücher und Hefte, ein angerissenes Zigarettenpäckchen Marke „Smytschka“, einen gestrickten, gestopften Schal, eine Schachtel mit Federhaltern und Bleistiften und eine halbleere Tüte mit Zuckerstückchen aus dem Fach und legte alles auf die Bank. Dann band er es mit einem Bindfaden zusammen. Schweigend sah die Klasse seinen Manipulationen zu. Endlich brach Brotkanten die Stille. „Wo willst du hin, Pantelej?“
Na, Frieden?
Pantelejew antwortete nicht. Er schnaufte nur. Sein Gesicht verfinsterte sich.
„Hast du die Sprache verloren? Willst du nicht mit uns reden, he?“
„Laß das, Ljonka, sei nicht mehr böse!“ Jankel ging zu dem Neuen hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. Aber Pantelejew schüttelte die Hand ab.
„Ihr könnt alle zum Teufel gehen!“ knurrte er, zog den Knoten auf seinem Paket fest und schob es in die Bank. Da trat Japs vor Pantelejews Bank.
„Weißt du, Ljonka, du… wirklich… du bist ein feiner Kerl“, stotterte er errötend und schnupfte auf. „Verzeih uns bitte. Das sage ich im Namen der ganzen Klasse. Stimmt's, Jungem?“ „Richtig!“ grölten die Jungen. Sie umdrängten Ljonkas Bank von allen Seiten. Das knochige Gesicht des Neuen rötete sich. Eine Art schwaches Lächeln erschien auf seinen ausgetrockneten Lippen. „Na, Frieden?“ fragte Zigeuner und hielt dem Neuen die Hand hin. „Zum Teufel mit euch! Frieden!“ brummte Ljonka. Lächelnd drückte er die dargebotene Hand.
Die Jungen hielten ihm nacheinander eifrig die Hand hin. „Leute, Leute! Die Hauptsache haben wir noch gar nicht erwähnt!“ rief Jankel. Er sprang auf die Bank und verkündete: „Pantelej, im Namen der ganze Klasse danke ich dir dafür, daß du, daß du… na, du weißt schon selbst.“
„Wofür?“ fragte Ljonka zurück. Sein erstauntes Gesicht verriet, daß er es durchaus nicht wußte.
„Dafür… dafür, daß du uns nicht verpfiffen hast, sondern die Schuld auf dich nahmst.“
„Was für eine Schuld?“ „Du hast Vikniksor doch gesagt, du hättest der Eule die Plätzchen geklaut? Spiel nicht den Bescheidenen. Das hast du doch gesagt?“
„Ich?“
„Nun ja! Wer denn sonst?“
„Ich habe überhaupt nicht dran gedacht.“
„Wieso nicht?“
„Ich bin doch kein Dummkopf!“
Wieder senkte sich Stille über die Klasse. Nur Mamachen kicherte erstickt.
„Erlaubt mal, was ist denn nun?“ Jankel wischte sich die schweißbedeckte Stirn. „Verdammt! Wir nahmen an, Vikniksor hätte dich wegen der Plätzchen in den Karzer gesteckt.“
„Hat er auch. Aber was habe ich damit zu tun?“
„Wieso hast du damit nichts zu tun?“
„Nee, gar nichts.“
„Puh!“ Jankel ärgerte sich allmählich. „Nun erkläre uns endlich, du Nervensäge, was los war.“
„Ganz einfach. Da gibt es nicht viel zu erklären. Er fragte: 'Weshalb wurdest du verprügelt? Wegen der Plätzchen?' Und ich antwortete: 'Ja, wegen der Plätzchen!'“
Pantelejew sah die Jungen an, und zum erstenmal erblickten die Schkider ein fröhliches, offenes Lächeln auf seinem knochigen Gesicht.
„Stimmt das etwa nicht?“ schmunzelte er. „Ihr habt mich doch wegen der Plätzchen verprügelt, ihr Teufel!“
Dröhnendes Gelächter der gesamten Klasse übertönte seine letzten Worte.
Der Friede war geschlossen. Und Pantelejew wurde endgültig als gleichberechtigtes Mitglied in die verschworene Schkid-Gemeinschaft aufgenommen.
