6
Die Reportermeute vor dem Presbyterian Hospital machte Chel noch nervöser, als sie ohnehin schon war. Die Ärztin, mit der sie telefoniert hatte, hatte gesagt, der Fall müsse absolut vertraulich behandelt werden. Chel war das nur recht. Ihre Beweggründe hier waren kompliziert, und je weniger Aufmerksamkeit sie auf sich zog, desto besser. Aber irgendetwas musste passiert sein, irgendetwas Schlagzeilenträchtiges: Der Parkplatz des Krankenhauses wimmelte regelrecht von Fernsehteams und Kameras und Reportern.
Chel blieb einen Augenblick im Auto sitzen und überlegte, wie groß die Chance war, dass die Anwesenheit der Medien etwas mit dem Grund ihres Besuchs hier zu tun haben könnte. Wenn sie hineinging und es stellte sich heraus, dass es eine Verbindung gab zwischen dem Patienten und dem Maya-Kodex, kam sie womöglich in ernste Schwierigkeiten. Wenn sie aber nicht hineinging, würde sie vielleicht nie erfahren, warum ein kranker Indio das Maya-Wort für »Buch« oder »Kodex« ständig wiederholte – und das einen Tag, nachdem Gutierrez aufgetaucht und ihr das möglicherweise bedeutendste Dokument in der Geschichte ihres Volkes anvertraut hatte. Chels Neugier siegte über ihre Angst.
Zehn Minuten später stand sie neben Dr. Thane am Bett des Patienten im sechsten Stock des Krankenhauses. Zutiefst bestürzt betrachtete sie den Mann, der sich schwitzend und offenbar unter Schmerzen hin und her wälzte. Chel wusste nicht, wie er hierhergekommen war, aber weit weg von zu Hause an einem fremden Ort zu sterben war das denkbar schlimmste Schicksal.
»Wir müssen herausfinden, wie er heißt, wie er hierhergekommen ist, wie lange er schon in den Staaten ist und wann er krank geworden ist«, sagte Thane. »Alles, was Sie in Erfahrung bringen können. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.«
Chel nickte und sah wieder John Doe an. »Chaqi’j, i’j-chi …«, murmelte er auf Qu’iche.
»Er möchte Wasser«, sagte Chel zu Thane. »Können Sie ihm welches holen?«
Thane zeigte auf den Tropf des Patienten. »Er ist garantiert nicht so ausgetrocknet wie ich im Moment.«
»Er sagt, er hat Durst.«
Die Ärztin nahm den Krug vom Nachttisch neben John Does Bett, füllte ihn am Waschbecken mit Wasser und schenkte ihm dann einen Becher voll ein. Der Mann griff mit beiden Händen danach und trank ihn hastig aus.
»Ist es gefährlich, wenn man näher rangeht?«, fragte Chel.
Thane schüttelte den Kopf. »Die Krankheit wird durch verseuchtes Fleisch übertragen. Mit dem Mundschutz soll verhindert werden, dass wir ihn mit irgendetwas infizieren. Sein Immunsystem ist stark geschwächt.«
Chel zog ihren Mundschutz zurecht und trat näher an das Bett. Sie betrachtete den Mann aufmerksam. Es war unwahrscheinlich, dass er ein Händler war: Die Maya, die an den größeren Straßen von Guatemala den vorbeikommenden Touristen ihre Waren anboten, schnappten ein paar Brocken Spanisch auf. Er hatte weder Tätowierungen noch Piercings, er war also auch kein Schamane oder Priester. Aber seine Handflächen waren schwielig, am Ansatz der Finger hatte sich eine harte Hornhaut gebildet, und die Haut war vom Knöchel bis zum Daumenballen aufgesprungen und rissig. So sah eine Hand aus, die mit der Machete arbeitete, jenem Werkzeug, das die Indios zum Roden des Urwalds benutzten – und mit dem sich Plünderer auf der Suche nach antiken Ruinen einen Weg durchs Dickicht bahnten.
Konnte es sein, dass das der Mann war, der die Handschrift entdeckt hatte?
»Okay, fangen wir mit seinem Namen an«, sagte Thane.
