28
Chel stand allein in der Eingangshalle des Getty Research Institute und schaute zu, wie die Strahlen der Nachmittagssonne durch das Oculus genannte runde Oberlicht fielen. Zur Sommersonnwende stand die Sonne um zwölf Uhr mittags senkrecht über diesem Oculus und warf einen Schatten genau auf die Mitte der Glasplatte im untersten Stock – der Entwurf war eine Anlehnung an die zum Teil auf astrologischen Beobachtungen basierende Architektur des Altertums. Dies war das Bollwerk der Maya-Forschung, dem das Kuratorium auf ihr beharrliches Drängen hin zugestimmt hatte. Es sei ein historisches Verbrechen, die fortschrittlichste Kultur der Neuen Welt zu ignorieren, hatte sie argumentiert.
Und jetzt stellte sich heraus, dass die Maya selbst ein historisches Verbrechen begangen hatten.
Jahrhundertelang hatten die spanischen Eroberer als Beweis für ihre eigene moralische Überlegenheit den Ureinwohnern Kannibalismus vorgeworfen. Missionare hatten diesen Vorwurf als Rechtfertigung benutzt, um alte Handschriften zu verbrennen; spanische Könige hatten mit diesem Vorwurf ihren Anspruch auf das Land untermauert. Bis in die Neuzeit hatten sich diese Lügengeschichten gehalten. Selbst während der Revolution in Chels Kindheit waren entsprechende Behauptungen aufgetaucht, um die Unterdrückung der modernen Maya zu rechtfertigen.
Und jetzt würde sie den Feinden ihres Volkes den Beweis liefern, nach dem sie so lange gesucht hatten. In der Postklassik hatten die Azteken dreihundert Jahre lang in Mexiko geherrscht, hatten Bedeutendes in Kunst und Architektur geschaffen und die Handelsbräuche in Mittelamerika revolutioniert. Aber wenn man jemanden fragte, was er über die Azteken wisse, so dachten die meisten an Kannibalismus und Menschenopfer. Und genau das Gleiche würde jetzt den Maya widerfahren. Alles, was Chels Vorfahren an großartigen Leistungen vollbracht hatten, würde von dieser Entdeckung überschattet werden. Sie wären nur noch die Wilden, die Gottesanbeterinnen verehrt hatten, weil die ihre Männchen auffraßen. Die Wilden, die Kinder opferten und sie verspeisten.
»Das gibt es schon seit etlichen Hunderttausend Jahren.«
Stanton war ihr in die Eingangshalle gefolgt. Er war dabei gewesen, als Chel, Victor und Rolando den letzten Teil des alten Buches rekonstruiert hatten. Chel war ihm dankbar dafür. Nach allem, was sie entdeckt hatten, empfand sie seine Gegenwart als tröstlich.
»In jeder Kultur gibt es Hinweise auf Kannibalismus«, fuhr er fort. »Auf Papua-Neuguinea, in Nordamerika, in der Karibik, in Japan, in Zentralafrika aus der Zeit, als unser aller Vorfahren dort lebten. Aufgrund einer bestimmten Anzahl genetischer Marker in der menschlichen DNA überall auf der Welt kann man darauf schließen, dass alle unsere Vorfahren in der Frühzeit tote Menschen verspeisten.«
Chel blickte wieder zum Oculus hinauf. Ein Stück weiter unten konnte man die Regale der Bibliothek mehr erahnen, als dass man sie sah – Tausende bibliophile Kostbarkeiten, Zeichnungen und Fotografien aus aller Welt. Und jedes Stück hatte seine eigene komplizierte Geschichte.
»Haben Sie schon mal von Atapuerca gehört?«, fragte Stanton.
