17
Meine scharlachroten Federn sind blau und gelb gestreift. Als ich hierherkam, war ich halb verhungert, und ich wäre vielleicht gestorben, wenn er mich nicht gerettet hätte. Ich flog mit meinem Schwarm, aber ich habe die anderen verloren, als wir durch Kanuataba zogen, und nur der Schreiber erhielt mich am Leben. Ich fraß die Würmer, die er aus der Erde zog. Es hat so lange nicht mehr geregnet, dass sogar die Würmer dürr und schrumpelig sind.
Ein scharlachroter Ara, der in meine Höhle geflogen ist, gibt mir, Paktul, königlicher Schreiber von Kanuataba, Kraft und Hoffnung. Bei meiner Geburt wurde mir der Ara als mein Krafttier zugewiesen, und immer wenn ich in meinem Leben einem begegnet bin, war er ein wichtiges Omen. Dieser hier kam in der Nacht, als Auxila ermordet wurde. Er war verletzt, und ich gab ihm Würmer zu fressen, weil ich keine Samenkapseln habe, die ich ihm geben könnte, und dann hieß ich ihn mit Blutstropfen aus meiner Zunge willkommen. Dadurch wurden wir eins.
In meinen Träumen nehme ich die Gestalt des Vogels an. Ich bin dankbar, dass er da ist, so wie er froh ist, dass ich da bin. Es kommt nicht oft vor, dass ein Krafttier seinen Menschen leibhaftig aufsucht, und das ist jetzt die einzige Freude, die ich habe.
Denn außer in unseren Träumen hat es immer noch nicht geregnet, und die Menschen von Kanuataba werden mit jedem Tag hungriger. Mais und Bohnen und Pfefferschoten sind schon fast so knapp wie Fleisch, und in ihrer Not essen die Menschen jetzt schon die dürren Zweige von Sträuchern.
Ich gebe meine Rationen den Kindern meiner Freunde. Ich halte oft Zwiesprache mit den Göttern, daher bin ich das Fasten gewöhnt, ich komme mit wenig aus.
Auxilas Tod vor zwölf Sonnen lässt mir keine Ruhe. Auxila war ein guter Mann, ein heiliger Mann. Sein Vater nahm mich bei sich auf, als ich ein kleiner elternloser Junge war.
Ich habe nur meinen Vater gekannt, da meine Mutter starb, als sie mich aus ihrem Schoß presste. Mein Vater war nicht in der Lage, sich allein um ein Kind zu kümmern, aber der König, Jaguar Imix’ Vater, erlaubte ihm nicht, sich eine zweite Frau zu nehmen. Da floh mein Vater zu dem großen See am Rande des Meeres, im Land unserer Vorfahren, und er schloss sich ihnen an, so wie der Vogel sich bald wieder seinem Schwarm anschließen wird. Er kam nie zurück. Ich war eine Waise, und Auxilas Vater nahm mich in seinem Hause auf und machte Auxila zu meinem Bruder.
Jetzt ist mein Bruder tot, ermordet von dem König, dem ich diene.
*
Ein halber Mond stand am Himmel, und der Abendstern würde durch Xibalba wandern, als ich mich mit meinem Ara auf den Weg zum Palast machte. Ich ließ mir meine Trauer über Auxilas Tod nicht anmerken, denn es wäre unklug, Missfallen über eine Entscheidung des Königs zu äußern. Ich war aus Gründen, die ich nicht kannte, zu ihm befohlen worden.
Der Ara und ich gingen an einigen Adligen vorbei, die müßig im großen Innenhof standen. Maruva, ein Mann aus dem Rat, der noch nie eine eigene Meinung vertreten hat, lehnte an einer der großen Säulen, die den Innenhof umgeben. Er wirkte zwergenhaft klein vor der sieben Mann hohen Säule. Er unterhielt sich mit einem Botschafter des Königs, der bekannt dafür ist, dass er vor den Toren der Stadt unter der Hand Rauschgifte verkauft. Die beiden musterten mich misstrauisch und tuschelten, als ich vorbeiging.
