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Chel Manu kam wie immer, als der Gottesdienst schon fast zu Ende war. Die Fahrt von ihrem Büro im Getty Museum zur Kathedrale Our Lady of the Angels – der Mutterkirche für die vier Millionen Katholiken in Los Angeles – dauerte im dichten Berufsverkehr fast eine Stunde, aber sie genoss den allwöchentlichen Ausflug. Da sie die meiste Zeit in ihrem Forschungslabor im Museum oder in den Vorlesungssälen der UCLA eingesperrt war, war sie froh, wenn sie Gelegenheit hatte, aus dem westlichen Teil der Stadt herauszukommen, auf den Freeway einzubiegen und einfach nur zu fahren. Nicht einmal der Verkehr, der Fluch von Los Angeles, machte ihr etwas aus. Die Fahrt zur Kirche in Downtown L.A. war so etwas wie eine kleine Auszeit, eine besinnliche Pause, in der sie alle störenden Geräusche ausblenden konnte: die Forschungsarbeit, das Budget, die Kollegen, die Fakultätsausschüsse, ihre Mutter. Sie würde eine – oder auch zwei – rauchen, den Rocksender KCRW hören und ein bisschen abschalten. Jedes Mal, wenn sie sich ihrer Ausfahrt näherte, wünschte sie, sie könnte einfach weiterfahren.
Vor der Kathedrale schnippte sie die Kippe ihrer zweiten Zigarette in den Mülleimer, der unter der eigenartigen androgynen Monumentalfigur der Muttergottes am Eingang angebracht war. Dann stieß sie die schwere Bronzetür auf. Im Inneren der Kirche ließ Chel die vertrauten Eindrücke auf sich wirken: den süßen Duft von Weihrauch, den Gesang von Kirchenliedern und das gedämpfte erdfarbene Licht, das durch die Alabasterfenster auf die Gesichter der kleinen Gemeinde von Maya-Einwanderern fiel.
Am Predigtpult, unter fünf golden gerahmten Darstellungen der fünf Abschnitte im Leben Jesu, stand Maraka, der ältere bärtige »Hüter des Tages«, wie der Priester auch genannt wurde, und schwenkte ein Weihrauchfass.
»Tewichim«, psalmodierte er in Qu’iche, jenem Maya-Dialekt, der in Guatemala von über einer Million indígenas gesprochen wurde. »Tewichim gukumatz, k’astajisaj.« Gelobt sei die gefiederte Schlange, die Spenderin des Lebens.
Maraka wandte sich nach Osten und nahm dann einen kräftigen Schluck baalché, dem milchig weißen heiligen Trank, der aus Baumrinde, Zimt und Honig gemacht wurde. Als er fertig war, stimmten die Gläubigen auf sein Zeichen hin wieder ein Lied an. Das Ritual gehörte zu jenen uralten Bräuchen, die zu praktizieren der Erzbischof ihnen ein oder zwei Mal die Woche erlaubt hatte, vorausgesetzt, die indígenas besuchten auch weiterhin die traditionelle katholische Messe.
Chel versuchte, sich möglichst unauffällig am Rand des Kirchenschiffs entlangzudrücken, doch einer der Männer bemerkte sie und winkte ihr eifrig. Sie hatte ihm geholfen, die Formulare für die Einwanderungsbehörde auszufüllen, und seitdem hatte er sie ein halbes Dutzend Mal gefragt, ob sie nicht mit ihm ausgehen wolle. Sie hatte abgelehnt und geschwindelt, sie sei in festen Händen. Mit ihren eins fünfundfünfzig unterschied sie sich sicherlich von den meisten Frauen, denen man hier in Los Angeles begegnete, aber viele Männer fanden sie ausgesprochen schön.
Chel wartete neben dem Räucheraltar, bis der Gottesdienst zu Ende war. Sie ließ den Blick über die Gesichter der Gläubigen schweifen, unter denen sich mindestens zwei Dutzend Weiße befanden. Noch vor Kurzem hatte die Fraternidad nur sechzig Mitglieder gezählt, Nachfahren der Maya aus deren ursprünglichen Siedlungsgebieten, einschließlich Chels Heimat Guatemala, die sich montagmorgens hier versammelten, um zu den Göttern ihrer Vorfahren zu beten und die alten Traditionen zu pflegen.
