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Sie gingen langsam weiter und hielten Ausschau nach anderen Hinweisen auf die versunkene Stadt. Die Stele und die kleine Pyamide waren zuverlässige Anzeichen dafür, dass sie den Rand der großen Stadt erreicht hatten.
Stanton ging voraus. Er hielt Chel fest an der Hand; mit der anderen schlug er ihnen mit der Machete den Weg durch das Dickicht frei. Er versuchte, sich die Pflanzen zu merken, die er durchtrennte, falls sich herausstellen sollte, dass sie von Bedeutung waren.
Während sie über Wurzeln kletterten, die sich über den Boden wanden wie gigantische Schlangen, lauschte Stanton angespannt. Es gab Wölfe, Füchse, sogar Jaguare in der Gegend. Nach dem Studium hatte er einmal an einer Safari teilgenommen, und er legte keinen Wert darauf, näher mit wilden Tieren Bekanntschaft zu machen als damals. Zum Glück konnte er nur Vögel hören und irgendwo in der Ferne Fledermäuse.
Sie kamen an weiteren Stelen und an kleinen, verfallenen Kalksteinbauten vorbei, die vollständig mit einer Decke aus Blattwerk überzogen und mit kleinen Bäumen zugewachsen waren. Chel machte Stanton auf Stellen aufmerksam, wo am einstigen Stadtrand die Diener der Adligen gewohnt hatten und wo früher jene eigenartige Mischung aus Volleyball und Basketball gespielt worden war. Hätte Chel ihn nicht darauf hingewiesen, hätte Stanton mit Sicherheit nichts von alledem bemerkt.
Er behielt Chel im Auge, so gut es ging. Sie machte einen stabilen Eindruck, aber es war schwer zu sagen, wie sich ein strapaziöser Marsch durch den Regenwald bei Temperaturen von über 43 Grad Celsius auf den Krankheitsverlauf auswirken würde. Sie wäre bei Initia in Kiaqix besser aufgehoben gewesen. Aber er wusste, dass er die Stadt ohne sie niemals gefunden hätte.
Jetzt ging es darum, den Grabtempel des Königs zu finden, das letzte vor dem Untergang der Stadt in Kanuataba errichtete Bauwerk. Paktul hatte den Bau als unüberlegtes, überstürztes Projekt beschrieben, das mit minderwertigem Material ausgeführt worden sei. Normalerweise brauchte man für eine archäologische Ausgrabung eine entsprechende Ausrüstung, aber Volcy und sein Partner waren mit einfachen Spitzhacken zu Werke gegangen und hatten es geschafft. Das bedeutete, dass entweder schlampig gebaut oder der Bau nicht vollendet worden war.
Das Fundament soll in zwanzig Tagen gelegt werden, weniger als tausend Schritt vom Palast entfernt. Der Turm für die Aufbahrung soll dergestalt errichtet werden, dass er zum höchsten Punkt des Sonnenstandes hin liegt und ein großes heiliges Dreieck mit dem Palast und der roten Zwillingspyramide bildet.
»Ein heiliges Dreieck war ein rechtwinkliges Dreieck«, erklärte Chel. »Sie galten als mystisch.« Rechtwinklige Dreiecke mit einer Seitenlänge im Verhältnis 3: 4: 5 spielten bei den Maya eine große Rolle, nicht nur im Entwurf ihrer Städte und beim Bau von Gebäuden, sondern auch bei religiösen Zeremonien. Das bekannteste Beispiel war sicherlich Tikal, wo eine Reihe ganzzahliger rechtwinkliger Dreiecke bei der Anlage der südlichen Akropolis berücksichtigt worden waren. »Jaguar Imix wollte, dass seine Grabkammer ein Dreieck mit einem der Tempel und mit dem Palast bildet. Die Zwillingstempel müssten am leichtesten zu finden sein.«
»Wir suchen also eine rote Pyramide?«, fragte Stanton.
»Sie ist nicht wirklich rot. Rot ist das Sinnbild für Osten.«
»Das heißt, wir suchen die, die am weitesten im Osten liegt?«
»Die, die zum großen Platz hin nach Osten ausgerichtet ist«, verbesserte Chel.
Die Bauwerke würden größer, je näher sie bei der zentralen Akropolis lägen, erklärte sie; deshalb wusste sie, dass sie auf der richtigen Spur waren. Aber Stantons Arme waren müde und schwer geworden. Die Machete fühlte sich mehr als doppelt so schwer an wie zu Beginn ihres Marsches, und die Klinge war stumpf geworden. Es kostete ihn unglaublich viel Kraft, selbst dünne Zweige zu durchtrennen. Der Schweiß lief ihm in Strömen in die Augen.
Dann, zwanzig Minuten später, stießen sie auf eine Reihe von Pfeilern. Sie waren fast vollständig mit Moos überwuchert, und Vögel hatten auf einigen ihre Nester gebaut, aber die Zeit hatte ihnen nichts anhaben können. Sie standen immer noch, höher als die Stele, zwölf an der Zahl. Der quadratische Innenhof, den sie umgaben, war längst unter einer üppigen Pflanzendecke begraben, aber Chel erkannte die Anlage sofort: Genau so hatte Chiam sie beschrieben.
Er war also tatsächlich hier gewesen.
»Dann müssen wir ziemlich nah dran sein«, meinte Stanton, als sie es ihm erklärte.
Chel nickte. »Das war ein Versammlungsort für die Aristokratie. Der Platz dürfte nicht weit vom Palast entfernt gewesen sein.«
»Und in welche Richtung gehen wir jetzt?«
Sie antwortete nicht. Stanton folgte ihrem Blick. Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach des Regenwalds auf weißen Stein. Chel ließ Stantons behandschuhte Hand los und lief weiter, fast beschwingt, ohne auf die zahllosen Hindernisse zu achten.