Noch am gleichen Tage packte er sein Paket mit den Federhaltern, dem Schal und dem Fastenzucker wieder aus und legte den Inhalt an seinen Platz zurück. Und nach einiger Zeit dachte er überhaupt nicht mehr an Flucht. Die Jungen gewannen ihn lieb, und er fühlte sich ebenfalls zu vielen seiner neuen Kameraden hingezogen. Allmählich taute er auf und erzählte ihnen sein Leben. Besonders häufig erwähnte er dabei die Stadt Menselinsk. Er benutzte dieses Wort so oft, daß die Jungen ihn im Scherz den „Menselinsker“ nannten… Da trat ein Ereignis ein, das jeden Spott über den Neuen erstickte und ihn sogar in unerreichbare Höhen emporhob.
Etwa zwei Wochen vor seiner Aufnahme in die Schkid hatte Ljonka im Filmtheater „Empire“ an der Sadowajastraße einen amerikanischen Cowboyfilm gesehen. Im Vorprogramm waren Zauberkünstler und Jongleure aufgetreten, eine fischähnliche Sängerin in einem Schuppengewand hatte zwei Romanzen gesungen, zwei Mädchen hatten in Matrosenhosen den „Matelot“ getanzt, und am Schluß hatte ein Coupletsänger zu den Klängen eines kleinen Akkordeons „Knüttelverse über Tagesereignisse“ vorgetragen. Ljonka fand, er könne solche satirischen Verse mindestens ebensogut schreiben, und hatte deshalb, nach Hause zurückgekehrt, aus einem Heft ein Blatt Papier gerissen und hastig, um die Inspiration nicht zu verlieren, innerhalb von zehn Minuten sechs Vierzeiler skizziert. Darunter befand sich folgender:
Ist der Goldkurs hochgeschraubt
von der NÖP mit Mühe,
kostet, wenn man's auch kaum glaubt,
drei Rubel eine Rübe.
Er hatte die „Knüttelverse über den Alltag“ nach einiger Überlegung der „Roten Zeitung“ eingeschickt und geschrieben, daß er diese Verse unbekannter Autoren gesammelt habe und daß man sie drucken solle. Danach hatte er mehrere Tage auf Antwort gewartet. Doch dann rollten die Ereignisse in Ljonkas Leben mit der Geschwindigkeit eines amerikanischen Cowboyfilms ab, und die Knüttelverse oder die „Rote Zeitung“ wurden ihm unwichtig. Er vergaß sie. Kurz darauf kam er in die Schkid. Eines Tages stürzte „Hühnchen“, ein Schüler aus der dritten Klasse, nach dem Unterricht atemlos und aufgeregt in die vierte Abteilung. In der Hand hielt er ein zerknülltes Zeitungsblatt. „Pantelejew! Bist du das?“ schrie er schon auf der Schwelle. „Was ist?“ Ljonka erblaßte. Sein Herz begann wie ein Hammer zu schlagen. Seine Hände und Füße wurden eiskalt. Hühnchen schwenkte das Zeitungsblatt wie eine Fahne. „Hast du der 'Roten Zeitung' ein Gedidit geschickt?“
„Ja… hab' ich…“, stammelte Ljonka.
„Na bitte. Das wußte ich doch. Die Jungens bestreiten das. Sie meinen, es könne nicht sein.“
„Zeig her.“ Ljonka streckte die Hand aus. Die anderen umdrängten ihn. Die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen und wollten sich nicht zu Zeilen zusammenfügen. „Wo? Wo?“ fragten die Jungen.
„Da! Unten mußt du hingucken“, stieß Hühnchen erregt hervor. „Wo. Briefkasten' drüber steht.“
Ljonka fand den „Briefkasten“, eine Spalte, in der die Redaktion den Autoren antwortete. An zweiter oder dritter Stelle fiel ihm sein Name in die Augen. Er war mit großen Buchstaben gedruckt. Nachdem das Geflimmer vor seinen Augen aufgehört hatte, las er vor: „Ah ALEXEJ PANTELEJEW. — Die von Ihnen eingesandten 'Knüttelverse über den Alltag' sind nicht von anonymen Autoren, sondern ein Gedicht, das Sie selbst verfaßt haben. Zur Veröffentlichung in unserer Rubrik nicht geeignet.“
Sekundenlang verweigerten Ljonkas eiskalte Füße ihm den Dienst. Alles Blut strömte ihm in die Ohren. Er glaubte, den Kameraden nicht mehr in die Augen sehen zu können. Gleich würden sie ihn auspfeifen, verhöhnen, dem Gelächter preisgeben.
