9
Die Notaufnahme des Presbyterian Hospital war bis in den letzten Winkel belegt mit Verletzten. Stanton eilte durch das Chaos, das der schwere Unfall auf der Schnellstraße verursacht hatte. Er prallte mit Pflegern zusammen. Stieß Notfallwägelchen um. Suchte hektisch nach dem Mann, der das alles angerichtet hatte. Autounfälle wurden oft im Zusammenhang mit Fällen von FFI genannt. Für Zeugen, wie bei einem Fall, der sich in Deutschland ereignet hatte, sah es so aus, als ob der Fahrer auf der Autobahn am Steuer eingenickt wäre.
Stanton riss die Vorhänge auf, mit denen die Betten abgeschirmt waren, einen nach dem anderen, und sah, wie Assistenzärzte Operationen durchführten, die sie niemals allein hätten durchführen dürfen, und Schwestern, die selbstständig medizinische Entscheidungen trafen, weil nicht genug Ärzte da waren. Das Einzige, was er nicht sah, war jemand, der ihm sagen konnte, wer der Unfallverursacher war, ob er noch lebte und ob er ebenfalls hier eingeliefert worden war.
Stanton blieb stehen und schaute sich ratlos um. Sein Blick fiel auf zwei Rettungssanitäter auf der anderen Seite, die aushalfen, weil das Krankenhaus viel zu wenig Personal hatte.
Stanton lief zu ihnen hin. Sie versorgten einen Patienten über eine Maske mit Sauerstoff. »Wart ihr Jungs an der Unfallstelle? Wisst ihr, wer den Unfall verursacht hat?«
»Ein Latino«, antwortete der eine.
»Und wo ist er jetzt? Hier?«
Der Mann nickte. »Suchen Sie nach einem John Doe.«
Stanton wandte sich um und überflog die Liste mit den Namen der eingelieferten Patienten. Noch ein John Doe? Selbst wenn der Fahrer keine Papiere bei sich hatte, hätte der Fahrzeughalter doch inzwischen ausfindig gemacht werden müssen.
Ziemlich weit unten auf der Liste fand Stanton, was er suchte. Er rannte zurück zu Abteil Nr. 14 und riss den Vorhang auf. Schwestern huschten geschäftig hin und her, Ärzte erteilten mit lauter Stimme knappe Anweisungen. Der Mann auf dem Bett war blutüberströmt und krümmte sich vor Schmerzen.
»Ich muss unbedingt mit diesem Mann reden.« Stanton zückte seinen CDC-Ausweis.
Ärzte und Schwestern blickten verwirrt drein, traten dann aber zur Seite, um ihm Platz zu machen.
Stanton beugte sich zu dem Patienten hinunter und fragte leise: »Sir, leiden Sie in letzter Zeit an Schlafstörungen?«
Keine Antwort.
»Sind Sie in letzter Zeit krank gewesen, Sir?«
Ein Monitor begann laut zu piepsen. »Der Blutdruck fällt«, sagte eine der Krankenschwestern warnend.
Ein Notarzt schob Stanton energisch zur Seite und erhöhte die intravenöse Medikamentengabe. Alle starrten auf den Monitor. Der Blutdruck fiel weiter ab, die Herztätigkeit verlangsamte sich.
»Notfallwagen!«, schrie ein anderer Arzt.
»Sir!«, rief Stanton über die anderen hinweg. »Wie heißen Sie?«
»Ernesto sah aus wie er«, stöhnte der Mann. »Ich wollte ihn nicht schlagen …«
»Bitte«, rief Stanton noch einmal, »Ihren Namen!«
Die Augen des Mannes flackerten. »Ich dachte, Ernesto wäre der Vogelmann. Der Vogelmann hat mir das angetan.«
Stanton spürte, wie es ihm bei diesen Worten kalt über den Rücken lief. »Der Vogelmann«, wiederholte er. »Wer ist der Vogelmann?«
Der Schwerverletzte stieß einen lang gezogenen Seufzer aus. Die weitere Abfolge der Ereignisse war wie ein Déjà-vu: Nulllinie, scharfe Befehle, Notfallwagen, Defibrillator, Injektionen, laute, aufgeregte Stimmen. Dann Stille. Und der Todeszeitpunkt.