Doch dann waren immer mehr Anhänger der Apokalypse aufgetaucht. »2012er« wurden sie in der Presse genannt. Anscheinend glaubten sie, sie würden beim Weltuntergang, der ihrer Meinung nach in knapp zwei Wochen stattfinden würde, verschont, wenn sie an den Maya-Zeremonien teilnahmen. Es gab natürlich auch solche 2012er, die sich nicht die Mühe machten, hierherzukommen, sondern ihre Ansichten über das Ende der sogenannten Langen Zählung der Maya von der eigenen Kanzel aus predigten. Einige prophezeiten verheerende Überschwemmungen, katastrophale Erdbeben und die Umkehrung der Magnetfelder an den Polen, wodurch jegliches Leben auf der Erde ausgelöscht würde. Andere behaupteten, unsere hoch technisierte Welt werde zusammenbrechen und die Menschheit auf eine primitivere Entwicklungsstufe zurückgeworfen. Seriöse Maya-Experten, darunter auch Chel, fanden die Idee, am 21. Dezember könne die Welt untergehen, einfach absurd. Doch das hielt die 2012er nicht davon ab, das uralte Wissen der Maya zu benutzen, um T-Shirts oder Karten für ihre Vorträge an den Mann zu bringen oder um Chels Volk in nächtlichen Fernsehshows zur Zielscheibe des Spotts zu machen.
»Chel?«
Als sie sich umdrehte, stand Maraka hinter ihr. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die Zeremonie zu Ende war und die Kirchenbesucher sich aus den Bankreihen schoben.
Der »Hüter des Tages« legte ihr die Hand auf die Schulter. Er war inzwischen fast achtzig, und seine früher einmal schwarzen Haare waren ganz weiß geworden. »Willkommen. Du kannst ins Büro, es ist alles vorbereitet. Es wäre natürlich schön, wenn du auch einmal wieder den Gottesdienst besuchen würdest.«
Chel zuckte mit den Schultern. »Ich versuch’s, versprochen. Ich hatte in letzter Zeit viel um die Ohren, Hüter des Tages.«
Maraka lächelte. »Das weiß ich, Chel. In Lak’ech.«
Ich bin du, und du bist ich.
Chel neigte den Kopf. Die traditionelle Grußformel war sogar in Guatemala ungebräuchlich geworden, aber viele alte Menschen legten noch immer Wert darauf, und Chel fand, wenn sie schon kein Interesse mehr am Besuch des Gottesdienstes hatte, konnte sie Maraka wenigstens diesen Gefallen tun.
Und so erwiderte sie leise: »In Lak’ech.« Dann ging sie in den hinteren Teil der Kirche.
Vor dem Büro, in dem sie jede Woche eine Art Sprechstunde abhielt, warteten schon etliche Hilfesuchende. Die Larakams waren die Ersten. Chel hatte gehört, dass Vicente in die Fänge eines Kredithais geraten war, der sein Geschäft mit Leuten wie den Larakams machte – Einwanderer, die nicht glauben konnten, dass das Leben hier vielleicht noch schlimmer war als das, das sie in Guatemala hinter sich gelassen hatten. Chel fragte sich, ob Ina, Vicentes Frau, die einen intelligenten Eindruck auf sie machte, es vielleicht geahnt hatte. Ina trug einen bodenlangen Rock und eine huipil genannte Baumwollbluse mit einem komplizierten Zickzackmuster. Die traditionelle Kleidung unterstrich ihre traditionelle Rolle als Ehefrau, und das bedeutete, sie würde ihrem Mann nicht widersprechen, egal, wie schlecht sein Urteilsvermögen auch sein mochte.
»Danke, dass wir kommen durften«, sagte sie ruhig.