Aber nichts von alledem geschah. Ljonka blickte auf und sah, daß die ihn umdrängenden Jungen ihn anstarrten, als stünde zwar nicht Puschkin, aber doch mindestens Block oder Majakowski vor ihnen.
„Dieser Pantelej!“ piepste Mamachen begeistert. „Hoch Ljonka!“ rief Zigeuner nicht ohne Neid. „Vielleicht ist er es gar nicht?“ zweifelte jemand. „Bist du es?“ wurde Ljonka gefragt. „Ja“, antwortete er und schlug die Augen nieder — und diesmal aus reiner Bescheidenheit. Die Zeitung ging von Hand zu Hand.
„Gib! Zeig her! Laß mich auch mal sehen!“ riefen die Jungen durcheinander.
Aber bald entführte Hühnchen ihnen die Zeitung. Und Ljonka spürte, daß ihm etwas sehr Wertvolles, Kostbares, ein Teil seines Ruhmes, ein Zeugnis seines Triumphes entführt wurde. Er suchte Alnikpop, den diensthabenden Erzieher, auf und flehte ihn in heller Aufregung an, ihn für fünf Minuten auf die Straße zu lassen. Nach kurzem Zaudern gab Alnikpop ihm einen Erlaubnisschein. An der Ecke Peterhofstraße und Ogorodnikow-Allee stand ein Zeitungskiosk. Dort kaufte Ljonka für 18000 Rubel die letzte Nummer der „Roten Zeitung“. Bei der Rückkehr zur Schkid blätterte er die Zeitung noch auf der Straße fünfmal auseinander und schaute in den „Briefkasten“. Wie in Hühnchens Exemplar stand das schwarz auf weiß: „An Alexej Pantelejew…“ Ljonka wurde der Held des Tages.
Bis zum Abend wallfahrteten die Jungen aus den unteren Klassen zu ihm. Immer wieder öffnete sich die Tür zur vierten Abteilung, und mehrere Personen steckten schüchtern den Kopf in den Raum. „Pantelej, zeig uns mal die Zeitung, ja?“ flehten die Knirpse. Ljonka lächelte herablassend, holte die Zeitung aus dem Fach und hielt sie allen Interessierten unter die Nase. Die Jungen lasen jedes Wort laut vor, schüttelten den Kopf und riefen „ach“ und „oh“ vor Erstaunen. „Bist du das?“ fragte jeder. „Ja“, erwiderte Ljonka bescheiden.
Sogar nachdem es zum Schlafengehen geklingelt hatte, wurde die Erörterung des außergewöhnlichen Ereignisses fortgesetzt. Gesättigt von Ruhm, schlummerte Ljonka ein.
Gegen vier Uhr morgens erwachte er, und sofort fiel ihm ein, daß am Vortage etwas sehr Wichtiges geschehen war. Die sorgfältig zusammengelegte Zeitung hatte er unter seinem Kopfkissen verwahrt. Vorsichtig holte er sie hervor und faltete sie auseinander. Im Schlafraum war es dunkel. Da schlich er barfuß, nur in Unterhose, ins Treppenhaus und las beim schwachen Licht der Glühbirne noch einmal: „An ALEXEJ PANTELEJEW. — Die von Ihnen eingesandten 'Knüttelverse über den Alltag' sind nicht von anonymen Autoren, sondern ein Gedicht, das Sie selbst verfaßt haben. Zur Veröffentlichung in unserer Rubrik nicht geeignet.“
So kam noch ein Literat in die Republik Schkid, diesmal ein Literat von Rang und Namen. Schon nach kurzer Zeit war es ihm beschieden, seine Talente in der Schkider Arena vorzuführen — zum Wohle der Republik, die ihm eine neue Heimat wurde.