***
Chel saß in ihrem Büro im Museum und rauchte die letzte Zigarette aus der Schachtel. Sie hatte noch nie jemanden sterben sehen. Der Anblick des todgeweihten Volcy, der vergebliche Kampf um sein Leben, hatte sie so erschüttert, dass sie aus dem Krankenhaus gelaufen war, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Seit Stunden saß sie einfach nur da, starrte dumpf auf ihren Computermonitor und rief immer wieder die aktualisierten Seiten auf. Sie ging nicht ans Telefon, nahm auch die Anrufe aus dem Krankenhaus, darunter zwei von Stanton, nicht entgegen.
Obwohl das Seuchenzentrum wusste, dass Volcy sich vegetarisch ernährt hatte, konzentrierten die Medien ihre Berichterstattung immer noch auf verseuchtes Fleisch als Infektionsherd. In den Blogs jagten sich die Beiträge über das Ende des Maya-Kalenders und hirnrissige Vermutungen darüber, dass es unmöglich ein Zufall sein konnte, dass nur eine Woche vor dem 21. Dezember eine neue Variante des Rinderwahnsinns ein erstes Opfer gefordert hatte.
Ein leises Klopfen an der Tür, dann wurde sie einen Spaltbreit geöffnet, und Rolando Chacon steckte den Kopf herein. »Hast du eine Minute Zeit?«
Chel winkte ihn herein. Er hatte sie nicht verurteilt, als sie ihm von ihrem Besuch im Krankenhaus erzählt hatte und dass sie die Ärzte belogen hatte über die wahren Gründe, warum Volcy in die Staaten gekommen war.
»Wie geht’s dir?«, fragte Rolando und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber.
Chel zuckte mit den Schultern.
»Willst du nicht nach Hause und ein bisschen schlafen?«
»Nicht nötig, mir geht’s gut«, antwortete sie. »Hast du was für mich?«
»Die Ergebnisse der C-14-Datierung sind da: 930 plus/minus 150 Jahre. Wie wir vermutet haben. Ende der klassischen Periode.«
Eigentlich hätte das ein Grund zum Jubeln sein müssen. Das war der lang ersehnte Beweis.
»Das ist eine großartige Nachricht«, murmelte Chel dumpf. Es war die Bestätigung ihrer langjährigen Forschungsarbeiten, und der Kodex könnte ihnen ein tieferes Verständnis der Geschichte ihres Volkes erschließen. Aber in diesem Moment empfand Chel gar nichts.
»Ich bin auch mit der Rekonstruktion des Textes weitergekommen«, fuhr Rolando fort. »Aber es gibt da ein Problem.« Er gab Chel einen Zettel, auf den er zwei Symbole gezeichnet hatte:
In der antiken Maya-Sprache wurden sie chit und unen ausgesprochen. »Ein Vater und ein männliches Kind des Vaters«, sagte Chel abwesend. »Ein Vater und sein Sohn.«
»Der Schreiber verwendet sie aber nicht in dieser Bedeutung.« Rolando gab ihr einen zweiten Zettel. »Das ist eine grobe Übersetzung des zweiten Absatzes.«
Der Vater und sein Sohn ist nicht adlig von Geburt, deshalb gibt es vieles, das dem Vater und seinem Sohn verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das der Vater und sein Sohn nicht hört von den Worten, die die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden.
»Er bezieht sich offenbar auf einen einzigen Menschen«, sagte Rolando. »Auf einen Adligen. Einen König. Oder so etwas Ähnliches. Jedenfalls findet sich dieses Symbolpaar in der ganzen Handschrift.«
Chel betrachtete die Glyphen genauer. Es war nicht ungewöhnlich, dass Wortpaare zur stilistischen Ausschmückung in einer anderen als der wörtlichen Bedeutung verwendet wurden. Chel vermutete, dass das auch hier der Fall war.