»In Spanien?«
Er nickte. »Dort hat man bei Ausgrabungen die ältesten Überreste von Urmenschen in Europa entdeckt. Gran Dolina. Man fand Skelette von Kindern, die verspeist worden waren. Die Vorfahren der Konquistadoren haben Kannibalismus praktiziert, lange bevor Ihre das taten. Es ist nur allzu menschlich, dass man in der Verzweiflung etwas so Unvorstellbares tut, wenn die eigene Familie hungert. Seit Anbeginn der Geschichte ist es immer nur schlicht ums Überleben gegangen.«
***
Eine halbe Stunde später saßen Stanton, Chel, Rolando und Victor auf den Hockern im Labor, wo sie seit achtundvierzig Stunden praktisch ununterbrochen gearbeitet hatten. Stanton las noch einmal die Übersetzung dessen, was der König zum Schreiber gesagt hatte:
Ich und meine engsten Getreuen haben diese Macht bereits erlangt, da wir in den vergangenen dreihundert Sonnen mehr als zwanzig Männer verzehrt haben. Jetzt ist es Akabalams Wille, dass wir die Kraft von zehn Männern in jedem einzelnen Mann unseres großartigen Volkes konzentrieren.
Stanton stellte sich das Schlachthaus vor, in dem die beiden standen. Er fühlte sich auf geradezu unheimliche Weise an die Schlachthäuser und Fleischverarbeitungsanlagen erinnert, die er zehn Jahre lang im Rahmen seiner Arbeit besichtigt hatte. Die Verbindung zwischen Kannibalismus und der Krankheit war klar: Der Rinderwahnsinn war ausgebrochen, weil Bauern ihre Rinder mit dem Hirn anderer Rinder gefüttert hatten. VFI war ausgebrochen, weil ein verzweifelter König seinem Volk menschliches Hirn zu essen gegeben hatte, das mit pathogenen Prionen infiziert war.
»Kann das Zeug wirklich so lange in einem Grab überdauert haben?«, fragte Rolando.
»Prionen könnten theoretisch Jahrtausende überdauern«, antwortete Stanton. »Die Erreger müssen in diesem Grab quasi auf der Lauer gelegen haben. Eine tickende Zeitbombe.« Und Volcy hatte den Zündmechanismus in Gang gesetzt. Er hatte ein Grab gefunden, in der Erde gescharrt und sich dann an die Augen gefasst.
»Paktul schreibt, dass nur diejenigen krank wurden, die Menschenfleisch gegessen haben«, sagte Victor. »Und Sie glauben doch sicher nicht, dass Volcy Kannibale war. Wie kommt es also, dass VFI durch die Luft übertragen werden kann?«
»Prionen haben die Tendenz zu Mutationen«, erklärte Stanton. »Es ist sozusagen ihr Daseinszweck, sich ständig zu verändern. Nach tausend Jahren in diesem Grab verwandelten sie sich in etwas anderes, etwas viel Wirkungsvolleres.«
Er überflog die Seite auf der Suche nach einer anderen Passage.
Jaguar Imix und sein Gefolge haben viele Monde lang im Einvernehmen mit den Göttern Menschenfleisch verzehrt. Doch welcher Gott sie auch immer beschützt haben mag, er beschützt sie nun nicht mehr.
Sie wussten jetzt zwar, wie die Krankheit entstanden war, aber auch Stanton fragte sich, was er mit diesen Informationen anfangen sollte. Barg das Grab selbst die Antworten, die ihnen noch fehlten? Noch vor zwei Tagen hätte er das CDC anhand dieser Ergebnisse eventuell dazu bewegen können, eine großangelegte Suche nach Kanuataba zu starten. Er hatte Davies, der wieder im Zentrum für Prionenforschung arbeitete, angerufen und ihm von ihrer Entdeckung erzählt. Aber es gab keinerlei Experimente, die sein Team aufgrund dieser Informationen hätte durchführen können. Stanton überlegte, ob er Cavanagh eine E-Mail schicken sollte, doch selbst wenn sie sich dazu durchgerungen hätte, ihm zu antworten, wüssten sie immer noch nicht, wohin sie das Team entsenden sollten, weil sie immer noch keine genaueren Ortsangaben hatten. Und die Guatemalteken würden vermutlich weiterhin abstreiten, dass sich der Infektionsherd in ihrem Land befand, und einem offiziellen Team die Einreise verweigern.