»Wie ist der Name deiner Familie, Bruder?«, fragte Chel ihn. »Ich bin eine Manu. Mein Taufname ist Chel. Wie nennt man dich?«
»Rapapem Volcy«, flüsterte er mit rauer Stimme.
Rapapem bedeutete »Flug«. Volcy war ein gängiger Familienname. Seiner Aussprache nach dürfte der Mann aus dem südlichen Petén stammen, vermutete Chel.
»Meine Familie kommt aus Petén. Und deine?«
Volcy schwieg. Chel stellte die Frage anders, doch sie bekam keine Antwort mehr.
»Wann ist er in die Vereinigten Staaten gekommen?«, fragte Thane.
Chel übersetzte. »Er sagt, vor sechs Sonnen.«
Thane machte ein überraschtes Gesicht. »Erst vor sechs Tagen?«
Chel wandte sich wieder zu Volcy hin. »Bist du über Mexiko hierhergekommen?«
Der Mann wand sich im Bett und antwortete nicht. Er schloss die Augen und stöhnte wieder: »Wuuh …«
»Und was hat es damit auf sich?«, fragte Thane. »Wuuh oder wuudsch, oder? Was bedeutet das? Ich habe alle möglichen Schreibweisen nachgeschaut, aber nichts gefunden.«
»Es heißt W-u-j, das Qu’iche-Wort für das Popol Vuh, das heilige Buch, das den Schöpfungsmythos unseres Volkes erzählt.« Diese Version hatte sich Chel gerade einfallen lassen. »Er weiß, dass er schwer krank ist, das Buch gibt ihm wahrscheinlich Trost.«
»Sollen wir ihm eine Kopie besorgen?«
»Nicht nötig.« Chel zog ein abgegriffenes Exemplar des heiligen Buches aus ihrer Tasche und legte es auf den Nachttisch. »Für ihn ist dieses Buch ungefähr das Gleiche wie für einen Christen die Bibel.«
Ein Indio würde niemals nur Wuh sagen, wenn er das Popol Vuh meint. Wuh bedeutete in der Sprache der Maya »altes Buch«. Doch hier würde niemand ihre Behauptung infrage stellen.
»Mal sehen, ob er uns sagen kann, wann er krank wurde«, sagte Thane. »Fragen Sie ihn, ob er sich erinnern kann, wann er das erste Mal Probleme mit dem Schlafen hatte.«
Chel übersetzte in Qu’iche. Volcy öffnete die Augen ein wenig und murmelte: »Im Dschungel.«
Chel sah ihn verdutzt an. »Du bist schon im Dschungel krank geworden?«
Er nickte.
»Du warst also schon krank, als du hierhergekommen bist, Volcy?«, fragte Chel, um ganz sicherzugehen.
»Ich habe drei Sonnen, bevor ich hierherkam, nicht geschlafen.«
»Er ist schon in Guatemala krank gewesen?«, fragte Thane. »Sie sind absolut sicher, dass er das gesagt hat?«
Chel nickte. »Warum? Was heißt das?«
»Das heißt, dass ich dringend ein paar Anrufe erledigen muss.«
***
Chel legte Volcy die Hand auf die Halsbeuge und massierte die Stelle mit sanften Bewegungen. Ihre Mutter hatte das oft bei ihr gemacht, als sie noch klein war, um zu beruhigen, wenn sie schlecht geträumt hatte oder wenn sie hingefallen war und sich wehgetan hatte. Und ihre Großmutter hatte das Gleiche bei ihrer Mutter getan. Es dauerte nicht lange, bis Chel spürte, wie die verkrampften Muskeln des Kranken sich lockerten. Sie wusste nicht, wie lange die Ärztin weg sein würde. Daher beschloss sie, die Gelegenheit zu nutzen.
»Sag mir, Bruder«, flüsterte sie, »warum bist du von Petén hierhergekommen?«
»Riq to’-ib che u banik Janotha«, murmelte Volcy heiser.
Hilf mir, Janotha zu finden.
Janotha. Das war ein gängiger Maya-Name.
