13

Chel und ihre Anwältin Erin Billings saßen im Verwaltungsbüro am nördlichen Ende des Getty-Campus. Auf der anderen Seite des Tisches hatten einige Mitglieder des Kuratoriums sowie der Chefkurator des Museums und ein Beamter der Einwanderungs- und Zollbehörde Platz genommen. Wie vom Seuchenzentrum empfohlen, trugen alle Anwesenden Schutzbrillen, und alle hatten eine Kopie von Chels Aussage vor sich liegen, in der sie die Ereignisse der vergangenen drei Tage genau geschildert hatte.

Dana McLean, Chefin einer der größten Investmentgesellschaften des Landes und Vorsitzende des Kuratoriums, lehnte sich zurück und sagte: »Dr. Manu, Sie sind bis auf Weiteres und ohne Gehaltsfortzahlung suspendiert. Sie werden alle Ihre das Museum betreffenden Tätigkeiten unverzüglich einstellen, bis eine endgültige Entscheidung gefallen ist.«

»Was ist mit meinen Leuten?«

»Sie werden dem Kurator unterstellt. Aber falls sich herausstellt, dass einer von ihnen in die illegalen Machenschaften verwickelt ist, muss er ebenfalls mit Konsequenzen rechnen.«

»Dr. Manu«, wandte sich ein Kuratoriumsmitglied an sie, »Sie behaupten, Dr. Chacon habe nicht gewusst, was Sie getan haben. Aber warum war er dann am Abend des 10. hier bei Ihnen?«

Chel sah ihre Anwältin an. Als diese ihr zunickte, erwiderte sie so ruhig und sachlich wie möglich: »Ich habe Rolando nie erzählt, woran ich arbeitete. Ich habe ihn zu mir gebeten, weil ich ein paar allgemeine Fragen bezüglich der Restaurierung hatte. Aber er hat den Kodex nie gesehen.«

Sie hatte ein umfassendes Geständnis abgelegt, es gab also keinen Grund, weshalb man ihr in diesem Punkt nicht glauben sollte. Das war die Lüge, bei der sie ein gutes Gefühl hatte.

»Es ist Ihnen hoffentlich klar, dass wir ganz genau prüfen werden, ob Sie sich in der Vergangenheit in beruflicher Hinsicht schon einmal etwas haben zuschulden kommen lassen«, sagte Grayson Kisker, der Beamte der Einwanderungsbehörde.

»Das ist ihr völlig klar«, erwiderte Chels Anwältin.

»Was passiert mit dem Kodex?«, fragte Chel.

»Wir werden ihn den Guatemalteken zurückgeben«, antwortete McLean.

»Da die illegale Transaktion auf amerikanischem Boden stattgefunden hat, sind wir es, die ein Verfahren gegen Sie einleiten«, sagte Kisker.

Chel war wie betäubt, und auch die Nachricht vom Seuchenzentrum, dass ihr Bluttest negativ ausgefallen war, konnte sie nicht aus ihrer Benommenheit reißen. Noch nie hatte sie eine so übermächtige Mischung aus Schuldgefühlen, Verwirrung und Schock empfunden wie in den letzten vierundzwanzig Stunden. Sie wusste, dass sie entlassen werden würde und dass sie auch ihre Stelle an der UCLA verlieren würde.

Aber nach allem, was sie in den letzten Tagen erlebt und gesehen hatte, ließ sie das vollkommen kalt.

Chel und Billings erhoben sich. Chel versuchte, sich innerlich darauf vorzubereiten, ein letztes Mal in ihr Labor zu gehen und ihre Sachen zusammenzupacken.

Dann klingelte Kiskers Handy. Er nahm das Gespräch an. Ein seltsamer Ausdruck trat auf sein Gesicht.

»Ja«, sagte er mit einem flüchtigen Blick auf Chel. »Sie ist noch da.« Er streckte langsam die Hand aus und hielt ihr sein Telefon hin. Seine Stimme klang fast ehrfürchtig, als er sagte: »Mein Chef will mit Ihnen reden.«

***

Die Nachmittagssonne stach vom Himmel, als Chel den Fußweg durch den Park zu dem üppigen blühenden Urwald im tiefsten Teil des Geländes hinunterging. Museumsbesucher sagten oft, der Blick von der Anhöhe, auf der das Museum stand, sei besser als die eigentliche Kunst, aber Chel liebte den Park über alles. Als sie zwischen den rosarot und rot blühenden Bougainvilleabüschen dahinschlenderte, streckte sie die Hand nach einer der papiernen Blüten aus und rieb sie zwischen den Fingern. Sie brauchte etwas, das sie erdete, während sie mit Dr. Stanton telefonierte.

»Noch sind in Guatemala keine Fälle aufgetreten«, sagte er. »Aber wenn wir genauere Angaben über Volcys Aufenthaltsort machen könnten, würde man uns vielleicht erlauben, ein Team hinzuschicken.«

Nach dem Anruf vom Chef der Einwanderungs- und Zollbehörde war Chel gebeten worden, sich mit Stanton in Verbindung zu setzen. Sie war erleichtert gewesen, als sie hörte, dass auch er sich nicht infiziert hatte. Vermutlich habe der Umstand, dass sie beide Brillenträger waren, dabei eine Rolle gespielt, hatte er wie beiläufig gesagt, so als ob es nicht besonders wichtig wäre, und war dann gleich zum Thema gekommen.