Außerdem hatte das CDC den Nachrichten zufolge im Moment andere Sorgen: Immer mehr Menschen suchten auf dem Land-, auf dem Luft- und auf dem Seeweg nach Schlupflöchern, um der Quarantäne zu entkommen. Atlantas oberste Priorität war es ganz sicher nicht, den Infektionsherd zu finden. Eine tausend Jahre alte Bilderhandschrift würde nicht genügen, um die Bürokraten vom Seuchenzentrum zu überzeugen.
»Wenn Paktul und die drei Kinder Kiaqix gegründet haben«, sagte Rolando, »dann verstehe ich aber nicht, warum in der Legende von drei Gründern die Rede ist. Es sind vier, nicht drei.«
»Diese mündlichen Überlieferungen darf man nicht so wörtlich nehmen«, erwiderte Chel. »Es gibt unzählige Versionen, und die werden von Generation zu Generation weitergegeben, da kann es schon passieren, dass das eine oder andere verloren geht.«
Stanton hörte nur mit halbem Ohr zu. Etwas an den Passagen, die er gerade gelesen hatte, machte ihn stutzig, und er überflog sie noch einmal. Der König war stolz darauf, dass er und seine Getreuen so lange Menschenfleisch gegessen und dadurch so große Macht erlangt hatten. Dreihundert Sonnen. Das bedeutete, fast ein Jahr, bevor der König dem Volk Menschenfleisch vorsetzte, waren er und seine Männer bereits Kannibalen geworden, und sie hatten auch Hirn gegessen. Warum also waren sie nicht viel früher krank geworden? Waren die verspeisten Hirne gänzlich frei von Prionen gewesen?
Stanton wies die anderen auf diesen Punkt hin und fügte hinzu: »Innerhalb eines Monats, nachdem alle Einwohner mit Menschenfleisch versorgt wurden, sind ausnahmslos alle krank geworden, einschließlich des Königs und seinen Getreuen.«
»Die Frage ist also, was ist passiert?«, sagte Rolando.
»Etwas hat sich verändert.«
»Aber was?«, fragte Chel.
»Früher glaubten die Menschen, dass großes Unheil über sie hereinbricht, wenn sie die Götter nicht achten.« Rolando spielte auf Paktuls Worte an, dass, welcher Gott den König auch immer beschützt haben mochte, er diesen nun nicht mehr beschütze. »Viele indígenas würden Ihnen auch heute noch sagen, dass diese Krankheit eine Strafe der Götter ist.«
»Dann würde ich ihnen antworten, dass diese Krankheit das Ergebnis mutierter Proteine ist und sonst gar nichts«, erwiderte Stanton. »Aber ich glaube nicht an wissenschaftliche Zufälle. Der König und sein Gefolge müssen über viele Monate hinweg sehr viel mehr Hirn gegessen haben als das gemeine Volk in wenigen Wochen, richtig? Das heißt, der Erreger hat sich plötzlich in eine tödliche Gefahr verwandelt, und dafür muss es einen Grund geben.«
»Sie meinen, er ist stärker geworden«, sagte Chel.
Stanton dachte kurz nach. »Oder aber die Abwehrkräfte der Menschen sind schwächer geworden.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Denken Sie doch an einen AIDS-Kranken«, antwortete er. »HIV schwächt das Immunsystem und macht anfälliger für andere Krankheiten.«
Victor schaute verstohlen auf seine Uhr. Stanton bemerkte es. Der Mann wirkte irgendwie gleichgültig, und Stanton fragte sich, was ihm so wichtig sein konnte, dass es ihn von den drängenden Problemen ablenkte, die sie hier besprachen.
»Sie glauben also, irgendetwas hat das Immunsystem des Königs und seines Gefolges heruntergefahren?«, fragte Rolando.