Als ich beim Palast angekommen war, führte eine der Wachen mich in die Gemächer des Königs. Er und seine Günstlinge hatten gerade ein Mahl eingenommen – noch so ein geheimes Ritual, an dem nur er und seine Speichellecker teilnehmen dürfen. Diese Männer hatten gerade ein Festmahl genossen. Der Geruch von Weihrauch stieg mir in die Nase und überlagerte den Geruch von gebratenem Fleisch. Der Weihrauchduft war bezeichnend. Ich bin schon öfter dazugekommen, als das Essen gerade vorbei war, und jedes Mal ist die Luft erfüllt vom bitteren Geruch des Weihrauchs, den sie verbrennen, um ihr Mahl zu heiligen. Die geheime Mischung der Kräuter, die verbrannt werden, ist eine Quelle der Macht für einen König, und der Duft von Weihrauch erfüllt Jaguar Imix mit großem Stolz. Als ich den Ara absetzte und mich hinkniete, um den widerlichen Kalksteinboden zu küssen, hatte sich der Duft verändert, ich konnte ihn nicht mehr auf der Zunge schmecken so wie früher.
Jaguar Imix rief mich zu sich und befahl mir, mich auf den Boden zu Füßen seines Throns zu setzen, der bei der Sonnenwende von der Sonne und bei Beginn der Erntezeit vom Mond angestrahlt wird. Jaguar Imix’ Züge sind scharf geschnitten, was ihm einen Ausdruck von Vornehmheit verleiht, aus dem er seine Macht schöpft. Seine Nase ist so spitz wie der Schnabel eines Vogels, und er zeigt seine flache Stirn als Zeichen seiner göttlichen Macht. Er gewandet sich in Baumwollstoffe, die auf den königlichen Webstühlen gewebt und in königlichem Grün gefärbt sind, und man sieht ihn fast nie ohne seinen Kopfputz in Form eines Jaguars.
Jaguar Imix, der heilige Herrscher, sprach. Seine Stimme dröhnte so laut, dass alle es hören konnten:
– Wir werden den großen Gott Akabalam ehren und ihm danken für die vielen Gaben, die er meinem souveränen Reich gemacht hat. Lasst uns ihn preisen! Wir werden dir, Akabalam, ein heiliges Festmahl widmen, ein kleines Zeichen des Dankes dafür, dass du uns mit deinen vielen Gaben gesegnet hast. Wir werden für alle Einwohner von Kanuataba ein Mahl zubereiten und so viel Fleisch auftischen, wie diese Stadt es noch nie gesehen hat. Mit diesem Fest wollen wir Akabalam ehren und ihn bitten, den Bau der neuen Pyramide unter seinen göttlichen Schutz zu stellen. –
Ich war verwirrt. Was für ein Fest meinte er? Und woher sollte in unserer darbenden Stadt das Essen für ein solches Fest kommen?
Ich sprach:
– Verzeihung, Königliche Hoheit, aber es soll ein heiliges Fest gefeiert werden? –
– Wie es die Stadt in hundert Drehungen des Kalenderrades nicht gesehen hat! –
– Was für ein Fest ist das? –
– Das wirst du rechtzeitig erfahren, Schreiber. –
Jaguar Imix zeigte auf eine Konkubine, die zu uns getreten war, und sie griff in ein kleines Gefäß neben ihr und nahm ein Stück Baumrinde heraus. Sie schob es ihrem Gebieter in den Mund, und er fuhr kauend fort zu sprechen:
– Paktul, Diener, die Götter haben mir erzählt, als ich mich in Trance befand, dass du den Bau des neuen Tempels missbilligst. Deine Bedenken hinsichtlich des von Akabalam befohlenen Festes bestätigen, was die Götter mir gesagt haben. Du weißt doch, dass ich alles sehe, Schreiber. Ist es wahr, was die Götter sagen? Dass du bezweifelst, dass ich ihr Gefäß bin? –
Diese Worte kamen einem Todesurteil gleich. Eine Angst erfasste mich, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Die Augen aller am Hofe waren auf mich gerichtet, in Vorbereitung auf das Blutvergießen. Sogar der Ara in seinem Käfig neben mir konnte es spüren. Auxila war für sehr viel weniger geopfert worden. Sie würden mir auf dem Altar das Herz herausreißen! Ich sah zu Jacomo, dem Zwerg, hinüber, der mit Zimt und Chili gewürzte Schokolade schlürfte. Da wusste ich, dass nicht die Götter dem König etwas zugeflüstert hatten, sondern ein boshafter Zwerg.