»Kann das etwas damit zu tun haben, dass Adelstitel vom Vater auf den Sohn vererbt werden?«, fragte Rolando. »Ein patrilineares Verwandtschaftssystem?«
Chel bezweifelte das zwar, aber sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. »Lass mir ein bisschen Zeit, ich muss mir das noch mal genauer ansehen.«
Rolando beugte sich vor und tippte mit dem Zeigefinger auf ihren Schreibtisch. »Ich weiß, du hörst das nicht gern, und ich kann deine Bedenken auch verstehen. Wirklich. Aber hier geht es um die Syntax, und auf diesem Gebiet ist Victor nun mal der Beste. Er könnte uns ein großes Stück weiterhelfen. Findest du nicht, dass das wichtiger ist als eure persönlichen Differenzen?«
»Wir schaffen das auch allein«, erwiderte Chel störrisch.
»Solange wir nicht wissen, was diese Kombination zu bedeuten hat, kommen wir nicht weiter«, wandte Rolando ein. »Allein auf der ersten Seite kommt sie nach dem ersten Absatz zehn Mal vor. Weiter hinten bis zu zwölf Mal auf einer einzigen Seite.«
»Ich werde daran arbeiten«, sagte Chel mit Nachdruck. »Danke«, fügte sie hinzu.
Rolando nickte und ging zurück ins Labor, und Chel wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Als sie die Homepage der Los Angeles Times aufrief, fand sie neue Artikel über Volcy und das Presbyterian Hospital. Aber noch etwas anderes erregte ihre Aufmerksamkeit: schockierende Fotos von einer grauenhaften Massenkarambolage auf der Schnellstraße 101 mit brennenden, ineinander verkeilten Fahrzeugwracks, aus denen Menschen geborgen wurden.
Und mitten in dem rauchenden Trümmerfelds sah man einen grünen Geländewagen.
***
Stanton und Davies standen in der Leichenhalle im Keller des Krankenhauses bei den zwei Edelstahltischen, auf denen die Leichen des Unfallfahrers und Volcys lagen.
Davies trat an den Tisch mit dem Unfallfahrer. Nachdem er einen Schnitt über den Schädel von einem Ohr zum anderen ausgeführt und die Haut zurückgeklappt hatte, entfernte er die Schädeldecke und legte das Gehirn frei.
»Fertig«, sagte er.
Stanton durchtrennte die Hirnrinde und das Rückenmark, griff dann in die Hirnschale und nahm das Gehirn heraus, wobei er versuchte zu ignorieren, dass es noch warm war. Irgendwo in den Windungen dieses Organs hoffte er, Aufschluss über VFI zu finden. Er legte das Hirn auf einen sterilen Tisch.
Als sie es seziert und einen ersten Blick auf den Thalamus geworfen hatten, bemerkte Stanton das löchrige Gewebe. Unter dem Mikroskop glich es einer Kraterlandschaft. FFI wie aus dem Lehrbuch. Nur sehr viel aggressiver.
»Und?«, fragte Davies.
»Gib mir eine Sekunde.« Stanton rieb sich die Augen.
»Du siehst total fertig aus.«
»Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.«
»Du siehst echt beschissen aus, Gabe. Du musst dich unbedingt ausruhen, du brauchst ein paar Stunden Schlaf.«
»Das brauchen wir alle.«
Davies lachte spöttisch. »Ich hab noch genug Zeit zum Schlafen, wenn ich hier liege, so wie die beiden.«
»Jetzt hör aber auf.«
»Was? Noch zu früh?«
Als sie mit dem Unfallfahrer fertig waren, unterzogen sie Volcy der gleichen Prozedur. Wieder setzte sich Stanton ans Mikroskop und drehte den Lichtregler höher. Die Krater in Volcys Hirn waren tiefer, und die Hirnrinde war stärker deformiert. Er war eindeutig derjenige, der sich zuerst infiziert hatte.