»Bitte. Ich muss zurück zu meiner Frau und zu meiner Tochter.«
Chel beugte sich näher zu ihm hin. »Du hast eine Tochter?«
Er nickte schwach. »Sama. Sie ist gerade geboren. Jetzt muss Janotha allein für sie sorgen.«
Chel kam ins Grübeln. Durch eine Laune des Schicksals hätten die Rollen vertauscht und sie hätte ganz leicht Janotha sein können, die in ihrer mit Palmwedeln gedeckten Hütte ihr Neugeborenes versorgte und darauf wartete, dass ihr Mann nach Hause zurückkam, in die leere Hängematte, die vom Dach baumelte. Irgendwo in Guatemala knetete Janotha Tortillas aus Maismehl, die sie über der Feuerstelle backen würde, und redete beruhigend auf ihre kleine Tochter ein, versprach ihr, dass ihr Vater bald zu ihnen zurückkommen würde.
Volcy schien immer wieder das Bewusstsein zu verlieren, doch Chel beschloss, die Zeit zu nutzen. »Kennst du das alte Buch, Bruder?«
Er nickte.
»Ich habe das Wuj gesehen, Bruder. Kannst du mir etwas darüber sagen?«
Volcy wirkte plötzlich ganz klar. Er starrte sie an und erwiderte: »Ich habe nur getan, was jeder Mann tun würde, der eine Familie zu ernähren hat.«
»Was hast du denn getan? Hast du das Buch verkauft?«
»Es war ganz zerfallen«, flüsterte er. »Auf dem Boden des Tempels … ausgetrocknet in hunderttausend Tagen.«
Chel hatte also recht gehabt: Der Mann da vor ihr war ein Plünderer. Die angespannte Lage in Guatemala ließ den Indios wie Volcy, die von ihrer Hände Arbeit leben mussten, keine große Wahl. Aber dann war er wider Erwarten auf einen Tempel gestoßen, in dem er ein Buch gefunden hatte, ein Buch, das, wie er instinktiv erkannt hatte, in Amerika ein Vermögen bringen würde. Das Erstaunliche daran war nur, dass es ihm gelungen war, das Buch tatsächlich hierher zu bringen.
»Hast du das Buch nach Amerika gebracht, um es zu verkaufen, Bruder?«
»Je’«, antwortete Volcy. Ja.
Chel warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass sie noch allein waren. »Und, hast du es verkauft? Hast du es Hector Gutierrez verkauft?«
Volcy schwieg.
Chel versuchte es anders. Sie zeigte auf ihre Wange und fragte: »Hast du es einem Mann verkauft, der hier einen roten Tintenfleck hat? Da, wo sein Bart aufhört?«
Volcy nickte.
»Wo hast du ihn getroffen? Hier oder in Petén?«
Er zeigte auf den Fußboden, auf dieses fremde Land, in dem er zweifellos sterben würde. Volcy hatte eine Tempelruine entdeckt, das Buch an sich genommen, die weite Reise hierher gemacht und war dann irgendwie an Gutierrez geraten. Binnen einer Woche hatte die alte Handschrift ihren Weg zu Chels Labor im Museum gefunden.
»Wo ist dieser Tempel, Bruder?«, fragte sie. »Es könnte viel Gutes für unser Volk dabei herauskommen, wenn du mir sagst, wo er ist.«
Doch statt zu antworten, warf er sich auf die Seite, die wild rudernden Arme nach dem Wasserkrug ausgestreckt. Telefon und Wecker fielen krachend zu Boden. Volcy packte den Wasserkrug mit zitternden Händen und schüttete sich den Rest Wasser in den Mund. Chel war erschrocken zurückgewichen und hatte dabei ihren Stuhl umgeworfen.
Als Volcy erschöpft in die Kissen zurücksank, stellte Chel ihren Stuhl wieder auf und setzte sich hin. Dann trocknete sie ihm mit einem Zipfel seiner Decke das Gesicht ab. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, um die Antworten zu bekommen, die sie brauchte. »Kannst du mir sagen, wo Janotha wohnt? Aus welchem Dorf seid ihr? Wir können deiner Familie eine Nachricht zukommen lassen, damit sie wissen, wo du bist.« Der Tempel konnte nicht allzu weit von seinem Haus entfernt sein.