Mit Furcht im Herzen sprach ich:
– Jaguar Imix, erhabener, allerheiligster Herrscher, ich habe in der Ratsversammlung nur die Stimme erhoben, um zu fragen, ob dies der günstigste Zeitpunkt für den Bau der neuen Pyramide sei. Diese Pyramide soll zehn große Zyklen überdauern, damit dein Name als der heiligste von allen für immer im Gedächtnis der Menschen bleibe. Es ist mein Wunsch, die Mauern mit tausend Zeichen bemalen zu dürfen, die dich darstellen, aber ich möchte nicht auf armseligen Kalkstein malen, nur weil wir nicht die Männer und nicht das Material haben, um einen Bau zu errichten, der deiner würdig ist. –
Reumütig senkte ich den Kopf. Da spie Jaguar Imix die Baumrinde auf den Boden und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. Seine Zähne waren verziert mit Einlagen aus Jade und Perlen, die schönsten Füllungen, die in Kanuataba je ausgeführt wurden. Jaguar Imix lächelt gern und erinnert jene unter ihm daran, welchen Preis sie haben. Er fordert bedingungslose Ergebenheit von seinen Untertanen, und ich habe viele Male erlebt, wie er es genoss, wenn jemand sich vor ihm in den Staub warf, nur um denjenigen dann doch hinrichten zu lassen, noch bevor der große Stern ein weiteres Mal über den Himmel gewandert war.
Ich schloss die Augen und wartete darauf, dass die Vollstrecker kamen. Sie würden mich auf die Pyramide hinaufführen und mich opfern, wie sie es mit Auxila getan hatten.
Doch als der König sprach, sagte er etwas, was ich nicht erwartet hatte:
– Paktul, Mann von niedrigem Stande, dir soll vergeben sein. Ich verzeihe dir deine Worte der Missbilligung und vertraue darauf, dass du bei der Vorbereitung zum heiligen Fest zu Ehren Akabalams Wiedergutmachung leistest. -
Ich öffnete die Augen. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Und der König fuhr fort:
– Mein Sohn, der Prinz, findet Gefallen an dir, deshalb soll dir dies eine Mal vergeben sein, damit du Rauch Lied lehren kannst, seinem durch das Blut bestimmten Schicksal zu folgen. Du wirst ihn in der Macht Akabalams unterweisen, dem gepriesenen Gott, der sich mir geoffenbart hat. Du wirst Rauch Lied in den hohen Werten des bevorstehenden Festes unterweisen –
Zitternd stammelte ich:
– Hoheit, ich habe in den großen Büchern nachgesehen, aber ich konnte diesen Akabalam nicht finden. Ich habe überall gesucht, doch nirgends in den großen Zyklen der Zeit wird er erwähnt. Ich möchte den Prinzen gern unterweisen, aber welche Bücher soll ich zurate ziehen? –
– Halte dich weiter an die großen Bücher, die du so gut kennst, niederer Schreiber. Und wenn das Fest zu Ehren Akabalams vorbereitet ist, werde ich dir alles anvertrauen, damit du es in neuen heiligen Büchern niederschreiben kannst und das Wissen an Rauch Lied und an die göttlichen Könige nach ihm weitergegeben wird. –
Damit entließ er mich. Mir war schwindlig von dem neuen Leben, das der König mir eingehaucht hatte.