Stanton hatte das zwar schon vermutet, aber er hatte bislang nicht gewusst, was er mit dieser Information anfangen sollte. »Ich will, dass du alle diese Proben fotografierst«, sagte er zu Davies. »Und wir brauchen die MRTs, die wir von Volcy gemacht haben. Wenn wir sie miteinander vergleichen, können wir feststellen, wie schnell sich der Erreger in seinem Gehirn ausgebreitet hat. Und wenn wir das bestimmen können, können wir auch den ungefähren Zeitpunkt der Infektion bestimmen.«
Davies nickte. »Eine Zeitachse.«
Wenn es ihnen gelang, den Zeitpunkt der Infektion zu ermitteln, würden sie vielleicht auch herausfinden, wo Volcy sich infiziert hatte. Und mit ein bisschen Glück würde ihnen das Gleiche bei dem Unfallfahrer gelingen.
»Soll ich Cavanagh anrufen?«, fragte Davies.
Stanton nickte. Der Fahrer war der Schlüssel. Irgendjemand in dieser Stadt musste ihn kennen. Sobald er identifiziert war, würden sie Kontoauszüge und Kreditkartenquittungen haben und wissen, wo er seine Lebensmittel einkaufte, was er aß. Eine Spur aus Papier, die direkt zum Ausgangspunkt führen würde.
»Sie ist dran.« Davies hielt ihm sein Handy ans Ohr.
Stanton schälte sich das zweite Paar Handschuhe von den Händen und sagte nur ein Wort ins Telefon: »Positiv.«
Cavanagh holte tief Luft. »Sind Sie sicher?«
»Die gleiche Krankheit, verschiedene Stadien.«
»Ich nehme die nächste Maschine. Was brauchen Sie, um die Sache unter Kontrolle zu halten?«
»Als Erstes muss der Fahrer identifiziert werden. Wir haben zwei Fälle, und beide waren John Does, als sie eingeliefert wurden.« Der Ford Explorer war nicht registriert, und der Fahrer hatte genau wie Volcy keine Papiere bei sich gehabt. Dieser merkwürdige Zufall beunruhigte Stanton. Was, wenn es gar kein Zufall war? Aber was würde das bedeuten?
»Die Polizei ist schon an der Sache dran«, entgegnete Cavanagh. »Was noch?«
»Die Öffentlichkeit muss erfahren, dass es einen zweiten Fall gibt, und sie müssen es von uns erfahren, nicht von irgendeinem Blogger, der sich die Hälfte aus den Fingern saugt.«
»Falls Sie an eine Pressekonferenz denken, vergessen Sie’s. Dafür ist es zu früh. Jeder in der Stadt wird denken, er hätte sich infiziert.«
»Dann sorgen Sie wenigstens dafür, dass in den Läden Milchprodukte und Fleisch aus den Regalen genommen werden. Als reine Vorsichtsmaßnahme. Das USDA soll sämtliche Importe aus Guatemala kontrollieren. Und sagen Sie den Leuten, sie sollen ihre Milch und alles, was sie sonst noch im Kühlschrank haben, wegwerfen.«
»Erst wenn wir den Infektionsherd gefunden haben.«
»Dann schicken Sie alle unsere Leute her, damit sie die Pupillengröße jedes Patienten in jedem Krankenhaus überprüfen«, erwiderte Stanton aufgebracht. »Und ich rede nicht nur von L.A. Ich rede von Long Beach, Anaheim, der ganzen Region hier. Ich brauche mehr als zwei Messwerte.«
»Es sind schon Leute im Einsatz. Lassen Sie die ihren Job machen, okay?«
Stanton stellte sich Cavanaghs unbeugsamen Blick vor. Ihr Stern war 2007 aufgegangen, als ein Flugpassagier im Verdacht stand, an antibiotikaresistenter TB erkrankt zu sein. Cavanagh war eine der ganz wenigen im CDC gewesen, die einen kühlen Kopf bewahrten, bis die Gefahr gebannt war. Seitdem war sie bei den hohen Tieren in Washington gut angeschrieben. Aber jetzt war nicht die Zeit, einen kühlen Kopf zu bewahren.