Volcy sah verwirrt drein. »Wen willst du dahin schicken?«
»Die Fraternidad Maya hat viele Mitglieder aus ganz Guatemala. Irgendjemand kennt bestimmt den Weg zu deinem Dorf.«
»Fraternidad?«
»Das ist unsere Kirche«, erklärte Chel. »Wo die Maya sich hier in Los Angeles zum Beten versammeln.«
Ein misstrauischer Ausdruck trat in Volcys Augen. »Fraternidad ist Spanisch. Ihr betet mit den ladinos?«
»Nein, nein. Die Fraternidad ist ein sicherer Ort für die indı´genas.«
»Einem ladino sage ich gar nichts!«
Chel begriff, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Fraternidad war Spanisch für »Bruderschaft«. Für die Menschen in Los Angeles war der Mix aus Spanisch, Englisch und der Maya-Sprache ganz normal. Aber da, wo Volcy herkam, stand man einer Maya-Kirche mit einem spanischen Namen misstrauisch gegenüber.
»Die Fraternidad weiß gar nichts«, fuhr Volcy mit erstaunlich fester Stimme fort. »Ich werde die ladinos nie zu Janotha und Sama führen. Du bist ajwaral!«
Es gab kein englisches Wort dafür. Wörtlich bedeutete es: »Du bist eine von hier.« Volcy wollte damit seine Verachtung zum Ausdruck bringen. Obwohl Chel aus einem kleinen Dorf stammte so wie er, obwohl sie ihr Leben dem Studium ihrer Vorfahren gewidmet hatte, würde sie für Menschen wie Volcy immer eine Außenseiterin bleiben, eine Fremde.
»Dr. Manu?«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Sie drehte sich um. Ein Mann in einem weißen Laborkittel stand in der Tür.
»Ich bin Gabriel Stanton.«
***
Chel folgte dem Arzt an dem Sicherheitsbeamten vorbei, der ebenfalls einen Mundschutz trug, hinaus auf den Flur. Stanton sprach mit Bestimmtheit, und seine Größe verlieh ihm ein Ehrfurcht gebietendes Auftreten. Chel fragte sich, wie lange er wohl schon in der Tür gestanden hatte. Ahnte er, dass sie eine persönliche Beziehung zu diesem Patienten hatte?
Er wandte sich zu ihr um. »Mr Volcy sagt also, er sei schon krank gewesen, bevor er in die Staaten gekommen ist?«
»Ja, das hat er gesagt.«
»Wir müssen ganz sicher sein«, sagte Stanton. »Wir haben hier in L.A. nach dem Infektionsherd gesucht. Aber wenn das stimmt, was er sagt, müssen wir in Guatemala suchen. Hat er gesagt, wo genau er herkommt?«
Chel schüttelte den Kopf. »Seinem Akzent nach dürfte er aus Petén kommen. Das ist der größte Regierungsbezirk des Landes. Mehr war nicht aus ihm herauszukriegen. Er will auch nicht sagen, wie er in die Staaten gekommen ist.«
»So oder so – wir können uns bei unserer Suche auf Fleisch aus Guatemala konzentrieren. Und wenn er aus einem kleinen Dorf stammt, muss es etwas sein, zu dem er Zugang hat. Soviel ich weiß, sind dort unten etliche Tausend Hektar Regenwald abgeholzt worden, um Platz für Viehherden zu schaffen. Ist das richtig?«
Stanton kannte sich offenbar gut aus, und er schien ein kluger Bursche zu sein, wenn auch etwas einschüchternd. »Für die Viehherden und Maisfelder der Weißen, die ladinos für sich arbeiten lassen«, betonte Chel. »Für die Indios bleibt nicht viel übrig.«
»Volcy könnte sich über verseuchtes Fleisch von einer dieser Rinderfarmen infiziert haben. Wir müssen unbedingt wissen, was für Fleisch er gegessen hat, bevor die ersten Symptome aufgetreten sind. Er soll sich so weit wie möglich zurückerinnern. Rind vor allem, aber auch Huhn, Schwein – alles.«
»Die Dorfbewohner können bei einer einzigen Mahlzeit Fleisch von einem halben Dutzend verschiedener Tiere essen«, gab Chel zu bedenken.