»Wo kam er her, was denken Sie?«

»Aus dem Hochland im Süden, würde ich sagen.« Chel riss eine der rosaroten Bougainvilleablüten ab und warf sie in den Bach. Sie war selbst überrascht von der Heftigkeit ihrer Geste.

»Und wie groß ist das Gebiet ungefähr?«, fragte Stanton.

»Etliche tausend Quadratmeilen. Aber der Erreger ist doch schon hier eingeschleppt worden. Warum ist es da noch wichtig, wo er hergekommen ist?«

»Das ist wie bei einer Krebserkrankung«, erklärte Stanton. »Auch wenn sich schon Metastasen gebildet haben, muss der Tumor entfernt werden, damit er nicht noch weiter streut. Wir haben nur dann eine Chance gegen den Erreger, wenn wir ihn genau kennen und wissen, wie das Ganze angefangen hat.«

»Vielleicht könnte der Kodex uns mehr erzählen«, sagte Chel nachdenklich. »Vielleicht finden wir eine Glyphe, die typisch ist für eine bestimmte Gegend, oder vielleicht irgendeine geografische Beschreibung. Aber dafür muss er erst ganz rekonstruiert werden.«

»Und wie lange dauert das?«

»Die ersten Seiten sind in keinem guten Zustand und die hinteren sehen noch schlimmer aus. Dazu kommen sprachliche Probleme, zum Beispiel schwierige Glyphen und ungewöhnliche Kombinationen. Wir haben alles versucht, sie zu entziffern.«

»Lassen Sie sich etwas einfallen, damit es schneller geht.«

Chel ließ sich auf eine metallene Bank fallen. Sie war tropfnass vom Tau oder vom Wasser der Sprinkleranlage, und Chel spürte, wie das Wasser durch ihre Hose bis auf die Haut drang, aber es war ihr egal. »Ich verstehe nicht«, stammelte sie. »Ich habe Sie belogen, und trotzdem vertrauen Sie mir?«

»Nein, tue ich nicht«, erwiderte er. »Aber die Einwanderungs- und Zollbehörde hat ein Expertenteam hinzugezogen, und die haben gemeint, wenn irgendjemand schnell herausfinden könnte, woher das Buch stammt, dann Sie.«

***

Nicht einmal eine Stunde später fuhr Chel auf der 405 in Richtung Culver City. Sie hatte nicht die geringste Lust, dorthin zu fahren, wohin sie jetzt unterwegs war, aber sie hatte keine Wahl. Die Behörden sahen vorerst von einer Strafverfolgung ab, und das bedeutendste Zeugnis der Maya-Kultur würde in ihrem Labor bleiben. Sie hatte immer noch Bedenken, Victor Granning in die Forschungsarbeiten mit einzubeziehen, doch jetzt galt es ihre persönlichen Differenzen hintanzustellen. Wichtig war nur, dass sie den Ärzten auf jede erdenkliche Weise behilflich war.

Das Museum of Jurassic Technology am Venice Boulevard gehörte zu den denkwürdigsten Einrichtungen von Los Angeles – vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Chel war bisher nur ein einziges Mal dort gewesen. Sie hatte sich zwar erst einmal an die labyrinthische Anlage und an die dunklen Räume gewöhnen müssen, aber dann hatte sie sich entspannt und den Zauber auf sich wirken lassen. Zu der Ausstellung gehörten unter anderem winzig kleine Figuren, die in ein Nadelöhr passten, eine Galerie der Hunde, die in den 1950er-Jahren von den Russen in den Weltraum geschossen worden waren, oder eine Sammlung von Fadenspielen.

Die Ladenfront des unscheinbaren graubraunen Gebäudes neben dem In-N-Out-Burger war klein, doch das täuschte. Chel fand direkt davor einen Parkplatz. Das eine Mal war sie mit Patrick hier gewesen. Er hatte sich unbedingt eine Ausstellung von Briefen an das Mount Wilson Observatorium ansehen wollen, die von der Existenz außerirdischen Lebens berichteten. Diese Briefe, hatte er gesagt, erinnerten ihn daran, dass man den Himmel nicht nur durch ein Teleskop, sondern auch auf andere Art und Weise betrachten könne. Sie hatten sie in dem abgedunkelten Raum zusammen gelesen, Patricks Stimme ganz nah an ihrem Ohr, und es war ein Brief dabei gewesen, der Chel ganz besonders berührt hatte. Sie konnte sich bis heute an die Worte der Frau erinnern, die von ihren Erfahrungen in einem anderen Universum erzählte: Ich habe alle möglichen Monde und Sterne und Öffnungen gesehen …

Chel drückte auf den Klingelknopf neben der Tür über einem Schild mit der Aufschrift BITTE NUR EIN MAL KLINGELN. Die Tür ging auf, und ein weißhaariger Mann um die sechzig in einer schwarzen Strickjacke und in einer zerknitterten Khakihose stand vor ihr. Chel hatte Andrew Fisher, den exzentrischen Leiter des Museums, bei ihrem ersten Besuch hier kennengelernt. Er trug eine Schutzmaske aus Plastik, doch die verbarg nicht den wachen, intelligenten Ausdruck in seinen Augen.