»Wie können Sie nur so ruhig bleiben?«, fragte Stanton schließlich.
»Einer muss ja ruhig bleiben, wo Sie es schon nicht sind«, erwiderte sie trocken. »Eins hätte ich gern noch gewusst. Wie viel Schlaf haben Sie eigentlich in letzter Zeit gehabt? Ich werde in sechs Stunden da sein, und ich brauche Sie ausgeruht und mit klarem Verstand. Falls Sie nicht geschlafen haben, dann tun Sie’s jetzt.«
»Emily, ich –«
»Das war kein Vorschlag, Gabe. Das war ein Befehl.«
***
Zu Stantons Verwunderung hatte sich in Venice nichts verändert, als er an diesem Abend nach Hause kam. Die Biergärten waren voll wie immer. Unter den Markisen der Einzelhandelsgeschäfte hatten sich die Leute, die kein Dach über dem Kopf hatten, eine Bleibe für die Nacht gesucht. Auf der Strandpromenade wurden immer noch Talismane gegen die bevorstehende Apokalypse verscherbelt. Für kurze Zeit empfand Stanton es als beruhigend, dass das Leben hier seinen gewohnten Gang ging.
Kurz nach 23 Uhr stand er in seiner Küche und telefonierte mit dem Direktor der obersten guatemaltekischen Gesundheitsbehörde, Dr. Fernando Alarcon.
»Mr Volcy hat uns erzählt, er sei bereits krank gewesen, bevor er über die Grenze gekommen ist«, sagte Stanton. »Das wissen wir mit Sicherheit. Das bedeutet, entlang der panamerikanischen Schnellstraße muss jedes Krankenhaus überprüft werden, jede öffentliche Einrichtung des Gesundheitswesens und jede Arztpraxis, in der Indios behandelt werden.«
»Wir haben schon Teams in die fragliche Gegend geschickt«, erwiderte Alarcon. »Obwohl es uns Millionen von Dollar kostet, die wir nicht haben, überprüfen unsere Leute jede Farm in ganz Petén und nehmen Blutproben von den Rindern. Bis jetzt haben sie natürlich nichts gefunden. Keine Spur von irgendwelchen Prionen.«
»Noch nicht. Aber Sie verstehen doch, wie dringend die Angelegenheit ist, nicht wahr? Ihnen könnte der Ausbruch einer Epidemie bevorstehen.«
»Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Ihr zweiter Patient jemals hier gewesen ist, Dr. Stanton.«
Das Foto des zweiten Opfers war in den Abendnachrichten gezeigt worden, aber bisher hatten sich weder Angehörigen noch Freunde des Mannes gemeldet. »Wir konnten ihn noch nicht identifizieren, aber –«
Alarcon ließ ihn nicht ausreden. »Wir haben hier keine weiteren Fälle, und es ist verantwortungslos von Ihnen, etwas anderes zu behaupten. Dieser Volcy hat sich nicht hier bei uns infiziert. Aber wir werden natürlich alles tun, was in unserer Macht steht, um Ihnen bei Ihren Nachforschungen behilflich zu sein.«
Das Gespräch endete abrupt. Stanton war völlig frustriert. Solange keine Fälle im Land gemeldet wurden, war die Angst in Guatemala nicht groß genug, als dass sie dort entschlossen handeln würden. Aber selbst wenn eine Infektion nachgewiesen werden sollte, war vermutlich nicht viel zu erwarten von einem Land mit einem eher unterentwickelten Gesundheitssystem.
Stanton hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss geschoben wurde. Die Haustür sprang auf, Pfoten tappten über den Boden. Stanton eilte ins Wohnzimmer. Nina, in abgetragenen Jeans, einer Windjacke und noch nass glänzenden Überschuhen, lächelte ihn mitfühlend an, während Dogma freudig auf sein Herrchen zu rannte. Nina folgte dem Hund und schlang Stanton die Arme um den Hals.