Stanton betrachtete sie nachdenklich. Seine Brille war ein bisschen verbogen, wie ihr jetzt auffiel, und sie verspürte den unerklärlichen Drang, sie geradezubiegen. Er war mindestens dreißig Zentimeter größer als sie, und sie musste sich regelrecht den Kopf verrenken, um zu ihm aufzublicken. Das war etwas, was sie an Patrick gemocht hatte – dass er eher klein war für einen Weißen.
»Er muss sich unbedingt erinnern, er soll sich anstrengen, sagen Sie ihm das«, sagte Stanton.
»Ich tue, was ich kann.«
»Hat er gesagt, warum er hierhergekommen ist? Sucht er Arbeit?«
»Ich weiß es nicht, er hat nichts gesagt«, log sie. »Er ist immer wieder kurz bewusstlos geworden und hat gar nicht richtig geantwortet auf meine Fragen.«
Stanton nickte. »Das ist nicht ungewöhnlich für Patienten, die an Insomnie leiden.« Sie gingen ins Krankenzimmer zurück. »Versuchen wir es anders.«
Volcy hatte die Augen geschlossen, sein Atem ging schwer und keuchend. Chel war nervös. Sie fragte sich, wie er reagieren würde, wenn er sie sah, und für den Bruchteil einer Sekunde war sie drauf und dran, Stanton die Wahrheit über die Handschrift und über Volcys Rolle dabei zu erzählen.
Doch sie tat es nicht. Sie fürchtete, die Einwanderungs- und Zollbehörde oder das Museum könnten Wind davon bekommen. Und dann würde sie vielleicht nicht nur alles verlieren, wofür sie so hart gearbeitet hatte, sondern auch den Maya-Kodex.
»Von Alzheimer-Patienten wissen wir, dass Menschen mit so einer Hirnschädigung oft besser auf Fragen reagieren, wenn bestimmte Schlüsselwörter vorkommen«, fuhr Stanton fort. »Das Entscheidende ist, dass man immer einen Schritt nach dem anderen macht und sie von Frage zu Frage führt.«
Volcy schlug die Augen auf. Er sah erst Stanton an und richtete den Blick dann auf Chel. Sie betrachtete sein Gesicht prüfend. Doch es lag keine Feindseligkeit in seinem Ausdruck.
»Fangen Sie mit seinem Namen an«, forderte Stanton sie auf.
»Wir kennen seinen Namen doch.«
»Genau. Sagen Sie ihm: Dein Name ist Volcy.«
Chel wandte sich dem Patienten zu. »A bi’ Volcy.«
Als er nicht antwortete, versuchte sie es erneut: »A bi’ Volcy.«
»Nu bi’ Volcy«, sagte er schließlich. Mein Name ist Volcy. Seine Stimme klang ganz normal, ohne jede Spur von Aggressivität. Als hätte er die Sache mit der Fraternidad völlig vergessen.
»Er hat mich verstanden«, flüsterte Chel.
Stanton nickte. »Und jetzt fragen Sie ihn: Haben deine Eltern dich Volcy genannt?«
»Meine Eltern haben mich den Wagemutigen genannt«, lautete die Antwort.
»Nur weiter«, ermunterte Stanton sie. »Fragen Sie ihn, warum.«
Chel tat es. Und stellte erstaunt fest, dass Volcys Augen mit jeder Frage und mit jeder Antwort klarer wurden und dass sein Blick sich immer mehr schärfte.
