DIE KÜKEN WERDEN FLÜGGE

Aus dem Urlaub zurück * Jankel in Nöten * Wir fahren! * Gespräch in Vikniksors Arbeitszimmer * Letztes Lebewohl * Die Küken fliegen aus.


Ein gebratnes Küken,

ein gekochtes Küken

tat in Petrograd spaziern.

Als es kam gegangen,

wurde es gefangen,

denn man wollt' es füsiliern.

Jankel ging nicht — er tanzte und pfiff sich den Takt dazu. Ihm war besonders leicht und froh zumute. Sogar die heutige Mathematikstunde schreckte ihn nicht, obgleich er seine Aufgaben nicht gelernt hatte. Der Impuls von Lebensfreude, den ihm der Festtag gegeben hatte, war noch nicht verflogen. Schön war der Tag gewesen, auch mit der Aufführung hatte alles geklappt, und der Urlaub hatte großen Spaß gemacht.

Ich bin nicht sowjetisch

und auch nicht kadettisch.

Leicht könnt ihr den Todesstoß mir geben.

Ach, laßt das Schießen

und auch das Spießen,

denn die Küken hängen auch am Leben.

Die Absätze klapperten zu der Melodie über das Pflaster, während Jankel gedankenversunken durch die frostigen, morgendlich verschlafenen Straßen marschierte. Der Feiertag war zu Ende. Über das Pflaster zogen sich schon die frischen Schrammen von den schweren Rädern der Lastwagen, und die Menschen liefen wieder mit nervösen Alltagsgesichtern auf dem Bürgersteig. Jankel versuchte, sich ebenfalls auf den Alltag umzustellen und an den Unterricht zu denken, aber daraus wurde nichts. Seine Lippen summten weiter:

Ein stolzer Hahn,

mit Sporen an,

ging in Petrograd spaziern…

Da war die Schkid. Munter kletterte er die Treppe hinauf und zog die Klingel.

Ach, laßt das Schießen

und auch das Spießen…

„Aha, Jankel! Na, Mann, du sitzt schön in der Tinte!“

…denn die Küken hängen auch am Leben…

Jankels Lied brach ab. Ein bitterer Kloß stieg ihm beim Anblick des erschrockenen Gesichtes, das der Diensthabende machte, in die Kehle. „Was ist los?“

„Toller Skandal!“

„Was denn für ein Skandal?“

Doch als der aufgeregte Jankel weiterfragen wollte, war der Diensthabende schon in der Küche verschwunden.

Jankel lief zu seiner Klasse, riß die Tür auf und prallte zurück, betäubt von dem Krach. Die Klasse tobte vor Zorn und Aufregung. Als die Jungen Jankel erblickten, stürzten sie zu ihm hin. „Skandal!“

„Unerhört!“

„Die Decken sind geklaut“

„Vikniksor ist außer sich.“

„Er erwartet dich.“ „Du sollst das verantworten.“

Noch immer verständnislos, ging Jankel zu seiner Bank und setzte sich. Erst jetzt erfuhr er alles der Reihe nach. Als er in Urlaub ging, war die Bühne noch nicht aufgeräumt, niemand gab der Beschließerin die Decken zurück, und sie blieben so lange hängen, bis Vikniksor am nächsten Abend anordnete, sie abzunehmen und in die Kleiderkammer zu bringen. Es waren nicht mehr zehn, sondern nur noch acht. Zwei waren spurlos verschwunden.

Diese Neuigkeit schmetterte Jankel zu Boden. Seine Fröhlichkeit war wie weggeblasen, seine Lippen sangen nicht mehr das „Küken“. Er sah sich um, und als er Ljonka erblickte, fragte er hilflos: „Was nun?“

Ljonka antwortete nicht.

Plötzlich rannten die Jungen auf ihre Plätze. Es wurde totenstill. Vikniksor stand in der Klasse. Er machte ein finsteres Gesicht und biß sich nervös auf die Lippen. Als er Jankel sah, ging er zu ihm hin. „Zwei Decken sind abhanden gekommen“, sagte er gedehnt. „Du bist dafür verantwortlich. Wenn die Decken bis zum Abend nicht gefunden sind, müssen deine Eltern oder du mir den Wert ersetzen.“

„Aber, Viktor Nik…“

„Kein Aber. Außerdem kommst du wegen Schlamperei in die fünfte Gruppe.“

In der tiefen Stille hörte man, wie zornig Vikniksors Absätze hinter der Tür davonstampften.

„Da hast du dein gebratenes Küken“, brummte Japs. Niemand reagierte auf seinen Scherz. Alle schwiegen. Jankel saß gebückt da, den Kopf in die Hände gestützt. Seine glühende Stirn berührte die Bank. Sein Gesicht war nicht zu sehen.