Vicente erklärte langsam, dass er sich Geld zu Wucherzinsen geliehen hatte, damit sie sich eine Einzimmerwohnung in Echo Park mieten konnten, und jetzt waren die Belastungen höher als sein Lohn als Landschaftsgärtner. Er machte ein Gesicht, als lastete die ganze Welt auf seinen Schultern. Ina stand stumm neben ihm, aber ihre Augen sahen Chel flehentlich an. Die beiden Frauen verstanden sich auch ohne Worte. Chel begriff, wie viel Überwindung es Vicente gekostet hatte, hierherzukommen und sie um Hilfe zu bitten.
Wortlos gab er Chel den Vertrag des Halsabschneiders, den er unterschrieben hatte, und als sie das Kleingedruckte las, stieg eine vertraute Wut in ihr hoch. Vicente und Ina waren nur zwei von den zahllosen Einwanderern aus Guatemala, die sich, überwältigt von der Flut neuer Eindrücke, in diesem Land zurechtzufinden versuchten, und es gab genug Leute, die das gnadenlos ausnutzten. Andererseits waren die Nachfahren der Maya schlicht zu vertrauensselig. Nicht einmal fünfhundert Jahre Unterdrückung hatten es geschafft, sie mit einem Mindestmaß an überlebensnotwendigem Zynismus auszustatten, und dafür mussten sie teuer bezahlen.
Doch zum Glück für die Larakams hatte Chel ausgezeichnete Kontakte, vor allem zu Rechtsanwälten und anderen Beratungsstellen. Sie schrieb ihnen den Namen eines Anwalts auf, mit dem sie sich in Verbindung setzen sollten. Doch bevor sie sich verabschieden konnte, griff Ina in ihre Tasche, zog eine Plastikdose heraus und reichte sie Chel.
»Pepian«, sagte sie. »Meine Tochter und ich haben es für Sie gekocht.«
Chels Tiefkühltruhe war bereits randvoll mit dem süßlichen Hühnergericht, das sie immer wieder von Mitgliedern der Fraternidad geschenkt bekam, aber sie bedankte sich und nahm es trotzdem. Der Gedanke, dass Ina und deren kleine Tochter es gemeinsam zubereitet hatten, machte sie glücklich. Die guatemaltekische Gemeinde hatte eine Zukunft in L.A., und darüber freute sie sich von ganzem Herzen. Chels eigene Mutter, die in einem kleinen Dorf in Guatemala aufgewachsen war, verbrachte den Morgen wahrscheinlich vor dem Fernseher, schaute sich Good Morning Amertca an und aß eine Schale Cornflakes dazu.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Chel, als sie Vicente die Unterlagen zurückgab. »Und seien Sie das nächste Mal vorsichtiger. Lassen Sie sich nicht auf irgendwelche Geschäfte mit jemandem ein, dessen Gesicht Sie an der Bushaltestelle sehen. Das macht diese Leute nicht zu Berühmtheiten. Jedenfalls nicht im positiven Sinne. Kommen Sie lieber zu mir.«
Vicente nahm seine Frau bei der Hand und lächelte angespannt. Dann verließen sie das Büro.
Eine Stunde lang kümmerte sich Chel um die Anliegen, die an sie herangetragen wurden. Sie erklärte einer Schwangeren ein Programm für Schutzimpfungen, schaltete sich für Marakas Vertreter wegen einer strittigen Kreditkartenabrechnung ein und befasste sich mit der Klage eines Vermieters gegen einen alten Freund ihrer Mutter.
Als ihr letzter Besucher gegangen war, lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Sie dachte an die antike Keramikvase im Getty Museum, in der man Überreste von Tabak gefunden hatte, einer der ältesten Tabakfunde überhaupt. Kein Wunder, dass es ihr so verdammt schwerfiel, das Rauchen aufzugeben. Die Menschen rauchten seit Jahrtausenden.
Ein energisches Klopfen holte Chel in die Wirklichkeit zurück.
Sie stand auf und ging zur Tür. Verblüfft sah sie den Mann an, der vor ihr stand. Sie hatte ihn seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Er gehörte zu einer völlig anderen Welt als die indígenas, die sich zu den Fraternidad-Messen versammelten, deshalb erschrak sie unwillkürlich bei seinem Anblick.