»Willkommen zurück, Dr. Manu.«

Er konnte sich noch an sie erinnern?

»Vielen Dank. Ich möchte zu Dr. Granning. Ist er da?«

»Ja, kommen Sie doch herein.« Fisher trat zur Seite. »Ich habe mich mit dem Gedächtnistraining nach Ebbinghaus befasst, was sich als sehr hilfreich erwiesen hat. Wollen mal sehen. Sie arbeiten im Getty, Sie sind ernster, als gut für Sie ist, und … Sie rauchen zu viel.«

»Hat Victor Ihnen das erzählt?«

Er nickte. »Er hat mir auch erzählt, dass Sie die klügste Frau sind, die er kennt.«

»Er kennt nicht viele Frauen.«

Fishers Augenwinkel legten sich in Fältchen. »Er ist hinten und arbeitet an seiner Ausstellung. Faszinierendes Thema.«

Der kleine seltsame Eingangsbereich des Museums roch nach Terpentin und wurde von dunkelroten und schwarzen Glühbirnen erhellt, sodass man nach dem grellen Sonnenlicht draußen im ersten Moment orientierungslos war. An den Wänden standen Bücherregale voller Werke mit unergründlichen Titeln, darunter Sonnabends Obliscence, das Journal of Anomaltes des Magiers Ricky Jay und das Renaissancewerk Hypnerotomachia Poliphili. Im Museum wurden die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion verwischt. Herauszufinden, welche Exponate real waren, machte einen Teil des Vergnügens aus. Dennoch weckte dieser Ort, der Verwirrung stiftete und der Logik trotzte, zwiespältige Gefühle in Chel. Ganz abgesehen davon, dass sie die geplante Ausstellung ihres alten Mentors für fragwürdig hielt.

Fisher führte sie durch ein Labyrinth von Gängen, die beschallt wurden mit einer durch Lautsprecher verzerrten Kakophonie von Tierlauten und Menschenstimmen. Im Vorbeigehen sah sich Chel die kuriosen Ausstellungsstücke an. Erhöhte Glaskästen mit einem Diorama, das die Lebensweise einer Stinkameise zeigte. Eine winzige Miniatur von Papst Johannes Paul II. in einem Nadelöhr unter einem riesigen Vergrößerungsglas.

Sie bogen um eine Ecke und kamen in einen kleinen Raum, in dem an der Decke ein Glockenrad hing, das sich drehte und dabei ein unheimliches Geräusch erzeugte. In der Mitte des Zimmers stand ein gläserner Schaukasten mit Arbeiten eines deutschen Gelehrten des 17. Jahrhunderts namens Athanasius Kircher. Auf den Schwarz-Weiß-Zeichnungen waren unter anderem eine Sonnenblume mit einem Korken in der Mitte zu sehen, aber auch die Chinesische Mauer oder der Turm von Babel.

Fisher zeigte auf ein Porträt von Kircher. »Er war der letzte große Universalgelehrte. Er hat ägyptische Hieroglyphen entschlüsselt. Er hat einen Vorläufer des Megafons erfunden. Er hat Würmer im Blut von Pestopfern entdeckt.« Fisher tippte mit dem Finger an seine Schutzmaske. »Und haben Sie gewusst, dass er den Leuten empfohlen hat, eine Maske zu tragen, um sich vor Krankheiten zu schützen?« Er schüttelte den Kopf. »Heutzutage geht es nur noch um Spezialisierung, jeder sucht sich eine Nische, und die Nischen werden immer kleiner und kleiner, keiner schaut mehr über die Grenzen seines eigenen winzigen Teilbereichs des intellektuellen Spektrums. Eine Schande ist das. Wie kann sich wahres Genie entwickeln, wenn unserer Geisteskraft kein Raum zum Atmen mehr bleibt?«

»Diese Frage kann wohl nur ein Genie beantworten, Mr Fisher«, erwiderte Chel.

Er lächelte und führte sie durch weitere dunkle Gänge. Schließlich gelangten sie in den hinteren Teil des Museums, eine gut beleuchtete Werkstatt mit Projekten in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung. Fisher öffnete eine schmale Tür, die in das hinterste Zimmer des Gebäudes führte.

»Sie sind sehr gefragt heute, Victor«, sagte er, als er eintrat.

Chel folgte ihm. Victor war nicht allein. Ein zweiter, hoch gewachsener Weißer stand neben ihm in dem viereckigen Raum voller Werkzeug, Glasscheiben, halb zusammengebauten Regalen und hölzernen Podesten für Exponate.