»Warum haben sie dich den Wagemutigen genannt?«
»Weil ich immer Dinge gewagt habe, die kein anderer Junge gewagt hat.«
»Was war das?«
»Furchtlos durch den Dschungel streifen.«
»Wenn du als Junge furchtlos durch den Dschungel gestreift bist, wie hast du da überlebt?«
»Ich habe durch den Willen der Götter überlebt.«
»Die Götter haben dich als Junge im Dschungel beschützt?«
»Sie haben mich beschützt, bis ich sie als erwachsener Mann beleidigt habe.«
»Was ist passiert, nachdem sie dich als erwachsenen Mann nicht mehr beschützt haben?«
»Sie haben mich im Dschungel nicht mehr auf die andere Seite gelassen.«
»Die andere Seite? Du meinst, in den Traumzustand?«
»Sie haben nicht zugelassen, dass meine Seele sich ausruhen oder in der Geistwelt Kraft sammeln konnte.«
Chel unterbrach das Frage-und-Antwort-Spiel. Sie musste sichergehen, dass sie ihn richtig verstanden hatte. Sie beugte sich näher zu ihm hinunter und sagte: »Volcy. Du konntest nicht mehr in den Traumzustand hinüberwechseln, seit du im Dschungel warst? Seit du das alte Buch gefunden hast?«
Er nickte.
»Was ist?«, fragte Stanton. »Was sagt er?«
Chel achtete nicht auf ihn. Sie musste es wissen. Unbedingt. »Wo im Dschungel war dieser Tempel?«
Doch Volcy verfiel wieder in Schweigen.
Stanton wartete ungeduldig. »Warum antwortet er nicht mehr? Was haben Sie zu ihm gesagt?«
»Er sagt, er sei das erste Mal im Dschungel krank geworden«, antwortete Chel ausweichend.
»Warum war er im Dschungel? Stammt er von dort?«
»Nein.« Chel zögerte nur einen Atemzug lang. »Er ist in den Dschungel gegangen, um zu meditieren. Da habe er zum ersten Mal nicht mehr schlafen können.«
Stanton sah sie prüfend an. »Sind Sie sicher?«
»Ja, ganz sicher.«
Was spielte es für eine Rolle, warum der Mann in den Dschungel gegangen war? Ob er nun das alte Buch gesucht oder meditiert hatte – fest stand, dass er irgendwo im Regenwald krank geworden war.
»Und dann hat er den Dschungel verlassen und ist nach Norden gegangen?«, fragte Stanton.
»Scheint so.«
»Warum? Warum ist er ausgerechnet in die Staaten gekommen?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Könnte es dort im Dschungel, wo er … meditiert hat, Rinderfarmen geben?«
»Ich weiß nicht, über welchen Teil von Petén wir hier reden«, erwiderte Chel wahrheitsgemäß. »Aber Rinderfarmen gibt es überall im Hochland.«
»Was könnte er während seiner Zeit im Dschungel gegessen haben?«
»Alles, was man sammeln oder durch Fallenstellen erlegen kann.«
»Er schlägt also im Dschungel oder am Rand einer dieser Rinderfarmen sein Lager auf und bleibt ein paar Wochen dort. Er muss sich ja von irgendetwas ernähren. Kann es sein, dass er eine Kuh getötet hat?«
»Schon möglich.«
Stanton bat sie, weiterzumachen mit der Wortverknüpfungstechnik, was sie auch tat. Doch sie vermied es tunlichst, noch einmal nachzuhaken, warum Volcy in den Dschungel gegangen war.
»Hast du im Dschungel das Fleisch von einem Rind gegessen?«
»Es gab kein Rindfleisch, das ich hätte essen können.«
»Hast du im Dschungel das Fleisch eines Huhns gegessen?«
»Was für Hühner sollen denn im Dschungel leben?«
»Es gibt Hirsche und sonstiges Wild im Dschungel. Hast du ihr Fleisch gegessen?«
»Ich habe nie das Fleisch eines Hirschs über meiner Feuerstelle gekocht.«
»Hast du in der Wildnis eine steinerne Feuerstelle benutzt?«
»Wir haben Tortillas über dem Feuer gebacken.«
»Wurde in deinem Dorf Fleisch über dieser steinernen Feuerstelle zubereitet?«
»Chuyum-thul erlaubt kein Fleisch auf dem Feuer. Ich bin Chuyum-thul, der vom Himmel aus über den Regenwald herrscht und der meine menschliche Form seit meiner Geburt leitet.«
Chuyum-thul war ein Falke, offenbar Volcys Krafttier, das ihm der Schamane seines Dorfes zugewiesen hatte. Das wayob eines Menschen symbolisierte seine Eigenschaften: Der Furchtlose, ein König etwa, war ein Jaguar; der Lustige ein Brüllaffe, der Langsame eine Schildkröte. Vom Altertum bis zum heutigen Tag waren bei den Maya der Name eines Menschen und sein wayob austauschbar.