»Was machen Sie hier?«, fragte sie, als Hector Gutierrez ins Büro trat.
»Ich muss mit Ihnen reden.«
Sie hatte Gutierrez nur ein paar Mal getroffen, aber er schien immer in guter körperlicher Verfassung zu sein. Jetzt hatte er dunkle Schatten unter den Augen, die müde und glasig starr blickten. Er schwitzte stark und tupfte sich mit einem Taschentuch nervös den Schweiß vom Gesicht. Chel hatte ihn noch nie unrasiert gesehen. Sein Bart wuchs bis zu dem portweinroten Fleck unter seiner linken Schläfe hinauf. Chels Blick fiel auf die Tasche in seiner Hand.
»Woher haben Sie gewusst, dass ich hier bin?«
»Ich habe in Ihrem Büro angerufen.«
Chel nahm sich vor, dafür zu sorgen, dass niemand in ihrem Labor diese Information noch einmal herausgab.
»Ich habe etwas, das Sie sich unbedingt ansehen müssen«, fuhr er fort.
Sie warf einen misstrauischen Blick auf den Matchsack in seiner Hand. »Sie sollten nicht hier sein.«
»Ich brauche Ihre Hilfe. Sie haben meinen alten Lagerraum entdeckt, wo ich meinen Bestand deponiert hatte.«
Chel spähte zur Tür, um sich zu vergewissern, dass niemand lauschte. »Sie« konnte nur eines bedeuten: Die Beamten der Einwanderungs- und Zollbehörde, die unter anderem gegen Antiquitätenschmuggel vorgingen, waren ihm auf den Fersen.
»Ich hatte den Lagerraum schon ausgeräumt«, fuhr Gutierrez fort. »Aber sie haben ihn durchsucht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie bei mir zu Hause aufkreuzen.«
Chel schnürte es unwillkürlich die Kehle zu, als sie an das Gefäß in Form eines Schildkrötenpanzers dachte, das sie ihm vor über einem Jahr abgekauft hatte. »Und Ihre Unterlagen? Haben sie die auch gefunden?«
»Keine Sorge, im Moment sind Sie sicher. Aber Sie müssen das hier für mich aufbewahren, Dr. Manu. Nur so lange, bis keine Gefahr mehr besteht.«
Er hielt ihr die Tasche hin.
Chel schaute abermals zur Tür und flüsterte: »Sie wissen, dass ich das nicht tun kann.«
»Sie haben Stahlkammern im Museum. Legen Sie es dorthinein. Nur für ein paar Tage. Kein Mensch wird etwas merken.«
Sie sollte ihm einfach sagen, dass er das, was er da in der Tasche hatte, loswerden sollte. Sie wusste, dass sie das tun sollte. Sie wusste auch, dass es sich um etwas äußerst Wertvolles handeln musste, wenn er das Risiko eingegangen war, es herzubringen. Man konnte Gutierrez nicht trauen, aber wenn es darum ging, Antiquitäten zu beschaffen, war er ein absoluter Profi, und er kannte ihre Leidenschaft für die Artefakte ihres Volkes.
»Kommen Sie«, raunte Chel ihm zu und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, ihr zu folgen.
Einige vereinzelte Gläubige blickten kurz auf, als sie vor ihm in das Kellergewölbe der Kirche hinunterging und weiter durch die Glastüren mit Engelsgravuren in das Mausoleum, wo in Wandnischen die Urnen mit der Asche etlicher Tausend Katholiken aufbewahrt wurden. Chel betrat einen der Räume, in denen Steinbänke vor glänzenden weißen Wänden mit eingemeißelten Namen und Daten standen, eine akribische Bibliografie des Todes.
Chel schloss sorgfältig die Tür hinter sich. »Lassen Sie sehen.«
Gutierrez zog ein ungefähr sechzig auf sechzig Zentimeter großes quadratisches Holzkistchen, das in Plastikfolie eingewickelt war, aus seinem Beutel. Als er die Folie entfernte, stieg der unverkennbare scharfe Geruch von Fledermausexkrementen auf – der typische Geruch eines Gegenstands, der vor Kurzem erst aus einer alten Grabstätte geborgen worden war. »Es muss unbedingt fachkundig konserviert werden, bevor es noch mehr zerfällt.« Er nahm den Deckel der Kiste ab.