»Na so was!« Victor ging um das Durcheinander auf dem Fußboden herum. »Wenn das nicht meine liebste indígena ist! Von ihrer Mutter einmal abgesehen, versteht sich.«

Chel betrachtete ihren Mentor, als dieser auf sie zuging. Victor war ein äußerst attraktiver Mann gewesen, und seine blauen Augen hinter der Schutzbrille hatten in fünfundsiebzig Jahren nichts von ihrer Strahlkraft verloren. Er trug ein kurzärmeliges rotes, bis obenhin zugeknöpftes Polohemd, das er in seine Khakihose gestopft hatte – seine Uniform seit seiner Zeit an der UCLA. Sein silbergrauer Bart war sauber gestutzt.

»Hi«, sagte Chel.

»Danke, Andrew.« Victor sah den Leiter des Museums an, der sich ohne ein weiteres Wort zurückzog und die Tür hinter sich schloss.

Als Victor sich wieder seiner Besucherin zuwandte, konnte sie einen Ausdruck von Ergriffenheit in seinen Augen sehen. Auch Chel war tief bewegt. Daran würde sich nie etwas ändern.

»Chel, ich möchte dir Mr Colton Shetter vorstellen. Colton, das ist Dr. Chel Manu, eine der weltweit führenden Expertinnen auf dem Gebiet der antiken Maya-Schrift. Alles, was sie weiß, hat sie, wenn ich das so sagen darf, von mir gelernt.«

Shetter hatte schulterlange braune Haare und war unrasiert. Sein Bart war mehrere Tage alt und ging bis zum unteren Rand seines Augenschutzes hinauf. Aber er trug ein gestärktes weißes Hemd mit Krawatte, eine schwarze Jeans und glänzende Stiefel. Alles in allem ergab das eine merkwürdig attraktive Kombination.

»Freut mich«, sagte Chel.

»Was ist Ihr Spezialgebiet, Dr. Manu?«

Shetter hatte eine tiefe Stimme mit einem leichten Südstaatenakzent. Chel tippte auf Florida.

»Epigrafik. Verstehen Sie etwas davon?«

»Sagen wir, ich beschäftige mich hobbymäßig ein bisschen damit.«

»Haben Sie und Victor sich so kennengelernt?«, fragte sie.

»Ich habe zehn Jahre in Petén gearbeitet«, erwiderte er.

»Als was?«

Er warf Victor einen flüchtigen Blick zu. »Ich war Ausbilder. Bei der Armee.«

So etwas hörte keine indígena gern. Die Anziehungskraft, die er gerade noch auf sie ausgeübt hatte, war verflogen. »Und in was haben Sie die Armee ausgebildet?«, fragte sie schroff.

»Hauptsächlich in der Terrorismusbekämpfung und im Häuserkampf.«

»Sind Sie von der CIA?«

»Nein, Ma’am, nichts dergleichen. Army Rangers. Wir haben den Guatemalteken gezeigt, wie sie ihre militärischen Operationen modernisieren können.«

Jede Unterstützung, die die guatemaltekische Armee von der US-Regierung bekam, war für Chel eine zu viel. In den 1950er-Jahren hatte die CIA einen Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung des Landes organisiert und dann eine Marionettenregierung eingesetzt. Viele indígenas gaben den amerikanischen Agenten die Schuld am Bürgerkrieg, der auch Chels Vater das Leben gekostet hatte.

»Colton ist ein großer Bewunderer der indígenas, Chel.«

»In meiner Freizeit war ich oft in Chajul und Nebaj«, sagte Shetter. »Die Leute da sind ganz erstaunlich. Sie haben mich zu den Ruinen in Tikal mitgenommen, und dort habe ich Victor kennengelernt.«

»Aber jetzt leben Sie in Los Angeles?«

»Mehr oder weniger. Ich habe ein hübsches kleines Haus oben in den Verdugo Mountains.«

Chel war ein paar Mal zum Wandern dort gewesen, hatte die Gegend aber als unberührte Wildnis in Erinnerung. »Da oben wohnen Leute?«, fragte sie ungläubig.

»Ja, ein paar glückliche wie ich«, antwortete Shetter. »Die Gegend erinnert mich übrigens an Ihr Hochland. Wo wir gerade davon sprechen – ich glaube, es wird Zeit für mich.« Er wandte sich zu Victor hin und zeigte auf dessen Augenschutz. »Bitte nicht abnehmen, okay?«

»Danke, dass du vorbeigekommen bist, Colton.«

Als er gegangen und sie mit Victor allein war, fragte sie: »Was wollte er hier?«

Victor zuckte mit den Schultern. »Oh, Colton hat eine Menge Erfahrung im Umgang mit gefährlichen Situationen. Er will sich nur davon überzeugen, dass seine Freunde sich in diesen gefährlichen Zeiten richtig schützen.«

»Er hat recht. Die Sache ist wirklich ernst.«

Chel sah ihn prüfend an. Aber sie konnte kein Anzeichen von Anspannung oder Schmerz entdecken.

»Ja, ich weiß«, erwiderte Victor. »Und, was sagt Patrick dazu?«

»Wir haben uns getrennt.«

»Schade. Ich habe ihn gemocht. Das heißt wohl, dass ich so bald nicht mehr auf Patenkinder hoffen darf,


oder?«

Seine alte Zuneigung tat ihr gut, trotz allem, was sie durchgemacht hatten. »Du solltest dein nächstes Buch über die Tugend des eingleisigen Denkens schreiben«, bemerkte sie trocken.

