Marschierende Tage * Drei Fabriklehrlinge * Der Frühling kommt * Dse geht ab Kaufmann im Miliiärmantel * Ein Brief von Zigeuner * Die Tournee der Blutsbrüder * Ein neues ZK und Junge Pioniere * Noch zwei * Der Letzte der Mohikaner * Neues Rohmaterial.
Liefen die Tage? Nein. Tage können laufen, wenn es sein muß, aber diesmal schritten sie in beherrschtem Marschtritt dahin, ohne einander zu überholen — eine gleichmäßige lange Reihe. Wie im vorigen Jahr, wie vor zwei Jahren kam der Dezember. Die Fenster überzogen sich mit Eisblumen, in den Klassen und Schlafräumen wurde geheizt, und es gab jeden Tag zehn Unterrichtsstunden. Dann stand der Januar vor der Tür. In der Silvesternacht tranken die Schkider den traditionellen Moosbeerwein als Champagnerersatz, aßen Apfelstrudel und brachten Trinksprüche aus. Am ersten Neujahrstag fand die Prüfung statt. Wie im vergangenen Jahr kamen Lilina und andere Gäste aus der Abteilung Volksbildung, von der Sozialfürsorge und vom Hafen, hielten Reden und vermerkten die Erfolge, die die Schule im letzten Jahr erzielt hatte. In der vierten Abteilung hatten die Schkider, die inzwischen zu jungen Männern herangewachsen waren, die letzte Klasse der Einheitsschule durchlaufen und machten sich zur Entlassung fertig. Drei gingen im Januar ab — Spatz, Tichikow und Brotkanten. Da sie keine besondere Begabung oder Neigung zu geistiger Arbeit zeigten, brachte Vikniksor sie als Lehrlinge in einer Petrograder Druckerei unter. Anfänglich wohnten sie noch in der Schkid, dann siedelten sie in ein Gemeinschaftsheim über. Im Februar verließ niemand die Schule. Im März auch nicht. Dann kam der April. In den Alleen platzten die Knospen, die Pappeln und Weiden begannen zu duften, und der Schnee, der noch auf den Straßen lag, sah schmutziggrau aus. Mitte April verlor die vierte Abteilung einen weiteren Hooliganier — Dse. Ohne das Abschlußexamen und die Entlassungsfeier abzuwarten, ging er zu seiner Mutter, um die Familie zu unterstützen. Vikniksor entließ ihn, weil er erkannt hatte, daß sich der Junge gebessert hatte, daß er nun zu leben und zu arbeiten verstand und der Gesellschaft aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Schaden mehr zufügen würde.
Die Alten gingen, und Neue kamen. Zwar wurde die vierte Klasse nicht wieder aufgefüllt, aber die Jüngeren nahmen beinahe täglich Neue in Empfang. Sie kamen aus dem „Kloster“, aus Heimen für normale Kinder oder als Verwahrloste direkt von der Straße. Die alten Schkider verließen die Schule. Nur ihre Traditionen blieben zurück.
Im Mai bestand Kaufmann — nun hieß er wieder Offenbach — sein Aufnahmeexamen an der Armeeschule. Die militärische Laufbahn hatte den Schkider Goliath schon während seines Aufenthaltes im Kadettenkorps angezogen. Bei diesem Wunsch war es geblieben, und jetzt war er überglücklich, in der Roten Armee dienen zu können. Zwei Wochen nach seiner Entlassung aus der Schkid kam er noch einmal zurück. Er trug einen Helm und einen neuen Militärmantel mit hellblauen Aufschlägen. „Ich bin in den Komsomol aufgenommen!“ erklärte er mit strahlendem Lächeln. „Als Kandidat.“
Sein Stiergesicht glänzte vor Freude. Auch späterhin besuchte er die Schule häufig.
Im Mai traf auch ein Brief von Zigeuner ein:
Liebe Genossen — Japs, Jankel, Ljonka, Spatz, Falke und so weiter und so weiter!
