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Selbst jetzt, als sie neben Stanton im Auto saß, konnte Chel an nichts anderes denken als an die alte Handschrift und daran, dass sie sie wahrscheinlich nie wiedersehen und dass sie nie die Gelegenheit bekommen würde, herauszufinden, wer der Schreiber war und warum er sich seinem König widersetzt und damit sein Leben riskiert hatte. Was sagte das über sie aus? Was sagte es über sie aus, dass sie sich selbst jetzt noch auf die falschen Dinge im Leben konzentrierte? Stanton strafte sie mit Verachtung. Er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Krankheiten zu erforschen und sie zu bekämpfen, und sie hatte durch ihre kleine akademische Übung die ganze Stadt in Gefahr gebracht.

Merkwürdigerweise war es Patricks Stimme, die sie jetzt in ihrem Kopf hören konnte. Sie waren zu einer Konferenz über die Erfassung und Auswertung der Maya-Glyphen nach Charlottesville in Virginia gefahren und hatten anschließend eine Wanderung über den Appalachian Trail geplant. Doch dann bekam Chel den Vorsitz in einem weiteren Gremium angeboten. Sie sagte zu, und die Wanderung musste ausfallen. »Irgendwann wirst du erkennen, dass du viel zu große Opfer für deine Arbeit gebracht hast, aber dann ist es zu spät«, hatte Patrick zu ihr gesagt. Damals hatte Chel gedacht, er habe das aus Trotz gesagt und es werde sich schon wieder einrenken, so wie all die Male zuvor. Aber vier Wochen später war er ausgezogen.

Chel rutschte auf dem Beifahrersitz herum. Irgendetwas blieb an ihrem Absatz hängen. Sie bückte sich: eine Hundeleine. Dem Halsband nach zu schließen war es kein kleiner Hund.

»Werfen Sie sie nach hinten«, sagte Stanton, doch es schwang keine Wärme in seiner Stimme mit. Es war das erste Mal, dass er etwas sagte, seit sie ins Auto gestiegen waren, um Richtung Süden zu fahren. Chel sah verstohlen zu ihm hinüber. Er hatte beide Hände am Lenkrad wie ein Fahrschüler. Wahrscheinlich gehörte er zu den Leuten, die nie gegen irgendwelche Regeln verstießen. Er machte einen strengen, ernsten Eindruck auf sie, und sie fragte sich, ob er wirklich so einsam war, wie er wirkte. Aber andererseits hatte er wenigstens einen Hund. Chel starrte durch die Windschutzscheibe auf den von Reklametafeln gesäumten Pacific Coast Highway hinaus. Vielleicht würde sie sich auch ein Haustier anschaffen, wenn sie ihre Stelle im Museum verlor und mehr Freizeit hätte.

»Geben Sie sie her«, forderte Stanton sie barsch auf.

Sie schrak zusammen. »Was?« Dann merkte sie, dass sie die Leine immer noch in der Hand hielt. Stanton nahm sie ihr ab, warf sie nach hinten auf die Rückbank und trat das Gaspedal weiter durch.

Chel hatte sich daran erinnert, dass Hector Gutierrez in Inglewood, nördlich des Flughafens, wohnte. Sie wusste nicht, worauf sie sich einstellen sollte, als sie vor dem zweigeschossigen Haus hielten. Vielleicht wusste Gutierrez’ Familie noch gar nicht, was passiert war; bis jetzt hatte sich noch niemand gemeldet, um ihn zu identifizieren.

Stanton stellte den Motor ab. »Gehen wir.«

Er klopfte an die Haustür. Eine Minute später ging drinnen ein Licht an. Die Frau, die ihnen öffnete, eine Latina mit pechschwarzen Haaren, trug einen langen marineblauen Morgenmantel. Ihre Augen waren ganz verquollen, so als hätte sie geweint. Sie wusste also schon Bescheid. Und Chel verstand auch, warum sie sich nicht bei den Behörden gemeldet hatte: Die Frau hatte nicht nur ihren Ehemann verloren, sie würde auch alles andere verlieren, wenn die Einwanderungs- und Zollbehörde und das FBI hinter Gutierrez’ illegalen Handel mit Antiquitäten kamen. Einnahmen aus Schwarzmarktgeschäften wurden unbarmherzig beschlagnahmt.