Keine Aufgabe ist so wichtig wie die, den heiligen Prinzen zu unterrichten. Das hatte mich davor bewahrt, geopfert zu werden. Ich versuchte, meine Sorgen zu unterdrücken, als ich in die königliche Bibliothek ging, wo der Prinz mich erwartete. Nur der Vogel in seinem Käfig, die Verkörperung meines Geistes, teilte meine Furcht.
Die königliche Bibliothek, wo ich den Prinzen unterrichte, ist der wundersamste Ort in unserer einzigartigen Terrassenstadt. Hier stand ich schon unter dem Baum der Erkenntnis, einer Sammlung dessen, was die weisen Männer im Laufe von zehn großen Drehungen des Kalenderrades zusammengetragen haben. Hier gibt es Bücher aller Art, die um ihrer heiligen Weisheit willen gelesen werden. In diesen Büchern wurde das umfangreiche Wissen der Astronomen gesammelt, die von der Sternenwelt als von der Schlange mit den zwei Köpfen sprechen.
Ich betrat die Bibliothek, einen Raum aus Stein, behängt mit Tuchen, die im schönsten, königlichsten Blau gefärbt sind. Durch das viereckige Fenster fällt weißes Licht auf das Tuch. Bei Sonnenaufgang am Tag der Sommersonnwende scheint die Sonne direkt herein, ein Sinnbild für den Beginn der Wissbegier, die unsere Vorfahren in diese Welt gebracht haben. Viele bedeutende Bücher, ganze Stapel davon, liegen auf den Regalen, manche noch zusammengefaltet; sie stammen aus einer Zeit, als es das aus Feigenbaumrinde hergestellte Papier in Fülle gab und ein Schreiber nicht hätte stehlen müssen, um dieses Buch zu malen.
Es ist über tausend Sonnen her, dass der König mich mit der Aufgabe betraute, die Weisheit unserer Vorfahren an den königlichen Prinzen weiterzugeben und ihn in das Geheimnis der Zeit einzuweihen, jene niemals endende Schleife, die zu ihrem Anfang zurückkehrt. Nur wer in die Vergangenheit blickt, kann von der Zukunft träumen.
Rauch Lied, der Prinz, ist ein kräftiger Junge von zwölf Drehungen des Kalenderrades. Er hat die Augen und die Nase des Königs, seines Vaters, aber er ist nicht rachsüchtig, und als ich, den Käfig mit dem Vogel in der Hand, die Bibliothek betrat, war seine Miene sorgenvoll.
Er sprach:
– Ich habe gesehen, wie Auxila geopfert wurde, mein Lehrer. Und auf dem Platz habe ich seine Tochter gesehen, Geflammte Feder, der ich gewogen bin. Ich sah, wie sie um ihren Vater trauerte. Kannst du mir sagen, wo sie jetzt ist? –
Ich blickte zu Kawil hin, dem Diener des Prinzen, der immer in seiner Nähe bleibt, bis der Unterricht zu Ende ist. Kawil ist ein guter Diener und sehr groß. Er sagte nichts, er starrte nur geradeaus.
Es war zu schmerzlich, darüber zu sprechen, welches Schicksal Auxilas Töchtern bevorstand, deshalb antwortete ich:
– Sie ist am Leben, Prinz, aber du musst Geflammte Feder aus deinen Gedanken verbannen, denn sie ist unberührbar. Du musst dein Augenmerk auf deine Studien richten. –
Der Junge schien betrübt. Doch dann zeigte er auf den Ara und sprach:
– Was ist das, mein Lehrer? Was hast du mir da mitgebracht? –
Mein Krafttier ist sehr friedlich und umgänglich, und so ließ ich den Vogel aus dem Käfig und zeigte ihn dem Prinzen. Wir fassten noch einmal seine Kenntnisse über Krafttiere zusammen, und ich erklärte ihm, dass mein Krafttier in Gestalt dieses Ara zu mir gekommen und ich eins mit dem Vogel geworden sei, indem ich ihm von meinem Blut zu trinken gegeben hatte. Dann flog der Ara, meine Tiergestalt, durch den Raum, was dem Jungen große Freude bereitete. Wir flogen zum Dach hinauf und wieder herunter, wir umkreisten den Prinzen und landeten auf seiner Schulter.