Er lächelte. »Schon gut.« Er bedeutete ihr, ihm zu folgen. »Ich bin froh, dass du da bist. Dann kannst du dir endlich mein Projekt ansehen.«

Sie folgte ihm in eine dunkle Galerie. Noch war die Ausstellung nicht vollständig aufgebaut, aber ein Schaukasten an der hinteren Wand war beleuchtet, und Chel trat zögernd näher.

Hinter dem Glas standen vier jeweils etwa sechzig Zentimeter hohe menschliche Figuren, und jede war, entsprechend der Schöpfungsgeschichte der Maya, aus einem anderen Material gefertigt: die erste aus Hühnerknochen, die zweite aus Erde, die dritte aus Holz und die letzte aus Maiskörnern. Dem Schöpfungsmythos der Maya zufolge hatten die Götter drei Mal versucht, den Menschen zu erschaffen. Die ersten Menschen schufen sie aus Tieren, doch die konnten nicht sprechen. Die zweiten Menschen formten sie aus Schlamm, aber die konnten nicht gehen, und die dritten Menschen stellten sie aus Holz her, doch die beteten nicht zu ihren Göttern und wussten nichts über die Bedeutung eines Kalenders. Erst als sie die vierten Menschen aus Mais erschufen, waren die Götter endlich zufrieden. Die vierte Welt nahm ihren Anfang.

Als sie den Glaskasten jetzt genauer betrachtete, bemerkte Chel etwas. Interessant und in ihren Augen ermutigend war das, was Victor nicht dargestellt hatte: die fünften Menschen.

»Und«, fragte ihr Mentor, »was verschafft mir das unerwartete Vergnügen deines Besuchs?«

***

Chel hatte den Eindruck, als würde Victor Grannings Leben die Kultur widerspiegeln, der er seine berufliche Laufbahn gewidmet hatte: Aufstieg, Blüte, Untergang. Noch während seines Graduiertenstudiums in Harvard hatte er mit erstaunlichen Forschungsergebnissen bezüglich der Syntax und der Grammatik der antiken Maya-Schrift von sich reden gemacht. Seine Veröffentlichungen fanden große Beachtung. Der endgültige Durchbruch gelang ihm, als die New York Times ihn als den weltweit renommiertesten Maya-Forscher pries. Nachdem er die Eliteuniversitäten im Osten der USA erobert hatte, machte Victor sich auf den Weg nach Westen, wo er an der UCLA den Lehrstuhl für den Bereich Maya-Studien übernahm. Viele junge Forscher auf diesem Gebiet waren von Victor ganz entscheidend gefördert worden.

So auch Chel. Als sie ihr Studium aufnahm, wurde Victor ihr Tutor. Schon im ersten Studienjahr konnte sie einen Text schneller dechiffrieren als irgendjemand sonst an der Fakultät. Victor gab sein Wissen über die antike Bilderschrift der Maya an sie weiter. Bald war sie mehr als nur einer von seinen Schützlingen. Gemeinsam mit ihrer Mutter verbrachte sie die amerikanischen Feiertage oft mit Victor und seiner Frau Rose in deren schindelverkleidetem Haus in Cheviot Hills. Es war Victor gewesen, den Chel als Ersten angerufen hatte, als sie nach dem Studium ihre Probezeit an der Universität bestanden und als sie ihre Stelle im Getty Museum antrat. In den fünfzehn Jahren, die sie sich kannten, war Victor für sie immer wieder eine Quelle der Ermutigung, der Erheiterung und neuerdings auch des Kummers gewesen.

Sein persönlicher Untergang begann 2008, als bei Rose Magenkrebs festgestellt wurde. Victor wich nicht mehr von ihrer Seite. Er konnte sich ein Leben ohne Rose nicht vorstellen. Gleichzeitig begann er nach Antworten zu suchen. Er, der nie besonders religiös gewesen war, wurde geradezu fanatisch in seinem Glauben: Er ging jeden Tag in die Synagoge, hielt die Regeln des Sabbat ein und befolgte die Reinheits- und Speisevorschriften, und er trug eine Kippah. Doch als Rose ein Jahr später starb, wandte sich Victor von seinem Glauben ab. Was sollte das für ein Gott sein, der so viel Leid zuließ? Einen solchen Gott konnte es nicht geben. Falls eine höhere Macht existierte, so dachte er, musste man sie woanders suchen.