Im ersten Moment begriff Chel nicht, was sie da vor sich hatte. Der Inhalt sah aus wie eine Art Verpackungsmaterial. Als sie sich darüberbeugte, erkannte sie jedoch, dass es sich um vergilbte, brüchige Blätter aus Baumrinde handelte, die lose in der Kiste lagen. Die Blätter waren mit Wörtern und sogar ganzen Sätzen in der Sprache ihrer Vorfahren beschrieben. Die alten Maya hatten eine Hieroglyphen-Schrift entwickelt, und die Fragmente waren nicht nur über und über mit diesen sogenannten Glyphen bedeckt, sondern auch mit Darstellungen von Göttern in farbenprächtigen Gewändern.
»Ein Kodex?«, sagte Chel. »Kommen Sie, machen Sie sich doch nicht lächerlich!«
Die Geschichtsaufzeichnungen der Maya, niedergeschrieben von einem Schreiber im Auftrag des Königs, wurden als Kodex bezeichnet. Chel hatte das Wort »selten« im Zusammenhang mit blauen Diamanten oder einer Gutenberg-Bibel gehört, aber verglichen mit dem überlieferten Schrifttum der Maya kamen Gutenberg-Bibeln oder blaue Diamanten geradezu oft vor: Nur vier solcher Bücher waren erhalten geblieben. Wie konnte Gutierrez auch nur eine Minute lang glauben, sie würde ihm abnehmen, dass er in den Besitz neuer Texte gelangt war?
»Seit dreißig Jahren ist kein neuer Kodex mehr entdeckt worden«, fügte sie hinzu.
»Bis jetzt.« Der Mann schälte sich aus seiner Jacke.
Chel beugte sich abermals über die kleine Kiste. Während ihres Studiums hatte sie einmal die seltene Gelegenheit gehabt, einen Originalkodex zu sehen, daher wusste sie genau, wie einer aussehen und sich anfühlen musste. In einem Gewölbe in Deutschland hatte sie unter den wachsamen Blicken bewaffneter Wachleute die Seiten des Dresdner Kodex umgeblättert und war beim Anblick der Bilder und Zeichen tausend Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt worden. Es war ein Schlüsselerlebnis: Es hatte sie dazu bewogen, sich in ihrem weiteren Studium der Sprache und den Schriften ihrer Vorfahren zu widmen.
»Das ist eine Fälschung, das ist doch klar«, sagte sie und zwang sich, den Blick abzuwenden. Heutzutage handelte es sich bei mehr als der Hälfte der Artefakte, die ihr angeboten wurden, um Fälschungen, selbst wenn sie ganz legal von einem renommierten Händler kamen. Sogar der Geruch nach Fledermausexkrementen ließ sich künstlich herstellen. »Und um eins klarzustellen: Als Sie mir das Tongefäß in Form eines Schildkrötenpanzers verkauft haben, wusste ich nicht, dass es sich um Diebesgut handelte. Sie haben mich mit den Papieren bewusst in die Irre geführt. Also versuchen Sie nicht, der Polizei etwas anderes zu erzählen.«
Doch die Wahrheit war komplizierter. Als Kuratorin für die Kunst der Maya musste Chel jeden für das Getty Museum erworbenen Gegenstand dokumentieren und dessen Herkunft lückenlos bis zum Ursprung zurückverfolgen und belegen. Das hatte sie auch mit dem von Gutierrez gekauften antiken Gefäß getan, doch dann, Wochen später, hatte sie festgestellt, dass es Unstimmigkeiten gab. Ihre Entdeckung für sich zu behalten war ein Risiko, das war ihr klar, aber sie brachte es einfach nicht fertig, sich von diesem einzigartigen Zeugnis der Geschichte zu trennen, und so behielt sie es und schwieg. Der eigentliche Skandal war doch, dass das Erbe ihres Volkes auf dem Schwarzmarkt verhökert wurde und jedes Artefakt, das sie nicht kaufte, für immer im Haus irgendeines Sammlers verschwand.