»Mrs Gutierrez?«

»Ja?«

»Ich bin Dr. Stanton vom Seuchenzentrum CDC. Das ist Chel Manu, sie hatte geschäftlich mit Ihrem Mann zu tun. Wir müssen Ihnen leider eine schlechte Nachricht bringen, Mrs Gutierrez. Wussten Sie, dass Ihr Mann in einen schweren Autounfall verwickelt war?«

Maria nickte langsam.

»Dürfen wir reinkommen?«, fragte Stanton.

»Lieber nicht«, antwortete sie. »Mein Sohn ist gerade eingeschlafen.«

»Mrs Gutierrez, wir möchten Ihnen unser Beileid ausdrücken«, sagte Stanton. »Das ist eine schwere Zeit für Sie, und ich habe nur eine ungefähre Ahnung davon, was Sie und Ihr Sohn gerade durchmachen, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.« Als sie zögernd nickte, fuhr er fort: »Ihr Mann war sehr krank, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und Sie? Leiden Sie in letzter Zeit an Schlafstörungen?«

»Mein Mann hat die letzten vier Nächte nicht mehr geschlafen. Und jetzt muss ich meinem Sohn erklären, dass sein Vater tot ist. Da ist es doch nur normal, dass ich die letzten Tage nicht besonders gut geschlafen habe.«

»Schwitzen Sie übermäßig?«

»Nein.«

»Haben Sie von den Vorfällen im Presbyterian Hospital gehört?«

»In den Nachrichten, ja.«

»Der Patient ist heute gestorben, und wir wissen inzwischen, dass er die gleiche Krankheit hatte wie Ihr Mann. Wir vermuten, dass der Erreger durch ein Nahrungsmittel übertragen wird, und wir gehen auch davon aus, dass es eine Verbindung zwischen diesem Mann aus Guatemala und Ihrem Mann geben muss. Sagt Ihnen der Name Volcy etwas? Wissen Sie, ob Ihr Mann geschäftlich mit ihm zu tun hatte?«

Maria schüttelte den Kopf. »Ich wusste nichts über Hectors Geschäfte.«

»Wir müssen uns in Ihrem Haus umsehen, Mrs Gutierrez. Vielleicht finden wir irgendeinen Anhaltspunkt. Und wir müssen Proben von den Lebensmitteln in Ihrem Kühlschrank nehmen.«

Maria schlug die Hände vors Gesicht, als könnte sie den Anblick der beiden Besucher nicht mehr ertragen. Müde rieb sie sich die Augen.

»Es ist wirklich wichtig, Mrs Gutierrez«, sagte Stanton beschwörend. »Sie müssen uns helfen.«

»Nein«, erwiderte Maria leise. »Bitte gehen Sie.«

Jetzt mischte Chel sich ein. »Mrs Gutierrez, gestern Morgen ist Ihr Mann zu mir gekommen und hat mich gebeten, einen gestohlenen Gegenstand für ihn aufzubewahren. Und ich habe es getan. Ich habe es getan, und dann habe ich es verschwiegen, und jetzt stellt sich heraus, dass sich möglicherweise noch mehr Leute infiziert haben, und das nur, weil ich nicht gleich die Wahrheit gesagt habe. Ich muss damit leben. Sie nicht, wenn Sie jetzt auf uns hören. Bitte lassen Sie uns ins Haus.«

Sie sprach mit solcher Bestimmtheit, dass Stanton sich erstaunt wieder zu ihr hinwandte.

Maria trat zur Seite und ließ sie hinein.

***

Sie folgten ihr durch einen schmalen Gang. An den Wänden hingen Fotos von Fußballspielen und Gartengeburtstagspartys. In der Küche räumte Stanton den Kühlschrank aus, während Chel sich die Vorratsschränke vornahm. Von den über zwanzig Lebensmitteln, die schließlich auf der Arbeitsfläche lagen, enthielten zwar etliche Milch, aber kein einziges Produkt stammte aus Guatemala, keines war importiert worden oder sonst irgendwie auffällig. Stanton klappte den Mülleimer auf und durchsuchte die Abfälle, aber auch dort war nichts Ungewöhnliches zu finden.

»Hatte Ihr Mann einen Arbeitsplatz oder ein Arbeitszimmer hier im Haus?«, fragte er.

Maria führte sie zu dem Arbeitszimmer am anderen Ende des Hauses. Eine fleckige weiße Couch, ein Metallschreibtisch, ein paar schmale Bücherregale auf einem unechten Orientteppich. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch. Das ganze Haus war eine Huldigung an die Familie, aber hier drin gab es nicht ein einziges Bild. Was immer er hier gemacht hatte, Guiterrez wollte jedenfalls nicht, dass seine Frau oder sein Sohn ihm dabei zusahen.