»Na, Captain, hast du den sicheren Hafen angelaufen?« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Schätze, das ist ein guter Platz bis Sonnenaufgang. Du siehst echt beschissen aus, weißt du das?«
»Du bist nicht die Erste, die mir das sagt.«
Dogma begann zu winseln, und Stanton kraulte ihn und massierte ihm die Ohren mit kreisförmigen Bewegungen.
Nina schälte sich aus ihrer Jacke. »Wann hast du eigentlich das letzte Mal was gegessen?«
»Keine Ahnung.«
Nina winkte ihm, ihr in die Küche zu folgen. »Kommst du freiwillig oder muss ich Gewalt anwenden?«
Im Kühlschrank war noch eine halb volle Schachtel vom Chinesen, und Nina machte die Reste in der Mikrowelle warm und brachte Stanton dazu, etwas zu essen. Sie ließ es ihm durchgehen, dass er dabei die Nachrichten hörte. Der Moderator des Nachrichtensenders interviewte einen Pressesprecher des Seuchenzentrums, von dem Stanton noch nie gehört hatte. Ihm war schon nach wenigen Augenblicken klar, dass beide nicht viel Ahnung von Prionenerkrankungen hatten. Stanton verspürte ein Gefühl der Enge in der Brust.
»Was ist?«, fragte Nina.
Er spielte mit seiner Gabel, quetschte mit den Zinken Flüssigkeit aus den Tofuwürfeln und sagte schließlich: »Das ist erst der Anfang.« Er deutete mit der Gabel in Richtung Radio.
»Dann ist es ja gut, dass sie dich haben.«
»Die Leute werden bald merken, dass wir keine Ahnung haben, wie wir eine solche Krankheit in den Griff bekommen sollen.«
»Du hast sie doch schon lange gewarnt, dass dieser Tag irgendwann kommen würde.«
»Ich meine nicht das Seuchenzentrum. Ich meine die anderen Leute, die fragen werden, warum wir noch keinen Impfstoff entwickelt haben. Im Kongress werden sie durchdrehen. Sie werden wissen wollen, was wir seit Ausbruch des Rinderwahnsinns eigentlich getan haben.«
»Du hast getan, was du konntest. Wie immer.«
Ihre Stimme war so tröstlich, der Ausdruck in ihren Augen so voller Zärtlichkeit. Stanton nahm ihre Hand. Eine Zeit lang schwiegen sie beide. Er wollte ihr so viel sagen, und er spürte, dass die Ereignisse der letzten zwei Tage etwas in ihr wachgerufen hatten, auch wenn sie es lachend abstritt. Sie konnte ihm nichts vormachen: Sie war ihm dankbar, dass er sie angerufen und gewarnt hatte, das fühlte er.
Nina drückte ihre Lippen auf seinen Handrücken. Dann stand sie auf, zog ihn hinter sich her ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Sie setzten sich nebeneinander, und Nina lehnte den Kopf an seine Schulter. Der bekannte Journalist Wolf Blitzer moderierte seine Nachrichtensendung The Situation Room. Die Identität des zweiten Opfers sei nach wie vor ungeklärt, sagte er.
»Hast du genug Vorräte an Bord?«, fragte Stanton unvermittelt.
»Wofür?«, fragte Nina zurück. »Sei nicht so pessimistisch. Sonst kriegt der Hund noch Depressionen.«
Stanton sah sie an und empfand etwas für ihn völlig Neues. Nachdem er zehn Jahre im Labor verbracht, zehn Jahre lang um Forschungsmittel gekämpft, zehn Jahre lang gewarnt hatte, dass ein Ausbruch einer Epidemie jederzeit möglich sei, war jetzt das Unvermeidliche eingetreten, und er wünschte sich in diesem Moment nur, mit Nina und dem Hund auf das Boot zurückzugehen und nie wieder etwas von Prionenkrankheiten zu hören.