Irgendwann in den neun Monaten nach Roses Tod sprach Victor zum ersten Mal über den 21. Dezember 2012 und begann Theorien über dieses scheinbar so bedeutsame Datum zu entwickeln. Seine Studenten tuschelten über beiläufige Bemerkungen, die er im Unterricht über die Bedeutung des Langzeitzyklus und dessen Ende fallen ließ. Am Anfang hörten sie noch ganz fasziniert zu, doch ihre Begeisterung schwand allmählich, als Victor auf fragwürdige Quellen zurückgriff, die unhaltbare Behauptungen über die religiösen Anschauungen der Maya aufstellten. Die Vorlesungen in Linguistik wurden ausgefüllt mit Vorträgen über das Ende des 13. Zyklus und mit Spekulationen darüber, dass ein neues Zeitalter für die Menschheit anbrechen würde, das mit der Rückkehr zu einem einfacheren, asketischeren Leben verbunden war. Etwa um diese Zeit sprachen einige von Victors Studenten Chel auf die exzentrischen Verirrungen ihres Professors an. Doch sie erkannte damals nicht, wie weit er schon vom Weg abgekommen war.

Bald wetterte er im Unterricht über Fertignahrung, die Krebs verursache, und dass die Menschen deswegen zu einer ursprünglicheren Lebensweise zurückkehren müssten. Sein Misstrauen gegen technische Errungenschaften und moderne Kommunikationsmittel wuchs. Er verschickte keine E-Mails mehr, sondern zwang seine Studenten, zu ihm ins Büro zu kommen. Dort verbot er ihnen, das Internet zu benutzen oder Auto zu fahren, und hielt ihnen Vorträge über das, was die 2012er Synchronizität nannten – das Bewusstsein, dass alle Dinge auf der Welt miteinander verbunden waren. Diese Synchronizität werde zu einer geistigen Erneuerung führen. Immer wenn Chel sich mit ihm unterhielt, versuchte sie, das Gespräch auf andere Themen zu lenken, aber es war sinnlos. Victors Interesse für diese Dinge grenzte an Besessenheit, und Chel wusste bald nicht mehr, wie sie damit umgehen sollte.

Als Victor als Hauptredner auf der größten New-Age-Versammlung des Landes angekündigt und als in Pressemitteilungen auf seine Verbindung zur UCLA hingewiesen wurde, bekam er eine Abmahnung von der Universitätsverwaltung. Dann, Mitte 2010, als ein trüber Juni den UCLA-Campus in Nebel hüllte, bekam Chel einen Anruf von Victor. Er bat sie, in sein Büro zu kommen, wo er ihr ein getipptes Manuskript in die Hand drückte, an dem er seit Monaten heimlich gearbeitet hatte. Auf der ersten Seite stand in großen Druckbuchstaben der Titel: TIMEWAVE 2012.

Chel blätterte zur Einleitung um.

Wir leben in einer Zeit von nie da gewesenen technologischen Veränderungen. Wir verwandeln Stammzellen in jedes gewünschte Gewebe, und dank unserer Impfstoffe und Heilmittel wird ein Kind, das heute zur Welt kommt, hundert Jahre oder älter werden. Wir leben aber auch in einer Zeit, in der Raketen von ferngesteuerten Flugrobotern abgefeuert werden und geheimes nukleares Wissen an totalitäre Regime durchsickert. Es gibt übermenschliche Intelligenzen, die wir bald nicht mehr werden kontrollieren können. Die weltweite Finanzkrise wurde durch Computeralgorithmen beschleunigt. Wir zerstören unser Ökosystem mit fossilen Brennstoffen und vergiften uns mit unsichtbaren karzinogenen Stoffen.

Ende der 1970er-Jahre entwickelte der Philosoph Terence McKenna die Theorie, dass von Beginn der Geschichtsaufzeichnung an die wichtigsten Neuerungen der Menschheit sich grafisch in einer Welle darstellen lassen: die Erfindung des Buchdrucks; Galileos Entdeckung, dass die Sonne der Mittelpunkt unseres Sonnensystems ist; die Entdeckung und Nutzbarmachung der Elektrizität; die Entdeckung der DNA; die Atombombe; Computer; das Internet. McKenna fand heraus, dass sich die Innovationsrate beschleunigt, und errechnete den genauen Punkt, an dem die langsam ansteigende Kurve senkrecht wird. Er glaubte, dass an dem Tag – den er Timewave Zero nannte – der technische Fortschritt keine Grenzen mehr kennen und es unmöglich werden würde, ihn zu kontrollieren oder Voraussagen über die weitere Entwicklung der Zivilisation zu machen.

Dieser Tag ist der 21. Dezember 2012, das Ende des 13. Zyklus der fünftausendjährigen Langen Zählung der Maya, der Tag, an dem ihren Prophezeiungen zufolge die Welt eine gigantische Umwandlung erfahren wird und die vierten Menschen ersetzt werden. Wir wissen noch nicht, wie diese neuen, fünften Menschen aussehen werden. Aber die Umwälzungen überall auf unserem Planeten beweisen, dass eine Veränderung von ungeheurem Ausmaß bevorsteht. Wir sollten die Zeit bis zum 21. Dezember 2012 nutzen, uns auf diese Veränderung vorzubereiten.

»Das kannst du nicht veröffentlichen«, hatte Chel gesagt.

»Ich habe es schon ein paar Leuten gezeigt, und alle waren begeistert«, erwiderte Victor.