Endlich raffe ich mich auf, um Euch zu schreiben. Oft denke ich an Euch und an die Schule, aber Ihr habt nicht recht, Ihr Teufel, wenn Ihr glaubt, daß ich unglücklich bin. Ich bin glücklich, Genossen, kann mir gar nichts Besseres wünschen und war dumm, als ich damals auf dem Bahnhof und im Zug heulte. Vikniksor hat gut daran getan, daß er mich hierher schickte. Grüßt ihn von mir und sagt ihm, daß ich von seinem Talent, das Leben einzuschätzen und den richtigen Weg für uns zu bestimmen, begeistert bin.
Wahrscheinlich wundert Ihr Euch, daß ich glücklich bin, und fragt, was mir hier so gut gefällt? Das ist eine lange Geschichte, und ich fürchte auch, Ihr werdet nicht die Bohne begreifen, denn ich kann auch nicht alles haarklein erzählen. Die ersten beiden Monate im Technikum waren für mich tatsächlich eine Qual. Aber ich kriegte so viel zu tun, daß ich keine Zeit zum Grübeln fand. Und je näher der Frühling kam, um so mehr hieß es schuften. Das machte mir Spaß, und ich merkte dabei nicht, daß ich die Landwirtschaft, das Bauernleben, lieben lernte. Ihr wundert Euch? Wenn ich mal Zeit habe, wundere ich mich auch. Genausosehr, wie ich früher die Landwirtschaft haßte, liebe ich jetzt die Kornschwingen, die Dreschmaschinen, die Zuchtkühe und unsere kleine meteorologische Station. Augenblicklich säen wir gerade Sommergetreide. Da ich im ersten Lehrjahr bin, arbeite ich noch nicht auf dem Feld, sondern im Speicher — Korn sortieren. Diese Arbeit macht mir riesigen Spaß und ist gar nicht langweilig. Ich mag sogar den Duft des Weizenstaubs, des gedüngten Feldes und der gekochten Milch… Neulich hab' ich in der Molkerei gearbeitet. Das war zum erstenmal eine verantwortliche Aufgabe. Ich bin nicht damit fertig geworden, die Butter taugte nichts. Die ganze Nacht hab' ich durchgeheult. Ihr glaubt wohl, ich bin bestraft worden? Nein, ich war bloß unglücklich, weil ich die Sache, die ich so gern habe, schlecht gemacht hatte. Und etwas anderes freut mich auch noch — das ist das Studium.
Ich dachte vorher nicht, daß es hier außer Schweinepflege noch etwas anderes gibt. Und doch kann ich hier, besonders im Winter, meine Allgemeinbildung vervollständigen und Bücher lesen, soviel ich mag.
Nun möchte ich Euch von dem Wichtigsten erzählen. Ich will es so delikat wie möglich ausdrücken. Mitbürger Hooliganiens, Euer Freund und Klassenkamerad Kolka, der Zigeuner, hat das Stehlen verlernt! Zwar reizte mich diese Beschäftigung in der Schkid auch nicht mehr allzusehr — in der letzten Zeit —, aber wenn es der Zufall ergab, drehte ich doch noch ungesetzliche Dinger. Jetzt wird mich nichts mehr zum Stehlen veranlassen. Ich fühle das, und ich glaube, daß ich mich nicht irre. Ich will einmal Rückschau halten. Vor vier Jahren trieb ich mich am Wjasemsker Kloster herum, und stand Schmiere bei richtigen Verbrechern. Damals war es mein Lebensziel, ein gewiefter Taschendieb oder Einbrecher zu werden. Niemals glaubte ich, daß sich das ändern würde. Und jetzt kann ich meine Vergangenheit nicht mehr verstehen, nun begreife ich nicht, wie ich einmal unter dem Verdacht, ein krummes Ding gedreht zu haben, ins „Kloster“ und dann in die Schkid kam. Ihr, der Schkid, verdanke ich meine Gegenwart und Zukunft.