»Warte!«, rief er ihr nach. Doch sie reagierte nicht.
Er rannte ihr nach. Obwohl er einerseits froh war über die Energie, die sie plötzlich aufbrachte, weil sie ihrem Ziel näher kamen, fürchtete er andererseits, dass das schon ein Zeichen von Besessenheit war. Er war erst ein paar Schritte weit gekommen, als ihm etwas ins Gesicht klatschte, mit solcher Wucht, dass es ihn fast umgerissen hätte. Er schlug mit seiner Taschenlampe nach dem Ding auf seinem Augenschutz, bis es endlich losließ und weiterflatterte. Eine große Fledermaus, für die mit Einbruch der Dunkelheit die Suche nach Nahrung begann. Stanton schaute ihr nach. Als er sich wieder umdrehte, war das letzte Tageslicht erloschen. Der helle Stein, den sie gerade eben noch gesehen hatten, war von der Nacht verschluckt worden.
Er lief weiter, und als er Chel eingeholt hatte, stand sie am Fuß von etwas, was vor tausend Jahren eine Treppe gewesen war. Die steinernen Stufen waren längst zerbröckelt. Stantons Blick wanderte an der zugewucherten Schräge langsam nach oben. Sie standen vor einer Tempelpyramide, deren Größe alles rings umher zwergenhaft klein wirken ließ.
Er wandte sich zu Chel. »Lauf nie wieder einfach so weg, hörst du? Ich will nicht irgendwo hier draußen nach dir suchen müssen.«
Sie sah ihn nicht an, als sie sagte: »Das ist eine davon. Das muss eine davon sein.«
»Von den Zwillingspyramiden?«
Sie nickte und setzte sich schon wieder in Bewegung.
***
Der Kalksteinbau war niedriger als ein Tempel. Die Mauern waren teilweise eingestürzt, aber Chel erkannte sofort, um was es sich bei der weitläufigen Anlage handelte. Sie begann, die Stufen hinaufzuklettern. Ihre Baumwollhose und die langärmelige Bluse klebten schweißnass und schwer an ihr. Ihre Haare kratzten sie im Nacken. Aber sie stieg unverdrossen weiter hinauf, hüpfte von einem schmalen Sims zum nächsten, bis sie die erste von sechs großen Plattformen erreicht hatte.
»Was hast du vor?«, rief Stanton ihr von unten zu.
Sie machte eine unwillige Handbewegung; sie musste sich konzentrieren. Im Geiste sah sie dreizehn Männer im Kreis sitzen, jeder trug einen Kopfputz in Gestalt eines Tieres, alle klatschten dem Redner Beifall. Alle, bis auf einen: Paktul.
Stanton war ihr gefolgt.
»Das ist der Königspalast«, flüsterte sie, als er ihre Hand ergriff.
Stanton betrachtete die erhöhten, aneinandergrenzenden Plattformen und sagte, ohne nachzudenken: »Hier haben sie also …«
»Gekocht«, ergänzte Chel sachlich. Der Anblick des Ortes, an dem ihre Vorfahren Menschenfleisch zubereitet hatten, schien sie nicht zu erschüttern. Angestrengt und konzentriert blickte sie in die Dunkelheit hinaus. »Paktul zufolge ist der Palast der zweite Punkt des Dreiecks. Wenn es sich also um ein rechtwinkliges Dreieck mit einer Seitenlänge im Verhältnis 3: 4: 5 handelt, dann ist der Abstand –«
Plötzlich wurde ihr schwindlig, und sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden.
»Alles in Ordnung?«, fragte Stanton besorgt.
»Ja, mir geht’s gut«, log sie und hustete. »Also – dann ist der Abstand vom Palast zur Zwillingspyramide die erste Seite des Dreiecks.« Sie zeigte nach Westen. »Sie hätten eine Grabanlage niemals auf dem Hauptplatz der Stadt errichtet, folglich muss der Tempel in dieser Richtung liegen.«
»Willst du dich erst noch ein bisschen ausruhen?«
»Dafür ist Zeit, sobald wir die Grabkammer gefunden haben.«
Stanton half ihr die Stufen hinunter. Im Schein der Taschenlampen stolperten sie durch das Unterholz in die Richtung, die das rechtwinklige Dreieck ihnen gewiesen hatte. Stanton hielt Chel fest an der Hand, während er ihnen mit der Machete den Weg freischlug. Chel war so heiß, dass sie glaubte, sie müsse sich übergeben. Sie schluckte krampfhaft und zwang sich weiterzugehen.
Stanton entdeckte es als Erster.
Kurz darauf standen sie vor einem mit niedrigem Buschwerk bewachsenen Hügel. Auf einem offensichtlich quadratischen Sockel mit einer Seitenlänge von jeweils etwa fünfzehn Metern erhob sich eine Pyramide, so hoch wie ein dreistöckiges Haus. »Sieh dir das an«, sagte er.
Obwohl sie fünfzig Meter vom Eingang entfernt waren und alles zugewachsen war, sah Chel sofort, dass das Bauwerk unvollendet war. Die von Humus und Wurzelwerk bedeckten Kalksteinblöcke waren weder fachkundig behauen noch fachkundig zusammengefügt worden.
»Ist das die Grabpyramide des Königs?«, fragte Stanton.
Chel ging langsam um die Pyramide herum, auf der Suche nach einer Inschrift. Als sie die nordwestliche Ecke erreicht hatte, sah sie im Schein der Taschenlampe etwas funkeln.
Etwas Metallisches, das auf dem Boden lag.
Volcys Spitzhacke.