Stanton fing mit den Schreibtischschubladen an. Er fand Büromaterial, haufenweise Rechnungen, Unterlagen über eine Hypothek auf das Haus, Gehaltsabrechnungen, Bedienungsanleitungen für Elektrogeräte.

Chel setzte ihre Brille auf und nahm sich den Computer vor. »Heutzutage gibt es keinen Händler mehr, der seine Ware nicht online anbietet«, sagte sie.

Sie gab ebay.com ein. Ein Log-in-Feld HGVerkäufer ging auf, ein Passwort wurde verlangt.

»Versuchen Sie’s mit Ernesto«, sagte Maria, die in der Tür stehen geblieben war.

Es funktionierte. Eine Liste mit verschiedenen Objekten erschien auf dem Monitor.

1. Echter präkolumbianischer Feuerstein verkauft – $ 1,472.00

2. Teil eines Maya-Sarkophags Versteigerung abgelaufen – $ 1,200.00

3. Echtes steinernes Maya-Pflanzgefäß verkauft – $ 904.00

4. Maya-Halskette, Jade verkauft – $ 1,895.00

5. Honduranisches Tongefäß Versteigerung abgelaufen – $ 280.00

6. Klassische Maya-Jaguarschale verkauft – $ 1,400.00

»Da ist alles gespeichert, was er in den letzten zwei Monaten angeboten hat«, sagte Chel, als sie die Liste überflogen hatte.

Stanton blickte ihr über die Schulter. »Ja, das ist das, was er verkauft hat. Aber die Handschrift hat er gekauft. Wie kommen wir da ran? Müssen wir uns dafür in Volcys Account einloggen? Und woher kann Volcy überhaupt gewusst haben, wie so ein Online-Handel funktioniert? Wo kann er an einen Computer rangekommen sein?«

»Oh, da unten weiß jeder, wie so was funktioniert«, erwiderte Chel. »Die Leute nehmen eine Reise von mehreren Tagen in Kauf, um an einen Computer zu kommen, wenn sie etwas zu verkaufen haben. Aber er hätte eine alte Handschrift niemals über eBay verkauft. Das wäre viel zu riskant. Das Teuerste hier kostet nicht mehr als fünfzehnhundert Dollar – die Leute bezahlen nicht jeden Preis für etwas, was sie online kaufen. Wer also etwas wirklich Hochpreisiges anzubieten hat, stellt über eBay den Kontakt her und wickelt das Geschäft dann persönlich ab.«

Sie klickte auf ein Feld ganz oben. Ein E-Mail-Fenster ging auf. Im Posteingang hatten sich fast tausend Nachrichten angesammelt. Bei den meisten ging es um die Objekte, die Gutierrez aufgelistet hatte. Andere Mails enthielten Angaben zu Ort und Datum und Uhrzeit – offenbar geplante Treffen mit Leuten, die Waren anzubieten hatten.

»Sie benutzen alle ein Pseudonym«, sagte Chel.

»Wie können wir herausfinden, wer von ihnen Volcy ist?«

Stanton sah Maria an. Die zuckte mit den Schultern.

»Schauen Sie mal.« Chel bewegte den Cursor über eine Nachricht, die eine Woche zuvor von einem gewissen Chuyum-thul gesendet worden war.

Der Falke.

Von: Chuyum-thul


Gesendet: 4. 12. 2012, 10 Uhr 25

Etwas sehr Kostbares ich besitzen, Sie bestimmt werden haben wollen.


Erreichbar Telefon +55-55 47 70 73 83

»Klingt, als ob der Computer das für ihn übersetzt hätte«, meinte Chel.

»Was für eine Ländervorwahl ist 55?«, fragte Stanton.

»Mexico City«, antwortete sie. »Ein heißer Umschlagplatz für Antiquitäten. Wenn irgendwo ein guter Preis für das Buch zu erzielen wäre, dann dort. Volcy muss das gewusst haben. Und wenn er es dort nicht verkaufen könnte, würde er es über die Grenze in die Staaten schaffen.«

Von oben war das Weinen eines Kindes zu hören. Maria drehte sich um und eilte davon. Stanton und Chel wechselten einen mitleidigen Blick.

Schließlich entdeckte Chel eine an Chuyum-thul gerichtete Nachricht. Der Kreis begann sich zu schließen.