Mein Krafttier, so erzählte ich, habe sich auf der weiten Reise, die jeder Ara mit seinem Schwarm zurücklegt, in Kanuataba niedergelassen. In ein paar Wochen würden wir weiterfliegen, dorthin, wohin unsere Vogelvorfahren seit Tausenden von Jahren zu jeder Erntezeit zurückkehren.
Ich sprach:
– Jeder Mensch muss sich über sein alltägliches menschliches Dasein hinaus erheben, und unsere tierische Gestalt ist die Verkörperung dieses Ideals. –
Rauch Lieds tierisches Ich ist der Jaguar, wie es jedem künftigen König gebührt. Ich sah zu, wie er den Vogel aufmerksam betrachtete und offenbar überlegte, wie der Ara meine Brücke zu den himmlischen Mächten sein könne. Es erfüllt mich mit Trauer, dass Rauch Lied sein Krafttier vielleicht nie mehr sehen wird. Nur noch wenige heilige Jaguare durchstreifen das Land.
Nach unserem Gespräch über Krafttiere sprach der Junge:
– Mein Vater, der König, hat mir gesagt, dass ich die Soldaten begleiten darf, wenn sie fortziehen, um für die Menschen von Kanuataba zu kämpfen. Wir werden nach Sakamil, Ixtachal und Laranam ziehen und kämpfen, so wie es der Morgenstern, der in die Dunkelheit wandert, vorherbestimmt hat. Es wird ein großer Krieg werden, ein Krieg des Abendsterns. Erfüllt dich das nicht mit Stolz, mein weiser Lehrer? –
Zorn stieg in mir auf, und ich ließ mich zu Worten hinreißen, die mich das Leben hätten kosten können:
– Hast du dich einmal auf der Straße umgesehen, auf den Märkten, wo es wegen der Dürre nichts mehr zu kaufen gibt? Es ist ein trauriger Anblick, Prinz, aber du kannst die Not der Menschen mit eigenen Augen sehen. Sogar die Soldaten hungern, auch wenn sie nun irgendwelche neuen Methoden des Einsalzens haben. Wir können es uns nicht leisten, in fernen Ländern Krieg zu führen! –
Daraufhin erwiderte der Junge hitzig:
– Meinem Vater ist geweissagt worden, dass wir den Sternenkrieg gegen ferne Königreiche führen müssen! Wie kannst du es besser wissen als die Sterne? Wir werden kämpfen, wie die Götter es befohlen haben! Ich werde Seite an Seite mit den Kriegern von Kanuataba kämpfen! –
Das Herz war mir schwer vor Kummer. Ich sah das Kind an und sprach:
– In jedem Mann lodert das heilige Feuer, Prinz. Aber eines Tages wirst du die Menschen von Kanuataba führen, deshalb musst du deine Geisteskraft unter Beweis stellen. Du hast deine Studien noch nicht abgeschlossen. Es ist nicht meine Aufgabe, dich im Gebrauch des Blasrohrs oder der Wurfkugel zu unterweisen, es ist nicht meine Aufgabe, einen Soldaten aus dir zu machen, damit du im Kampf dein Leben lässt! –
Da sprang der Prinz auf und rannte hinaus. Ich sollte die Tränen nicht sehen, die ihm aus den Augen strömten. Ich rief ihn, aber er kam nicht zurück.
Ich war überrascht, dass Kawil seinem Herrn nicht folgte. Stattdessen sprach er:
– Ich werde ihn zurückholen, Schreiber. –
– Gut, dann geh. –
– Darf ich zuerst etwas sagen, heiliger Schreiber? Es geht um Auxila. –
Ich erteilte ihm die Erlaubnis zu sprechen.