Jankel und Ljonka standen in der Toilette. Jankel sog an seiner Zigarette. „Mach, was du willst, Ljonka, aber ich geh weg“, sagte er leidenschaftlich „Eine Woche bleibe ich bei meiner Mutter, dann packe ich meinen Kram zusammen, und ab nach Süden. Ich kann nicht länger warten. Und ich will auch nicht in der fünften Gruppe sitzen — ich bin kein kleines Kind mehr.“ „Und Vikniksor? Meinst du, er läßt dich fort?“ fragte Ljonka. „Vikniksor? Ich geh zu ihm und rede mit ihm. Er wird es verstehen. Es handelt sich jetzt um dich. Sag mir offen, willst du bleiben oder auch… wie wir es verabredet haben?“ Ljonka überlegte einen Augenblick.

Erregt und fragend hingen Jankels Augen an dem breitknochigen Gesicht des Freundes. „Na?“

„Was heißt 'na'? Natürlich fahren wir zusammen!“ Jankel entrang sich ein Seufzer der Erleichterung. „Gib mir die Hand drauf!“

„Auf zu Vikniksor!“ Ljonka lachte auf. „Ja, los!“

Sie gingen dahin, ohne den üblichen Lärm zu hören, ohne das Gerenne und Gewimmel der Kleinen oder sonst etwas zu sehen. Vor der Tür von Vikniksors Wohnung machten sie halt, um Atem zu schöpfen. Unwillkürlich sahen sie zu der kahlen Bühne hinüber, und Jankel knirschte mit den Zähnen.

„Diese Strolche! Das müssen die Neuen gewesen sein. Unsere Jungens machen das nicht mehr.“

„Na gut, gehn wir jetzt.“

Sie traten in das Arbeitszimmer, dessen geringste Einzelheiten ihnen während ihres langen Heimaufenthaltes vertraut geworden waren, und blieben vor dem Direktor stehen. Vikniksor saß am Schreibtisch, einen Pappschirm über den Augen, und las. Er schob den Schirm hoch und sah die Jungen an. „Was wollt ihr?“

Jankel trat vor und begann mit stotternder, aber entschlossener Stimme zu reden.

„Viktor Nikolajewitsch, wir wollen die Schule verlassen. Ja, wir wollen sie verlassen, denn wir sind jetzt erwachsen.“

Vikniksor nahm den Pappschirm ab und musterte die Jungen mit kaum merklichem Spott von Kopf bis Fuß, als wollte er sich vergewissern, ob sie tatsächlich herangewachsen waren. Äußerlich schienen die Jungen nicht verändert zu sein, sogar ihre Gesichter waren etwas aufgeregt wie immer, wenn sie mit einem Erzieher sprachen, aber aus der Stimme von Grischka Tschornych, Zögling der vierten Abteilung, klangen ganz neue, ungewohnte Töne.

„Viktor Nikolajewitsch“, fuhr Grischka Tschornych mutig fort, „bei Gott, wir sind erwachsen. Als ich in die Schule kam, war ich dreizehn Jahre alt. Vieles verstand ich nicht. Zehn Stunden Unterricht am Tag hielt ich für eine Strafe. Ich glaubte damals, Unterricht und Karzer wären ein und dasselbe. Und vor dem Karzer hatte ich Angst. Jetzt bin ich sechzehn und kann mich nicht mehr mit dem engen Rahmen der Schulordnung abfinden. Ich kann es wirklich nicht mehr. Trotz aller Achtung vor dem Karzer, der fünften Gruppe und Ihnen, Viktor Nikolajewitsch…“

„Ja, auch vor Ihnen, Viktor Nikolajewitsch“, bestätigte Ljonka Pantelejew. Vikniksor sah Ljonka an, und ihm fiel wahrscheinlich ein, daß er vor zweieinhalb Jahren in demselben Zimmer, an demselben Tisch schon einmal mit dem Jungen gesprochen hatte.

„…und vor Ella Andrejewna“, zählte Jankel weifer auf, „vor Onkel Sascha, der 'Chronik' und den Geschichtsstunden. Wir sind der Dostojewski-Schule sehr dankbar. Sie hat uns vieles gelehrt. Doch jetzt sind wir erwachsen. Wir wollen arbeiten. Wir spüren unsere Kraft…“ Jankel reckte sich und wölbte unwillkürlich die Brust. Ljonka ballte die Fäuste und bog den Arm, als wollte er Vikniksor seine Muskeln zeigen.

In stummer Erwartung sahen sie den Direktor an. Nachdenklich saß Vikniksor da, ein kaum merkliches, verständnisvolles Lächeln auf den Lippen. Dann stand er auf, ging durch den Raum und maß die beiden Jungen noch einmal mit einem eindringlichen Blick.

„Ihr habt recht“, sagte er dann.