»Vielleicht war es auch umgekehrt«, murmelte Stanton nachdenklich. »Das Reich zerfällt, die gesellschaftlichen Strukturen lösen sich auf, richtig? Die letzten Bäume werden verbrannt, die Ressourcen vollständig ausgeschöpft, bis es nichts mehr gibt – nichts zu essen, keine Gewürze, kein Papier, keine Medizin. Könnte es nicht sein, dass irgendetwas ihre Abwehrkräfte künstlich gestärkt hat, das es auf einmal nicht mehr gab?«
Chel runzelte die Stirn. »Sie meinen, so etwas wie ein Impfstoff?«
»Ich denke eher an so etwas wie Chinin, das gegen Malaria schützt, oder Vitamin C als Vorbeugung gegen Skorbut. Etwas, das sie gegen die Krankheit schützte, ohne dass sie es wussten. Der König sagt, er habe über ein Jahr Menschenfleisch gegessen und kein Fluch sei über ihn gekommen. Paktul glaubt, ihr Ungehorsam gegen die Götter habe die Krankheit ausgelöst. Aber vielleicht war es ganz anders. Vielleicht haben sie das, was sie davor geschützt hat, nicht mehr zu sich genommen.«
»Und was könnte das gewesen sein?«, fragte Victor, der seine Aufmerksamkeit wieder der Diskussion zuwandte.
»Irgendein Nahrungsmittel oder ein Getränk. Etwas auf Pflanzenbasis, nehme ich an. Chinin hat die Menschen, lange bevor man etwas über diesen Wirkstoff wusste, vor Malaria geschützt. Penicillium-Pilze haben vermutlich alle möglichen bakteriellen Infektionen verhindert, bevor auch nur ein Mensch irgendetwas über Antibiotika wusste.«
Sie gingen die Übersetzung noch einmal Wort für Wort durch und durchforschten sie nach Hinweisen auf Pflanzen, Bäume, Nahrungsmittel, Getränke – auf alles, was die Maya zu sich genommen hatten, bevor sie zu Kannibalen geworden waren. Verschiedene Maiszubereitungen, Alkohol, Schokolade, Tortillas, Pfefferschoten, Limonen, Gewürze. Sie suchten nach Anhaltspunkten, ob irgendetwas davon als Heilmittel verwendet worden war. Etwas, das sie möglicherweise vor Ansteckung geschützt hatte.
»Wir brauchen Proben von allen diesen Pflanzen, damit wir sie untersuchen können«, sagte Stanton schließlich. »Und zwar von genau den gleichen Arten, wie sie damals verwendet wurden.«
»Und wie stellen Sie sich das vor?«, fragte Rolando. »Selbst wenn wir die Pflanzen im Regenwald finden würden, wie können wir wissen, dass es sich um die gleiche Art handelt?«
»Archäologen haben an Tongefäßen pflanzliche Rückstände gefunden«, warf Chel ein. »An einer einzigen Schale konnten sie Spuren von mehreren Dutzend verschiedenen Pflanzenarten nachweisen.«
»In Gräbern?«, fragte Stanton.
Victor brummte etwas, das Zustimmung ausdrücken sollte. Dann stand er auf und ging zur Tür. »Entschuldigt mich einen Moment. Ich muss zur Toilette.«
»Du kannst die in meinem Büro benutzen«, rief Chel ihm nach.
Er reagierte nicht, so als hätte er sie nicht gehört. Der alte Mann benahm sich seltsam, und ein beunruhigender Gedanke durchzuckte Stanton. Er würde Victors Augen auf Anzeichen von VFI untersuchen müssen.
»Wir müssen dahin«, sagte Chel. »Nach Guatemala.«
»Und wohin genau?«, fragte Rolando.
»In die entgegengesetzte Richtung des Izabal-Sees. Von Kiaqix aus gesehen.«
Paktul hatte geschrieben, er werde die Kinder in das Land seiner Vorfahren führen, an einen »großen See neben dem Meer«. Der Lago de Izabal im Osten Guatemalas war der einzige See weit und breit, auf den diese Beschreibung zutraf.
»Wenn er sie zum Izabal-See geführt hat und sie sich schließlich im heutigen Kiaqix niedergelassen haben, können wir davon ausgehen, dass die versunkene Stadt sich in einer Entfernung von höchstens drei Tagesmärschen in der entgegengesetzten Richtung befindet.«
»Der Izabal-See ist wahnsinnig groß. Etliche Hundert Quadratmeilen«, gab Rolando zu bedenken. »Das ist eine riesige Fläche, die du da absuchen müsstest.«
»Aber irgendwo innerhalb dieser Koordinaten muss es sein«, sagte Stanton.
Die Tür zum Labor öffnete sich. Victor kam herein. Er war nicht allein.