»Ich bin Pape, der Tigerstreifenschmetterling«, sagte Chel. »Meine menschliche Form erweist der Form meines wayob jeden Tag aufs Neue Ehre. Chuyum-thul weiß, dass du ihm die nötige Achtung erwiesen hast, wenn du seine Anweisungen für die Mahlzeiten befolgst.«
»Ich habe seine Anweisungen zwölf Monde lang befolgt«, flüsterte Volcy. Als er sah, dass Chel sich in ihn hineinzuversetzen vermochte, nahmen seine Augen einen fast zärtlichen Ausdruck an. »Er hat mir die Seelen der Tiere im Dschungel gezeigt und wie er über sie wacht. Er hat mir gesagt, dass kein Mensch sie zerstören darf.«
»Was sagt er?«, fiel Stanton ihr ins Wort.
Chel beachtete ihn auch diesmal nicht. Sie hatte Volcys Vertrauen zurückgewonnen, und sie wollte Antworten auf ihre eigenen Fragen haben, bevor er wieder das Bewusstsein verlor.
»War es der Falke, der dich zu dem großen Tempel geführt hat, zu dem Ort, der dir gegeben hat, was du brauchtest, um für deine Familie zu sorgen? Für Janotha und Sama?«
Er nickte langsam.
»Wie weit war es von deinem Dorf bis zu dem Tempel, zu dem Chuyum-thul dich geführt hat?«
»Drei Tagesmärsche.«
»In welche Richtung?«
Er antwortete nicht.
»Bitte, du musst mir sagen, in welche Richtung du drei Tagesmärsche gegangen bist.«
Aber Volcy hatte sich wieder in sich selbst zurückgezogen.
Frustriert änderte Chel ihre Taktik. »Zwölf Monde bist du den Anweisungen von Chuyum-thul gefolgt. Was für Anweisungen hat er dir gegeben?«
»Wenn ich mich zwölf Monde lang einer inneren Reinigung unterziehe, wollte er dafür sorgen, dass ich meinem Dorf zu großem Reichtum verhelfe«, murmelte Volcy. »Dann hat er mich zu dem Tempel geführt.«
Chel glaubte, sie hätte sich verhört. Eine innere Reinigung? Zwölf Monde lang?
Wie war das möglich?
Die innere Reinigung war ein uralter Brauch, der normalerweise von Schamanen oder Medizinmännern praktiziert wurde: Sie zogen sich in die Einsamkeit ihrer Höhle zurück, wo sie das Zwiegespräch mit den Göttern suchten und monatelang nur von Wasser und ein paar Früchten lebten.
»Du hast dich zwölf Monde lang einer inneren Reinigung unterzogen, Bruder?«, sagte Chel langsam. »So, wie Chuyum-thul es dir befohlen hat?«
Er nickte.
»Was zum Teufel sagt er?«, wollte Stanton wissen.
Chel drehte sich zu ihm um. »Sie haben gesagt, diese Krankheit wird durch Fleisch übertragen, nicht wahr?«
»Jede nicht genetisch bedingte Prionen-Erkrankung wird durch Fleisch übertragen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir herausfinden, was für Fleisch er gegessen hat. Je weiter er sich zurückerinnern kann, desto besser.«
»Er hat überhaupt kein Fleisch gegessen.«
Stanton sah sie verblüfft an. »Was sagen Sie da?«
»Er hat sich einer sogenannten inneren Reinigung unterzogen. Das heißt, kein Fleisch. Nicht einen einzigen Bissen.«
»Das ist unmöglich!«
»Wenn ich es Ihnen doch sage«, beharrte Chel. »Er ernährt sich seit einem Jahr vegetarisch.«