Kawil erzählte mir, dass er einige Nächte nach Auxilas Tod auf dem Opferaltar vor dem Palast gesessen und Haniba, Auxilas Frau, und ihre beiden Töchter gesehen habe.
Er sagte:
– Sie waren gekommen, um an der Opferstätte zu beten. –
Ich erschrak, als ich das hörte. Jede Frau, deren Mann auf dem Altar geopfert wurde, weiß, was zu tun ist. Haniba hatte es versäumt, ihre Pflicht zu erfüllen, und so die Götter beleidigt. Er sei den Frauen aus der Stadt hinaus bis zu deren Haus gefolgt, erklärte Kawil weiter.
Mir war sofort klar, was ich zu tun hatte.
Jemand musste Auxilas Frau an ihre Pflicht erinnern. Seit Anbeginn der Geschichte ist es der Wille von Itzamnaaj, dass Frauen ihren geopferten Männern in die jenseitige Welt folgen, indem sie einen ehrenvollen Selbstmord begehen. Auxila war mein Bruder, mein enger Freund gewesen, und seine Frau hatte etwas Besseres verdient als die namenlosen Schrecken eines Lebens vor den Toren der Stadt.
Wenn sie nicht gewillt war, dem Ruf der Götter zu folgen, würde ich ihr helfen müssen.
Als der Morgenstern ein weiteres Mal durch den rötesten Teil des großen Skorpions am Himmel wand mich wie ein einfacher Mann in Lendenschurz und Sandalen, damit man mich nicht erkennen konnte.
Am Rande der Stadt haust der Abschaum von Kanuataba – Männer und Frauen, die aufgrund von irgendwelchen Vorzeichen von der Hinrichtung verschont blieben, die aber ihrer Verbrechen wegen aus der Stadt verbannt wurden. Hier lebten Diebe und Ehebrecher, die eine Mondfinsternis vor dem Tod gerettet hatte; säumige Schuldner, die nur dank der Gnade des Abendsterns noch am Leben waren; Menschen, die Missbrauch mit Rauschmitteln treiben; und sogar jene, die, so heißt es, die größten Sünder von allen sind, dazu bestimmt, bis in alle Ewigkeit von Norden nach Süden auf der Erde umherzuirren: jene, die törichterweise nur die Gottheiten verehren, deren Günstlinge sie zu sein glauben.
Für die Behausungen hier wird weder Kalkstein noch Marmor verschwendet, und jeder Steinhauer Diebstahl von Kalkstein erwischt wird, wird öffentlich hingerichtet. So werden diese Hütten aus Lehm gebaut. Hier leben nur die Menschen, die einem verbotenen Gewerbe nachgehen: dem Verkauf von Ra Wetten auf Ballspiele, Hurerei.
Ich hatte mein Gesicht mit dem Tuch verhüllt, mit dem ich die Kalksteinpaste auf das Papier auftrage. In der Hand hielt ich Kakaobohnen, ich verteilte sie an die Frauen, die ich auf der Straße ansprach, um mich nach dem Weg zu Hanibas Hütte zu erkundigen. Jede dieser Frauen bot mir ihren Körper als Gegenleistung für die sie waren völlig verwirrt, als ich ablehnte. Ich sprach mit einer alten Hure. Sie schickte mich zweihundert Schritt weiter den Weg hinunter, zu einer Reihe von Verschlägen, die ich nicht mehr gesehen hatte, seit ich als Junge hier meine Unschuld verlor.
Das Stöhnen einer Frau drang aus einem der Verschläge. Als ich nachsah, erblickte ich Haniba, und Mann, ein widerlicher Mann, der brutal in sie eindrang. Haniba besudelte ihre Ehre! Auf dem Bode beiden lagen vier Kakaofrüchte fein säuberlich nebeneinander. Die beiden bemerkten nicht, wie ich m mir die Früchte genauer ansah. In zweien von ihnen befanden sich keine Bohnen. Der Mann war ein Betrüger!
