10
Die Straßenverkäufer, die die besten Plätze auf der dem Meer zugewandten Seite der Strandpromenade ergattert hatten, hatten ihre Panflöten und ihre Vogelhäuschen und ihre Haschpfeifen in Kisten gepackt und waren verschwunden. Es war kurz nach Mitternacht, und Polizeistreifen vertrieben Obdachlose und die letzten Feiernden vom Strand. Frauen und Männer, alle barfuß, tauchten auf dem dunklen Sand auf, als Stanton die Tür öffnete. Vor ihm stand Chel Manu.
Er bat sie mit einer Handbewegung zu den beiden verwitterten Korbsesseln in einer Ecke der Veranda. Vom Strand her schwärmten Leute in ihre Richtung wie frisch geschlüpfte Amphibien auf dem Weg an Land. Einige nickten Stanton im Vorbeigehen zu. Sie waren auf der Suche nach einem Unterschlupf für die Nacht, bis der Strand am anderen Morgen um fünf wieder geöffnet würde.
Ein großer kräftiger Asiate in einem schweren Mantel und einer Tarnhose, der ein Schild trug mit der Aufschrift FEIERT, ALS WÄRE ES 2012, stieg auf die Promenade und ließ sich dann genau gegenüber von Stantons Veranda mitten auf dem Ocean Front Walk auf den Hintern fallen. »Am 13. b’ak’tun ist es zu Ende!«
Stanton schüttelte nur den Kopf und wandte sich Chel zu, die den Mann mit einem Ausdruck musterte, den er nicht einordnen konnte.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er schließlich.
Ungläubig hörte er zu, als sie ihm von der Handschrift erzählte und warum sie wirklich im Krankenhaus gewesen war. Als sie geendet hatte, musste er sich beherrschen, um sie nicht zu packen und zu schütteln. »Warum zum Teufel haben Sie uns angelogen?«, stieß er hervor.
»Weil die Handschrift geraubt wurde und der Besitz strafbar ist. Aber da ist noch etwas, was Sie wissen sollten.«
»Was?«
»Ich glaube, der Fahrer des grünen Geländewagens, der den schweren Unfall auf der 101 verursacht hat, ist der Mann, von dem ich die Handschrift bekommen habe. Er heißt Hector Gutierrez. Er handelt mit antiken Kunstgegenständen.«
»Wie kommen Sie darauf, dass er es war?«
»Ich habe gesehen, wie er in genau so einem Wagen von meiner Kirche weggefahren ist.«
»Großer Gott«, murmelte Stanton. »War dieser Gutierrez krank, als er bei Ihnen war?«
»Eigentlich hat er nur sehr nervös auf mich gewirkt, aber ich kann mich auch täuschen.«
Stanton dachte über diese Informationen nach. »Ist Gutierrez je in Guatemala gewesen?«
»Keine Ahnung. Gut möglich.«
Ein Gedanke durchzuckte Stanton. »Augenblick mal. Sie sagten, Volcy sei schon krank gewesen, bevor er hierherkam. War das auch gelogen?«
Chel schüttelte den Kopf. »Nein, das hat er mir erzählt. Aber er war nicht im Dschungel, um zu meditieren«, fuhr sie kleinlaut fort. »Er hatte die Überreste eines Tempels entdeckt und das Buch von dort gestohlen. Und da, in der Nähe des Tempels, haben auch seine Schlafstörungen angefangen. Aber dass er ein Jahr lang kein Fleisch gegessen hat, das stimmt.«
Stanton war außer sich vor Wut. »Die guatemaltekischen Behörden haben aufgrund Ihrer Informationen Teams losgeschickt, die jede Milchfarm in Petén überprüfen. Sie halten das Ganze jetzt schon für reine Zeit-und Geldverschwendung. Und jetzt müssen wir ihnen sagen, dass unsere Dolmetscherin uns leider belogen hat und sie stattdessen doch bitteschön im Dschungel nach Ruinen suchen sollen?«
Ein Skateboardfahrer, der auf der Promenade vorbeirollte, rief ihm zu: »Entspann dich, Bruder!«
»Ich werde der Einwanderungsbehörde alles erzählen«, flüsterte Chel, als der Jugendliche außer Hörweite war.
»Scheiß auf die Behörden! Hier geht es um die öffentliche Sicherheit! Wenn Sie uns nicht angelogen hätten, hätten wir dem Mann noch mehr Fragen stellen können, und wir könnten den Dschungel jetzt auf der Suche nach dem wahren Infektionsherd durchkämmen!«
Chel fuhr sich mit zitternden Fingern durchs Haar. »Ja, das ist mir jetzt auch klar.«
Stanton atmete tief durch. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, fragte er: »Was hat er Ihnen sonst noch erzählt?«
»Er hat gesagt, der Tempel sei einen Dreitagesmarsch von seinem Dorf in Petén entfernt. Also wahrscheinlich weniger als hundert Meilen.«
»Wo genau liegt sein Dorf?«
Die Meeresbrise wehte Chel ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. »Das hat er nicht gesagt.«
»Also müssen wir den Infektionsherd wahrscheinlich in der Nähe dieser Ruinen suchen. Irgendeine kranke Kuh, deren Milch weiß Gott wohin transportiert wird. Der Erreger könnte sogar ins Trinkwasser gelangen. Was wissen wir denn schon?« Stanton schwieg einen Augenblick. »Hat er irgendeine Andeutung gemacht, die uns weiterhelfen könnte? Irgendetwas?«
Chel schüttelte den Kopf. »Er hat mir nur noch erzählt, dass sein Krafttier ein Falke ist und dass er eine Frau und eine Tochter hat.«
»Was ist ein Krafttier?«
»Jedem Maya wird bei seiner Geburt ein Tier zugeordnet. Seines ist Chuyum-thul, hat er gesagt. Der Falke.«
Stanton sah den sterbenden Gutierrez in der Notaufnahme vor sich. »Gutierrez hat gesagt: ›Der Vogelmann hat mir das angetan.‹ Ich glaube, er hat Volcy die Schuld gegeben, dass er krank geworden ist.«
»Warum sollte er das tun?«
»Vielleicht hat Volcy irgendein Nahrungsmittel über die Grenze mitgebracht, ohne zu ahnen, dass es das war, was ihn krank gemacht hat.«
»Und was könnte das sein?«
»Sagen Sie’s mir«, erwiderte Stanton. »Was würde ein Maya jemandem geben, mit dem er Geschäfte macht? Was könnte Gutierrez gegessen oder getrunken haben, das Milch oder ein verwandtes Produkt enthält?«
»Da gibt es viele Möglichkeiten«, meinte sie nachdenklich.
Stanton sprang auf. »Wir treffen uns hinter dem Haus bei meinem Auto«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, und stieß die Haustür auf.
»Wieso?«
»Weil wir das herausfinden werden, bevor Sie zur Polizei gehen.«