»Wie wär’s, wenn wir abhauen würden?«, fragte er.
Nina hob den Kopf. »Abhauen? Und wohin?«
»Was weiß ich. Hawaii?«
»Tu das nicht, Gabe.«
»Ich mein’s ernst.« Er sah ihr fest in die Augen. »Ich will nichts weiter als mit dir zusammen sein. Alles andere ist mir egal. Ich liebe dich.«
Sie lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln. »Ich liebe dich auch.«
Stanton beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen, aber Nina wandte das Gesicht ab.
»Was ist?«, fragte er.
»Du stehst momentan unter enormem Druck, Gabe. Aber du schaffst das, da bin ich mir ganz sicher.«
»Ich will es aber zusammen mit dir schaffen. Sag mir, was du willst.«
»Gabe, bitte.« Sie sah ihn fast flehend an.
»Sag’s mir.«
Sie wandte den Blick nicht ab, als sie sprach. »Ich will jemanden, dem es egal ist, wenn er zu spät zur Arbeit kommt, weil wir zu lange im Bett geblieben sind. Jemanden, der wirklich bereit ist, mit mir auf dieses Schiff zu gehen und das alles hinter sich zu lassen. Ich kenne niemanden, der so getrieben ist wie du, und das liebe ich an dir. Aber selbst wenn du mit mir kämst, würdest du spätestens nach zwei Tagen zum Labor zurückschwimmen. Du würdest nie alles im Stich lassen. Und jetzt am allerwenigsten.«
Stanton hatte das alles schon einige Male in abgewandelter Form gehört und jedes Mal gedacht, Nina habe das nur erfunden, sie beschreibe einen Mann, den es gar nicht gab, und irgendwann würden ihre Gegensätze sich wieder anziehen. Aber an diesem Abend fiel es ihm schwer, etwas dagegen zu sagen.
Nina lehnte den Kopf wieder an seine Schulter. Keiner sagte ein Wort.
Es dauerte nicht lange, bis ihre Atemzüge langsamer wurden. Stanton war nicht überrascht – Nina konnte überall und jederzeit schlafen: auf einer Parkbank, im Theater, an einem überfüllten Strand. Er machte ebenfalls die Augen zu. Seine verkrampften Kiefermuskeln lockerten sich. Er überlegte, ob er Davies anrufen und ihn fragen sollte, ob er schon weitergekommen war. Aber der Gedanke wurde weggetragen von einer Welle der Erschöpfung und der Traurigkeit. Am liebsten hätte er Trost in einer tiefen Bewusstlosigkeit gesucht.
Aber er konnte nicht einschlafen. Während Minute um Minute verstrich, zählte er im Geist alle Gründe auf, warum er sich nicht infiziert haben konnte: Er hatte seit Monaten keine Milchprodukte und schon seit Jahren kein Fleisch mehr gegessen. Aber jetzt konnte er Cavanaghs Sorge verstehen, wie leicht man sich einbilden konnte, dass man sich mit VFI angesteckt hatte.
Stanton stand auf, trug Nina ins Schlafzimmer hinüber und legte sie behutsam auf die Seite des Bettes, die früher ihre gewesen war. Dogma kam hereingetrottet, und obwohl der Hund normalerweise nicht mit ins Bett durfte, klopfte Stanton jetzt mit der flachen Hand ein paar Mal auf die Matratze. Dogma sprang aufs Bett und legte sich neben Nina.
Stanton war auf dem Weg ins Arbeitszimmer, wo er seine E-Mails durchsehen wollte, als sein Handy klingelte. Er kannte die auf dem Display angezeigte Nummer nicht.
»Dr. Stanton? Hier ist Chel Manu. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät noch störe.«
»Dr. Manu! Wo haben Sie denn gesteckt? Wir haben x-mal versucht, Sie zu erreichen.«
»Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde.«
Etwas in ihrer Stimme ließ Stanton aufhorchen. »Alles in Ordnung?«
»Ich muss mit Ihnen reden.«