Ich wurde in den Komsomol aufgenommen und bin nach einer halbjährigen Kandidatenzeit jetzt richtiges Mitglied. Ich habe schon eine Funktion — ich bin Instrukteur eines Sportzirkels. Um meine Zukunft ist mir also nicht bange — böse Zeiten liegen nicht vor mir.
Aber jetzt habe ich wohl genug von mir berichtet. Ochse und der Gewissenlose haben sich innerlich und äußerlich ebenfalls sehr verändert. Der Gewissenlose ist dick geworden — Ihr würdet ihn kaum wiedererkennen — und Ochse auch, dabei war er doch schon fett genug. Hier hat er übrigens den Spitznamen „Zuchtochse“.
Kutscher ist nicht mehr im Technikum. Stellt Euch vor, er hat technische Talente entwickelt. Er wurde nach Petrograd versetzt, in eine Fabrik- oder Gewerkschaftsschule, ich weiß es nicht genau. Ich bin froh, daß er weg ist. Er ist der einzige Mensch auf der Welt, den ich verabscheue.
In unserem Technikum studieren nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen. Ich gehe mit einer. Sie ist sehr hübsch und sehr gescheit. Ich glaube, sie wird bestimmt meine Lebensgefährtin. Lacht mich nicht aus, Jungens, aber es ist unser Traum, Hand in Hand der Gesellschaft zu dienen, insbesondere dem sowjetischen Dorf.
Ich weiß gar nicht, ob alle, die ich in meinem Brief angeredet habe, noch in der Schkid sind. Erzählt mir, wie es bei Euch aussieht. Was macht Ihr? Was gibt es Neues?
Ich verbleibe als alter Schkider, als Genösse, der Euch nicht vergessen hat,
Gleichzeitig traf ein Schreiben von Jankel und Ljonka ein. Sie berichteten aus Charkow, daß sie als Korrespondenten einer Filmzeitschrift jetzt eine Reise durch südliche Gouvernements machen würden. Sie schickten nur eine Postkarte mit wenigen Worten, die aber vor Jugend und Lebensfreude sprühten.
Im Juni tagte das Plenum des „Junkom“. Es umfaßte in jener Zeit dreißig Mitglieder.
„Genossen!“ sagte Japs in seiner Rede. „Ich spreche im Namen der Gründer unserer Organisation, im Namen des Zentralkomitees. Das Komitee hat drei Mitglieder verloren, nur Jelchowski und ich sind zurückgeblieben. Bald scheiden wir ebenfalls aus. Deshalb schlage ich vor, ein neues ZK zu bilden.“ Sein Vorschlag wurde angenommen. Die Jungkommunarden wählten ein neues ZK, das sie von nun an „Büro“ nannten. Der neue Vorsitzende war Starolinski — der Nackte Herr.
Anfang Juli bildete die Schkid mit Genehmigung der Abteilung Volksbildung und der Bezirksleitung des Komsomol eine Zelle Junger Pioniere. Sie bestand anfangs nur aus sechs Mitgliedern — den zuverlässigsten Jungen aus den Reihen der jüngeren Schüler. Im August verließen Happen und Sascha Pylnikow die Schule. Happen ging zu seiner Mutter. Sascha legte im Pädagogischen Institut das Aufnahmeexamen ab. Japs war der letzte, der ging.
Er hatte versucht, zusammen mit Sascha ins Pädagogische Institut zu kommen, war jedoch wegen seiner kleinen Statur abgelehnt worden. Aber schließlich fand er eine Stellung als Klubleiter in einer Milizabteilung und verließ die Schkid.
So zerstreute sich die vierte Abteilung — die älteste der Schule — in alle Winde, und Neulinge besetzten die verwaisten Plätze. Das war neues Rohmaterial für die Schkid. Der Umerziehungsprozeß konnte wieder beginnen.
So zerstreute sich die vierte Abteilung.