GEBT UNS POLITISCHE BILDUNO

Vom Komsomol Gebt uns politische Bildung * Der Mann mit den Ledergamaschen Mutlergottes * Die Verfassung von 1871 * In Tabakwolken * Ein richtiger Lehrer für Gesellschaftswissenschaft.


Häufig fragten die Hooliganier Vikniksor, den Präsidenten ihrer Republik: „Viktor Nikolajewitsch, warum wird in unserer Schule keine Komsomolgruppe organisiert? Erklären Sie uns das bitte.“ Der Präsident runzelte die Stirn.

„Ganz einfach“, erwiderte er zögernd. „Wir sind eine Schule für Schwererziehbare. In Gefängnissen und in Schulen für Schwererziehbare dürfen keine Komsomolgruppen gebildet werden.“

„Aber wir randalieren doch gar nicht!“

„Trotzdem. Bevor ihr nicht vollständig gebessert seid, ist es unmöglich. Beim Verlassen der Schule werdet ihr gleichberechtigte Bürger. Dann könnt ihr in den Komsomol und in die Partei eintreten.“ Die Bürger der Schwererziehbarenrepublik Schkid seufzten und träumten von der Zeit, in der sie gleichberechtigte Bürger eines anderen Staates — der großen Sowjetrepublik — sein würden. Einstweilen befaßten sie sich mit politischem Selbststudium. Sie lasen Adam Smith, Bucharin, Kautsky und Lenin. Eine Zeitlang blieb alles still. Doch eines Tages erhob sich ein Sturm.

„Wir wollen gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht!“ war die Losung.

Eine Delegation wurde zu Vikniksor geschickt.

„Wir möchten Gesellschaftswissenschaft als Unterrichtsfach haben — neben Geschichte, Geographie und Geometrie.“ Vikniksor kratzte sich eine Augenbraue. „Wollt ihr das wirklich?“ fragte er.

„Ja, unbedingt, Viktor Nikolajewitsch. Und wir glauben, das ist möglich.“

„Möglich wohl, aber nicht einfach“, meinte der Direktor. „Setzen Sie doch die zuständigen Stellen unter Druck.“

„Gut“, versprach Vikniksor, „das will ich tun. Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen und mein möglichstes versuchen.“ Der graue Schulalltag ging weiter. Herbstliche Regentropfen trommelten gegen die Fenster, und abends heulte der Wind im Schornstein wilde, traurige Lieder…

Vom Sommer und vom Randalieren erschöpft, suchten die Schkider Ruhe im Studium, in den langen Unterrichtsstunden und in den dicken oder dünnen Büchern, die dienstags oder donnerstags von der Bibliothekarin Marja Fjodorowna ausgegeben wurden. Der von Vikniksor versprochene und von den Schkidern nicht vergessene gesellschaftswissenschaftliche Unterricht ließ jedoch nichts von sich hören. Vikniksor sagte nichts, und die Jungen wußten nicht, ob er sich darum bemühte oder nicht.

Aber eines Tages tauchte die politische Bildung auf. Sie erschien in Gestalt eines farblosen, stotternden Männleins. Das Männlein hatte einen schmalen, glattrasierten Kopf, eine blaue Soldatenjacke mit herabhängenden Fäden an Stelle der Knöpfe und gelbe, rissige Ledergamaschen.

Der Mann kam zu den Hooliganiern in die Klasse. „Ich werde euch po-politischen Unterricht geben“, stotterte er. Hooliganien begrüßte ihn mit einträchtigem „Hurra“ und Händeklatschen. Die lang erwartete Gesellschaftswissenschaft war da. „Wissarion Wenediktowitsch Bogorodizyn I[5]“ stellte sich das Männlein vor.

Das reizte zum Lachen. Politunterricht und Muttergottes in einem Atemzuge!


So 'ne Niete! Der hat ja keine Ahnung!


Gleich am ersten Tage wurde der Mann mit den Ledergamaschen „Muttergottes“ getauft. Er begann seinen Unterricht mit Fragen. „Was wißt ihr?“

Die meisten Jungen schwiegen. Aber Japs erhob sich und schnupfte auf.

„Einiges.“

„Was bedeutet RSFSR?“

„Russische Sozialdemokratische Föderative Sowjetrepublik“, schrie Spatz.

„Richtig!“ lobte der Lehrer stotternd. Die Jungen lachten. „Und was ist der Sowjet?“

„Die kommunistische Regierung.“

„Richtig!“ wiederholte der Prophet. Japs warf Falke einen Blick zu.