Ich packte einen großen Sitzstein, der in einer Ecke lag, hob ihn hoch über den Kopf und schlug da Kraft zu. Der Mann sackte leblos auf Haniba zusammen, und sie stieß einen gellenden Schreckensschrei aus. Wahrscheinlich dachte sie, Iztamaal selbst habe den Stein herabgeschleudert, um sie zu bestrafen. Als i von ihr herunterzerrte und sie mein Gesicht sah, wandte sie sich zutiefst beschämt ab. Doch die größe dass sie immer noch auf dieser Erde weilte.
Sie sprach:
– Sie haben mir alles genommen, Paktul – mein Haus, meine Kleidung, Auxilas Besitz. –
– Ich weiß, warum du hier bist, und ich bin gekommen, um dich anzuflehen, Haniba. Du musst klug handeln. Deine Kinder hungern, weil niemand sie bei sich aufnehmen wird, solange du noch am Leben bist. U nicht geheim halten können. –
Sie weinte, das Atmen fiel ihr schwer, als sie fortfuhr:
– Ich kann der Weisung der Götter erst Folge leisten, wenn ich meine Kinder in Sicherheit weiß. Geflammte Feder kommt in das Alter, wo irgendein Greis, der sich ein junges Mädchen wünscht, ein Auge auf sie werfen wird. Du hast selbst gesehen, wie Prinz Rauch Lied meine Geflammte Feder anschaut – sie hätte Königin werden können, Paktul! Der König hat erwogen, sie dem Prinzen zur Frau zu geben, und der Prinz ist ein guter Mann, er hätte sie verdient. Aber nun, da ihr Vater Schande über sich und über uns gebracht hat, können die beiden nicht vermählt werden. Welcher anständige Mann wird Geflammte Feder denn jetzt noch nehmen? Das verstehst du doch, Paktul, nicht wahr? Du weißt, was eine solche Schmach bedeutet, du hast sie doch selbst empfunden, als dein Vater dich im Stich ließ! –
Für diese Worte hätte ich sie am liebsten geschlagen. Aber als ich den Ausdruck von Traurigkeit in ihren Augen sah, konnte ich es nicht. Ich kannte diese Frau, seit Auxila und ich klein waren und sie mit Stöcken vor uns her jagten.
Ich sprach:
– Such dir eine Ranke, die lang genug ist, und schlinge sie dir um den Hals, wenn die Sonne das nächste Mal sinkt. Erhänge dich, Haniba, tue es mit Stolz und erfülle deine Pflicht als Frau eines Adligen, der den Göttern geopfert wurde. –
– Das ist nicht wahr, Paktul! Er wurde nicht den Göttern geopfert! Er wurde von einem König ermordet! Jaguar Imix hat seinen Tod befohlen, weil Auxila den Mut hatte, sich ihm zu widersetzen, und der König opferte ihn im Namen eines Gottes, den es nicht gibt! Dieser Gott, dieser Akabalam, kann das Opfer nicht gefordert haben! Hat er uns oder sonst irgendeinem Adligen jemals seine Macht im Traum geoffenbart? Nein, das hat er nicht! –
Ich verschwieg ihr, dass ich selbst meine Zweifel an dem neuen Gott hatte. So wie ein Schreiber eine göttliche Weissagung nicht infrage stellen sollte, sollte eine Witwe nicht an einem König zweifeln.
Ich sprach:
– Was kannst du über das Gespräch zwischen einem König und seinem Ratgeber wissen, den er als Opfer darbringt? Wie kannst du wissen, dass sich Akabalam dem König nie geoffenbart hat? –
Haniba schlug die Hände vors Gesicht.
Als Adliger war es meine Pflicht, eine Frau zu töten, die einen so schweren Frevel gegen die Götter beging.
Aber angesichts ihres Kummers war ich machtlos.