»Was für Leute waren das – 2012er?«

Victor atmete tief durch. »Kluge Leute, Chel. Einige haben promoviert, viele haben selbst Bücher veröffentlicht.«

Chel konnte sich lebhaft vorstellen, wie sehr die 2012er-Gemeinde ihn verehrte, wo er doch ihren verqueren Ideen neue Nahrung gab. Seit seine Frau krank geworden war, hatte Victor seine Forschungsarbeit völlig vernachlässigt – das hier war seine Chance, wieder ein Star zu werden.

Doch als er Timewave 2012 im Selbstverlag herausbrachte, erntete er nur Hohn und Spott und bekam einen Verriss in der Times. Die Folgen in der akademischen Welt waren noch schlimmer: Niemand nahm Victor als Wissenschaftler noch ernst. Er bekam keine Fördermittel mehr, man legte ihm nahe, die Universität zu verlassen, und er verlor sein Haus, für das er von der Universität ein Darlehen bekommen hatte.

Chel brachte es nicht fertig, den Mann, dem sie so viel zu verdanken hatte, im Stich zu lassen. Sie nahm ihn in ihrer Wohnung in Westwood auf und besorgte ihm einen Job im Getty Museum – unter zwei Bedingungen: keine Vorträge mehr vor 2012ern oder vor Technikfeinden, keine Hetzreden mehr gegen den technologischen Fortschritt vor ihrem Team. Wenn er sich daran hielt, könnte er ihre Bibliotheken benutzen und würde ein kleines Gehalt bekommen, damit er wieder auf die Füße kam.

Fast ein Jahr lang half Victor tagsüber bei der Dechiffrierung alter Texte. Abends saß er vor dem Fernseher und schaute den History Channel. Man sah ihn sogar im Getty an einem Computer sitzen. Als er genug Geld zusammengekratzt hatte, mietete er sich eine eigene Wohnung. Anfang 2012 besuchte er seine Enkelkinder, und Chel bekam kurz darauf eine E-Mail von seinem Sohn: Er sei unendlich erleichtert, schrieb er ihr, dass er seinen Vater wiederhabe.

Vergangenen Juli jedoch, als Victor eigentlich an einer Ausstellung über postklassische Ruinen arbeiten sollte, stahl er Chels Universitätsausweis und verschaffte sich damit Zutritt zur Fakultätsbibliothek. Er wurde dabei erwischt, wie er mehrere kostbare Bücher hinausschmuggeln wollte, die alle mit dem Maya-Kalender zu tun hatten. Er hatte Chels Vertrauen missbraucht. Dieses Mal konnte sie ihm nicht verzeihen. Sie warf ihn hinaus, und so landete er im Museum of Jurassic Technology. Seit damals hatten sie nur einige wenige Male miteinander gesprochen, und die Unterhaltungen waren immer sehr verkrampft gewesen. Chel hatte jedoch die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie irgendwann nach dem 22. Dezember alles vergessen und noch einmal von vorn anfangen könnten.

Doch so lange konnte sie jetzt nicht mehr warten.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie und drehte sich zu ihm um. Sie wusste, wie sehr diese Worte ihn freuten.

»Das bezweifle ich sehr«, erwiderte Victor, »aber jederzeit gern, egal, was es ist.«

»Es geht um eine Syntaxfrage.« Sie griff in ihre Tasche. »Und ich brauche die Antwort jetzt gleich.«

»Was für ein Quellentext?«

Chel holte tief Luft, als sie ihren Laptop aus der Tasche zog. »Ein neuer Kodex«, entgegnete sie mit einer Mischung aus Stolz und ängstlicher Sorge. »Aus der klassischen Periode.«

Ihr alter Mentor lachte. »Du denkst wohl, ich bin senil geworden!«

»Glaubst du, ich wäre hier, wenn es mir nicht bitterernst wäre?«

Chel rief Bilder von den ersten Seiten der Handschrift auf dem Computer auf. Victors Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Er gehörte zu den wenigen Leuten auf der Welt, denen die Bedeutung eines solchen Fundes augenblicklich klar war. Gebannt starrte er auf den Monitor, während Chel erzählte, was passiert war.

»Die Guatemalteken wissen nichts von dem Kodex«, sagte sie, »und wir können es uns nicht leisten, dass irgendjemand sonst davon erfährt. Ich muss dir vertrauen können, Victor«, fügte sie eindringlich hinzu.

Endlich blickte er zu ihr auf. »Das kannst du, Chel.«

***

Später am Nachmittag standen Chel und Victor in Chels Labor im Getty Museum nebeneinander am Labortisch. Fasziniert betrachtete Victor die Darstellungen der Götter, die neuen Glyphen, die er nie zuvor gesehen hatte, die alten Symbole in neuen Kombinationen und in ungewöhnlicher Häufung. Etwas in Chel hatte sich vom ersten Moment an gewünscht, ihm das Buch zu zeigen, und als sie es jetzt noch einmal mit seinen Augen sah, empfand sie eine fiebrige Freude.

Victor hatte sofort erfasst, wo die Schwierigkeit des Textes lag: in dem Vater-Sohn-Glyphenpaar, das Chel und Rolando vergeblich zu entschlüsseln versucht hatten.