Von : HGVerkäufer


Gesendet: 5. 12. 2012, 14 Uhr 47

Donnerstag, 6. 12. 2012


AG Flug 224


Abflug Mexico City, Mexiko (MEX) 6 Uhr 05


Ankunft Los Angeles, CA (LAX) 9 Uhr 12

Montag, 10. Dezember 2012


AG Flug 126


Abflug Los Angeles, CA (LAX) 7 Uhr 20


Ankunft Mexico City, Mexiko (MEX) 12 Uhr 05

»Gutierrez muss Volcy das Ticket besorgt haben«, sagte Chel.

Stanton nickte. Er brachte die Ereignisse in eine chronologische Reihenfolge. Volcy stieg in Mexiko ins Flugzeug, verkaufte Gutierrez das Buch und nahm sich dann ein Motelzimmer, wo er die Zeit bis zu seinem Rückflug abwarten wollte. Aber dann rief jemand die Polizei, und er wurde ins Krankenhaus gebracht. Die gebuchte Maschine flog ohne ihn ab.

»Was ist mit dem Geld passiert, das Gutierrez ihm gezahlt hat?«, fragte Stanton. »Die Polizei hat kein Geld in dem Motelzimmer gefunden.«

»Er hätte es bestimmt nicht riskiert, mit so einem Haufen Bargeld die Grenze zu überqueren«, wandte Chel ein. »Wahrscheinlich hat er es hier bei einer Bank eingezahlt, die Filialen in Mittelamerika hat.«

Wieder nickte Stanton. Er überflog noch einmal die E-Mail mit den Flugdaten. AG Flug 126. Das kam ihm seltsam bekannt vor. Er wandte sich um, weil er hoffte, Maria hätte eine Erklärung, aber sie war anscheinend immer noch oben bei ihrem Sohn.

Dann fiel es ihm schlagartig ein. »AG Flug 126! Die Maschine ist gestern Morgen abgestürzt!«

Chel schaute auf. »Was reden Sie da?«

Stanton zog sein Smartphone aus der Tasche und zeigte es ihr: Aero Globale 126 war die Maschine, die in den Pazifik gestürzt war.

»Ist das Zufall?«

Stanton schüttelte den Kopf. »Da muss es irgendeinen Zusammenhang geben.«

»Volcy ist doch gar nicht ins Flugzeug gestiegen.«

»Das nicht. Aber was, wenn er den Absturz herbeigeführt hat?«

»Wie denn?«

Stantons Gedanken überschlugen sich. Es konnte nur eine logische Erklärung geben. Als Absturzursache wurde menschliches Versagen vermutet, das war in den Nachrichten immer wieder gemeldet worden.

»Volcy war an Bord der ersten Maschine«, sagte Stanton. »Piloten fliegen normalerweise eine Route hin und zurück. Was, wenn der Pilot der Unglücksmaschine auch die Maschine von Mexico City nach L.A. geflogen hat, mit der Volcy gekommen ist? Volcy hätte auf dem Hinflug mit dem Piloten in Kontakt kommen können.«

Chel runzelte die Stirn. »Sie meinen, Volcy hat dem Piloten etwas gegeben, das verseucht war?«

Aber Stanton zog bereits eine ganz andere Möglichkeit in Betracht, die sehr viel erschreckender war. Er dachte an die Ausbreitung von Tuberkulose. Oder von Ebola. Wenn zwei Personen, die Kontakt zu Volcy gehabt hatten, sich an zwei verschiedenen Orten infizierten, gab es epidemiologisch nur eine einzige Erklärung dafür.

Stanton fühlte sich seltsam benommen, als er sagte: »Volcy infiziert sich in Guatemala, steigt in Mexico City ins Flugzeug und kommt in Kontakt mit dem Piloten. Er gibt Volcy die Hand, als dieser die Maschine verlässt, und das Prion wird übertragen. Volcy trifft sich mit Gutierrez. Vielleicht schütteln sie sich ebenfalls die Hand, sie schließen ihr Geschäft ab, dann trennen sich ihre Wege. Einen Tag später wird der Pilot krank. Dann wird auch Gutierrez krank. Wenige Tage danach stürzt die von dem kranken Piloten geflogene Maschine ab, und Gutierrez verunglückt mit dem Auto.«

Chel machte ein ratloses Gesicht. »Aber was war der Infektionsherd?«

»Volcy!« Stanton lief schon zur Tür. »Volcy selbst war der Infektionsherd!«

Oben hörte man wieder den Jungen weinen. Stanton rannte zur Treppe und schrie zu Maria hinauf, sie dürfe auf keinen Fall irgendetwas anfassen im Haus.

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