Jankel und Ljonka fuhren vor Erleichterung zusammen. „Ihr habt recht“, wiederholte Vikniksor. „Ihr habt jetzt das ausgesprochen, was ich euch in einem halben Jahr sagen wollte. Ich sehe, daß ich mich etwas in der Zeit geirrt habe. Ihr seid ein halbes Jahr früher reif geworden. Die Schule hat euch als kleine Diebe, als Strolche aufgenommen. Jetzt seid ihr aber herangewachsen, und ich spüre, daß die Zeit, die ihr in der Schule verbracht habt, für euch nicht umsonst war. Ich habe schon längst erkannt, daß ihr durch die Umerziehung stark genug geworden seid, um ins Leben zu treten. Ich weiß, ihr werdet künftig keine Parasiten, kein Abschaum der Gesellschaft mehr sein, und deshalb sage ich euch ganz offen: Ich halte euch nicht zurück. In einem halben Jahr wollte ich die erste offizielle Entlassung vornehmen und allen Entlassenen Arbeit vermitteln, aber ihr wollt nicht so lange warten. Nun — da kann ich euch nur gute Reise wünschen. Tut ungehindert, was ihr für richtig haltet… Wenn es euch aber schwerfallen sollte, eine Beschäftigung zu finden, dann kommt zu mir. Ich will versuchen, euch dabei zu helfen. Ihr seid es wert. Und die amerikanischen Decken wollen wir vergessen. Die Jungkommunarden sind zu mir gekommen, haben sich für euch verbürgt und versprochen, den Dieb ausfindig zu machen.“


Vom Weggang der Blutsbrüder erfuhren die Schkider erst zwei Tage später, als Jankel und Ljonka mit ihren Entlassungssachen — der „Mitgift“, wie es die Schkider nannten — von der Kleiderkammer der Abteilung Volksbildung zurückkamen. Sie hatten neue Mäntel, Mützen, Stiefel und Anzüge erhalten, waren dann in der Kanzlei gewesen, um ihre Papiere abzuholen, und kamen nun zu den Kameraden, um sich zu verabschieden.

Alnikpop gab gerade Geschichtsunterricht.

Mit erheuchelter Strenge schrie er wie gewöhnlich auf die Jungen ein, während er das Geschichtspensum wiederholte und dabei das wirtschaftliche Moment herausarbeitete. Die Blutsbrüder blieben an der Tür stehen. Dann ging Jankel zu Alnikpop hin.

„Auf Wiedersehen, Onkel Sascha“, sagte er leise. „Wir gehen fort. Vielleicht treffen wir uns einmal wieder…“

„Was denn sonst, Kinder!“ Alnikpop erhob sich. „Natürlich sehen wir uns wieder. Für euch ist es wirklich Zeit, das Leben zu beginnen. Was da für Hühner herangewachsen sind!“ Lächelnd reichte er den Blutsbrüdern die Hand. „Ich wünsche euch Erfolg. Euer Weg möge geradlinig und gut sein!“

„Vielen Dank, Onkel Sascha.“

Der Unterricht war gesprengt, aber Alnikpop schalt nicht, als die ganze Klasse aufstand, um die Kameraden zur Tür zu bringen. Den Zurückbleibenden fiel der Abschied genauso schwer wie den Scheidenden. Sie hatten doch fast drei Jahre unter einem Dach verbracht, hatten zusammen randaliert und gelernt. Und selbst irgendwelche Streitereien wurden plötzlich zu einer angenehmen Erinnerung. An der Haustür blieben sie stehen.

„Na, dann auf Wiedersehen“, brummte Japs und schlug den Blutsbrüdern auf die Schulter. „Verduftet!“ Seine Nasenspitze rötete sich. „Haut ab, ihr Teufel!“

„Alles Gute, Jungens!“

„Denkt mal an die Schkid!“

„Besucht uns wieder. Vergeßt eure Kameraden nicht.“

„Ihr dürft uns auch nicht vergessen!“ Hooliganien drängte sich in einem wirren Haufen um die Scheidenden.

Jeder wollte ihnen noch etwas sagen, jeder versuchte, seine Freundschaft irgendwie auszudrücken.

Der Dienslhabende kam, steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und öffnete die Tür.

„Na!“ Jankel griff nach der Klinke. „Nun behaltet uns in gutem Angedenken, Leute!“

„Keine Sorge, das tun wir.“

„Lebt wohl, Jungkommunarden!“ Ljonka lächelte über das breitknochige Gesicht. „Lebt wohl und vergeßt nicht, die Deckenklauer zu suchen!“

„Die finden wir schon!“ riefen ihm viele Stimmen nach. „Keine Bange, die kriegen wir!“

Die Blutsbrüder gingen hinaus. Hinter ihnen klappte die Haustür zu, der Diensthabende klirrte mit dem Schlüsselbund, und die Sicherheitskette schwang dreimal rasselnd hin und her. „Weg sind sie!“ sagte Japs vor sich hin. Ihm fiel Zigeuner ein, der vor nicht allzulanger Zeit ebenfalls fortgegangen war; er dachte an Kutscher und an den Gewissenlosen und zog dann die Schlußfolgerung: „Sie sind weg, und bald gehe ich auch.“ Dann sah er dem Propheten in das zerfurchte Gesicht. „Traurig ist es trotzdem, Onkel Sascha.“ Alnikpops Kneifer blitzte auf. Er überlegte einen Augenblick. „Ja, natürlich ist es traurig“, meinte er dann leise. „Aber das macht nichts, ihr werdet euch wiedersehen. So muß es sein. Sie sind ins Leben getreten.“

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