„So 'ne Niete! Der hat ja keine Ahnung“, flüsterte er. Dann richtete er das Wort an Muttergottes. „Dürfen wir Ihnen vielleicht Fragen stellen? Das wäre besser, glaube ich.“ „Richtig. Fragt nur.“ Japs überlegte.

„Wann wurde unsere Verfassung angenommen?“ fragte er dann. Muttergottes runzelte die niedrige Stirn und dachte nach… Da begriffen alle, daß er tatsächlich eine „Niete“ war. Wahrscheinlich hatte ihn nur der Zufall in die Schkid verschlagen, denn politisches Wissen besaß er überhaupt nicht. „Die Verfassung?“ fragte er zurück. „Wißt ihr das denn nicht?“ „Wenn wir es wüßten, würden wir nicht fragen.“

„Die Verfassung wurde 1871 in Stockholm angenommen.“ Japs prustete los. Die anderen lachten mit. „Und wann fand der Fünfte Sowjetkongreß statt?“

„Na, das müßtet ihr doch wissen.“

„Wir wissen es eben nicht.“

„1919.“

„Nicht vielleicht 1918?“

Muttergottes, der Lehrer für Gesellschaftswissenschaft, schlug errötend die Augen nieder.

„Wenn ihr das wißt, braucht ihr mich nicht zu fragen.“

„Wurde die Verfassung nicht auf dem Fünften Kongreß angenommen?“

Muttergottes duckte sich und errötete noch tiefer. Dann richtete er sich plötzlich auf.

„Welche Verfassung meint ihr eigentlich?“

„Die von der RSFSR.“

„Das hättet ihr gleich sagen sollen. Ich glaubte, ihr meintet nicht diese Verfassung, sondern die erste, die im Jahre 1905…“ Es war sonnenklar, daß Muttergottes alles andere als ein Lehrer für Gesellschaftswissenschaft war. Die Schkider sahen ihren Traum entschwinden. Sie johlten durcheinander, sie stellten alle möglichen gesellschaftswissenschaftlichen Fragen, um den Lehrer zu verspotten. „Was ist Imperialismus?“

„Das wißt ihr nicht? Jedes Kind kennt den Imperialismus. Das ist, wenn ein Imperator regiert.“

„Wer war Stepan Chalturin?“[6]

„Ein General, der sich augenblicklich mit dem Großfürsten Nikolai im Ausland befindet.“

Bis zum Klingeln prasselten die spöttischen Fragen der Hooliganier auf Muttergottes in den rissigen Ledergamaschen ein. Als er aber unter Gejohle und Gelächter die Klasse verlassen hatte, ließen die Jungen den Kopf hängen. „Randalieren macht Spaß, aber der Lehrer ist 'ne Niete.“

„Ja, wir haben uns zu früh gefreut.“

Abends kam Vikniksor in die Klasse und hörte sich den Bericht der Jungen an. „Schlecht, sagt ihr?“

„Hoffnungslos, Viktor Nikolajewitsch.“

„Ein schwaches politisches Wissen?“

„Überhaupt keines.“ Vikniksor überlegte. „Dumme Sache!“ „Wo haben Sie den eigentlich aufgegabelt?“ erkundigte sich Ljonka. „In der Abteilung Volksbildung. Ganz zufällig. Ich fragte nach einem Lehrer für Gesellschaftswissenschaft, und da kam der Kerl zu mir und sagte, er könne darin unterrichten. Daraufhin habe ich ihn probeweise eingestellt.“

„Die Probe hat er nicht bestanden.“ Jankel grinste. „Nein“, pflichtete der Direktor bei, „das hat er nicht. Wir werden einen anderen suchen.“

Muttergottes gab in der Schkid keinen gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht mehr. Er verschwand, ohne sich von jemandem zu verabschieden, und seine Ledergamaschen tauchten niemals wieder auf. Vielleicht unterrichtet er jetzt irgendwo in elektrolytischer Krankenbehandlung oder angewandter Kosmographie… Vielleicht ist er auch Hungers gestorben, weil er keinen passenden Beruf fand.

Menschliche Silhouetten verschwammen in Wolken von Tabakrauch. Eine Schreibmaschine ratterte wie ein Maschinengewehr, und aus dem Nebenzimmer rasselte eine andere Schreibmaschine die Antwort. „Hören Sie, Genösse!“ rief einer vergnügt. „Geben Sie bitte die Sache in Zimmer 2 ab.“

„Zimmer 2? Vielen Dankl“ rief eine ebenso vergnügte Stimme aus der Ferne zurück.