»In dieser Verbindung kenne ich es auch nicht«, sagte Victor. »Und dass es so oft sowohl als Subjekt wie auch als Objekt gebraucht wird, ist bisher einmalig.«

Gemeinsam studierten sie den Absatz, in dem das Glyphenpaar zum ersten Mal auftrat:

Der Vater und sein Sohn ist nicht adlig von Geburt, deshalb gibt es vieles, das dem Vater und seinem Sohn verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das der Vater und sein Sohn nicht hört von den Worten, die die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden.

»Es wird öfter als Subjekt gebraucht«, sagte Victor. »Ich denke, wir müssen uns auf Substantive konzentrieren, die immer wieder verwendet werden.«

»Das sehe ich auch so«, pflichtete Chel ihm bei. »Deshalb habe ich mir die anderen Kodizes vorgenommen und auf die am häufigsten verwendeten Subjekte untersucht. Es gibt sechs davon: Mais, Wasser, Unterwelt, Götter, Zeit und König

Victor nickte. »Und die einzigen, die hier Sinn machen, sind entweder Götter oder König

»Auf den ersten Seiten finden sich etwa ein Dutzend Hinweise auf eine Trockenperiode und auf die Adligen, die darauf warten, dass die Götter ihnen Wasser bringen.«

Victor dachte kurz nach. »Götter würde keinen Sinn machen. Nicht in diesem Zusammenhang, wo Vater und Sohn darauf warten, dass die Götter Regen schicken. Nicht die Götter warten darauf, dass die Götter Regen schicken, sondern die Menschen.«

»Ich habe es mit König versucht, aber das ergibt auch keinen Sinn. Vater und männliches Kind. Chit unen. Könnte das ein Hinweis auf eine Herrscherfamilie sein? Vielleicht wird Vater bildlich verwendet für König, und er hat einen Sohn, der sein Nachfolger werden wird.«

Victor rieb sich nachdenklich das Kinn. »Es gibt Zweierpaare von Ehemann und Ehefrau, die auf einen Herrscher und seine Königin verweisen.«

Chel tauschte im Geist die Symbole aus. »Aber wenn wir davon ausgehen, dass das Vater-Sohn-Glyphenpaar auf eine Herrscherfamilie verweist, dann würde der Satz heißen: Der König und sein Sohn sind nicht adlig von Geburt. Das ergibt doch auch keinen Sinn.«

Plötzlich riss Victor die Augen auf. »In der Maya-Syntax geht es um den Kontext, richtig?«

»Ja, klar …«

»Jedes Subjekt kommt in Bezug auf ein Objekt vor. Jedes Datum in Bezug auf eine Gottheit, jeder König in Bezug auf sein Reich. Wir sprechen immer von König K’awiil von Tikal, nicht einfach nur von König K’awiil. Wir sprechen von einem Ballspieler und seinem Ball als einer Einheit. Von einem Menschen und seinem Krafttier. Das eine Wort existiert nicht ohne das andere. Sie bedeuten ein und dasselbe.«

Chel nickte. »Eine Idee, nicht zwei.«

Victor begann auf und ab zu gehen. »Genau. Wenn es sich mit diesen Glyphen nun genauso verhält? Wenn der Schreiber sich nicht auf einen Vater und dessen Sohn bezieht, sondern nur auf einen einzigen Mann, der die Eigenschaften von beiden hat?«

Chel begann zu erahnen, worauf er hinauswollte. »Du meinst, der Schreiber spricht von sich selbst als von jemandem, der den Geist seines Vaters in sich trägt?«

»Überleg doch mal. Wir sagen doch auch: Sie ist ganz die Mutter. Oder, in deinem Fall, wohl eher ganz der Vater. Der Schreiber meint sich selbst.«

»Dann bedeutet das ja ich«, staunte sie.

»Ich habe das Glyphenpaar zwar noch nie in dieser Verwendung gesehen«, fuhr Victor fort, »aber ich kenne ähnliche grammatikalische Konstruktionen, die verwendet wurden, um die Verbindung eines Adligen zu einem Gott hervorzuheben.«

»Und in diesem Fall wird sie für die Verbindung mit einem Elternteil verwendet.«

»Ich bin nicht adlig von Geburt«, las Victor, »und deshalb gibt es vieles, das mir verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das ich nicht höre von den Worten, die die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden.«

Chel hatte das Gefühl, als ob sie schwebte. Alle bekannten Kodizes waren in der dritten Person verfasst, von einem Erzähler, der Distanz zu der Geschichte wahrte, die er schilderte.

Aber das hier war etwas völlig anderes.

Eine Erzählung in der Ich-Form war im Schrifttum der Maya etwas noch nie Dagewesenes und brachte möglicherweise ganz neue Erkenntnisse. Und es könnte eine tausendjährige Kluft überbrücken und eine echte innere Verbindung schaffen zwischen Chels Volk und dem Bewusstsein seiner Vorfahren.

»So«, sagte Victor und zog einen Stift aus der Tasche, als wäre es eine Waffe, »ich denke, wir sollten uns an die Arbeit machen und herausfinden, ob das Ding da den ganzen Ärger wert ist, den es verursacht hat.«

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