Im Bezirkskomitee des Komsomol lief die Arbeit auf Hochtouren. Menschliche Silhouetten huschten durch den Tabakrauch. An den zerfetzten Gobelins der Wände hingen kleine, weiße, handgeschriebene Schilder:



Vikniksor tastete sich von Schild zu Schild an den Wänden entlang. Er ertrank fast in den Rauchwolken, fand aber trotzdem das Schild mit der Aufschrift:



Darunter saß ein junger bartloser Mann in Lederjacke und mit glattrasiertem Schädel. „Wollen Sie zu mir, Genösse?“

„Ja. Sie sind für Politbildung zuständig?“

„Bin ich. Worum handelt es sich?“

„Sehen Sie… Ich leite ein Kinderheim… Wir haben etwa sechzig Jungen… Sie möchten gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht haben. Gibt es in Ihrem Komitee vielleicht einen entsprechenden Lektor?“

Der Politbildungsmann fuhr sich über die hohe, glatte Stirn. „Besteht in Ihrem Heim eine Zelle oder ein Kollektiv des Komsomol?“

„Nein, das ist gerade der wunde Punkt. Ich muß Ihnen sagen, daß wir ein gefängnisähnliches Heim haben, eine Besserungsanstalt für Schwererziehbare.“ „Aha, ich verstehe… Das sind wohl Verwahrloste, Straßenjungen?“

„Ja. Aber sie wollen trotzdem lernen.“

„Moment.“

Der Politbildungsmann drehte sich um, nahm den Telefonhörer ab und drückte auf den Knopf.

„Politschule? Genösse Fjodorow, hast du vielleicht einen Instrukteur für ein Schwererziehbarenheim? Ja? Ausgezeichnet.“ Er legte den Hörer auf. „Geht in Ordnung. Lassen Sie Ihre Adresse da, morgen schicken wir einen.“


Gegen Abend kam er in die Schkid.

Die Hooliganier hatten das Licht ausgedreht und hockten um den warmen Ofen. Der Widerschein der Flammen glitt über die Wände und die seit dem Brand verrußte Decke. Von der Hitze glühten die Wangen und Knie der Jungen. Er trat in die Klasse und ging unbemerkt zum Ofen. „Wärmt ihr euch, Genossen?“ fragte er.

Die Jungen wandten sich um. Vor ihnen stand ein junger, nicht sehr großer Mann mit zurückgekämmtem Haar. Er hatte eine Segeltuchtasche in der Hand.

„Ja.“

„So. Ich bin ein Instrukteur vom Bezirkskomitee und soll euch in Gesellschaftswissenschaft unterrichten.“

Die Schkider schrien nicht hurra. Muttergottes hatte ihnen die Erfahrung beigebracht, daß die Gesellschaftswissenschaft ein unsicheres Pflaster sein kann.

„Setzen Sie sich.“ Jankel machte einen krummbeinigen Schemel frei. „Danke“, antwortete der Instrukteur. „Wir haben beide Platz.“ Er setzte sich und hielt die Hände an den Ofen. „Lest ihr Zeitungen?“

„Selten. Wenn wir zufällig eine bekommen, lesen wir sie. Unser Etat ist zu klein, um eine zu abonnieren.“ „Seid ihr trotzdem einigermaßen auf dem laufenden? Habt ihr vom vierten Jugendkongreß gelesen?“

„Etwas.“

„So. Und daß eine Delegation unserer Republik zur Konferenz von Genua eingeladen ist?“

„Ja.“

„Was meint ihr — soll man eine hinschicken?“

Unversehens kamen sie ins Gespräch. Die Jungen wurden lebhaft. Sie antworteten, stritten, fragten… und merkten dabei gar nicht, wie die Zeit bis zum Schlafengehen verstrich.

„Ich werde auch Erzieher bei euch sein“, sagte der Instrukteur, als er sich verabschiedete. „Der Direktor hat mich dazu aufgefordert.“ Diesmal riefen die Hooliganier wie aus einem Munde aufrichtig: „Hurra!“

Als sie sich dann auskleideten, tauschten sie ihre Eindrücke aus. „Das ist ein feiner Bursche! Keine Muttergottes, sondern ein richtiger Lehrer für Gesellschaftswissenschaft.“

Endlich hatte sich der Traum der Schkider verwirklicht — der lang ersehnte Lehrer war da.

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