»Bitte«, sagte Gutierrez beschwörend und überging geflissentlich ihre Bemerkung über das Gefäß. »Heben Sie es nur ein paar Tage für mich auf.«
Chel beschloss, die Sache an Ort und Stelle zu klären. Sie griff in ihre Handtasche und zog ein paar weiße Baumwollhandschuhe und eine Pinzette heraus.
»Was haben Sie vor?«, fragte Gutierrez.
»Ich werde Ihnen beweisen, dass das Ding da eine Fälschung ist.«
Die Plastikfolie war noch feucht vom Schweiß des Mannes, und Chel spannte sich unwillkürlich an, als die Feuchtigkeit durch den Stoff ihrer Handschuhe sickerte. Gutierrez kniff sich in den Nasenrücken und rieb sich dann energisch die geröteten Augen. Sein Körpergeruch stach Chel noch schärfer in die Nase als der Geruch von Fledermausexkrementen. Doch als sie mit beiden Händen in die Kiste griff und vorsichtig die brüchigen Blätter untersuchte, vergaß sie alles um sich herum. Ihr erster Gedanke war, dass die Glyphen zu alt waren. Die Geschichte der Maya ließ sich in zwei Perioden unterteilen: in die klassische, die den Aufstieg ihrer Kultur von 200 v. Chr. bis 900 v. Chr. umfasste, und die postklassische, wie man die Zeit ihres Niedergangs bis zur Ankunft der Spanier um 1500 herum bezeichnete. Das Schrifttum der Maya hatte sich formal und auch inhaltlich im Lauf der Zeit unter äußeren Einflüssen entwickelt und verändert, und jede Periode hatte ihre eigene unverwechselbare Schrift.
Aus der klassischen Periode war nicht ein einziges Stück beschriebenes Papier überliefert worden; alle vier bekannten Maya-Kodizes waren erst Jahrhunderte später entstanden. Nur Inschriften in Ruinen gaben Hinweise darauf, wie die Schrift in der klassischen Periode ausgesehen haben musste. Doch die Zeichen der Blätter, die Chel jetzt betrachtete, schienen irgendwann zwischen 800 und 900 v. Chr. niedergeschrieben worden zu sein, und das war ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn es echt wäre, würde es sich um das wertvollste Artefakt in der Geschichte der mesoamerikanischen Forschung handeln.
Chel überflog die Zeilen auf der Suche nach einer Unstimmigkeit – eine unsauber gemalte Glyphe, die Darstellung eines Gottes ohne den richtigen Kopfputz, ein Fehler in der zeitlichen Abfolge. Doch sie konnte nichts finden. Die schwarze und die rote Tinte waren verblasst, wie es sein sollte, und die blaue leuchtete immer noch so, wie es in echten Maya-Texten der Fall war. Das Papier war verwittert, als hätte es tausend Jahre in einer Höhle überdauert, die Rinde war brüchig und spröde.
Was Chel aber noch mehr beeindruckte, war die Tatsache, dass sich der Text ganz flüssig las. Die Kombination der Glyphen ergab intuitiv einen Sinn, genau wie die Piktogramme. Wie bei einem Kodex aus dieser Zeit zu erwarten war, schienen die Glyphen in einer frühen Version des klassischen Ch’olan geschrieben zu sein. Besonders die phonetischen Ergänzungen über den Glyphen, die dem Leser beim Entschlüsseln der Bedeutung helfen sollten, verblüfften Chel. Sie waren in Qu’iche geschrieben.
Die bekannten postklassischen Handschriften mit ihren mexikanischen Einflüssen waren in Yucatec und in der Mayasprache Ch’olan verfasst worden. Chel vermutete aber schon länger, dass ein klassischer Text aus Guatemala Ergänzungen in dem Dialekt haben könnte, mit dem ihre Eltern aufgewachsen waren. Wer auch immer dieses Buch gefälscht haben mochte, musste ein tiefes und differenziertes Verständnis der Geschichte und der Sprache gehabt haben.
Chel konnte nicht fassen, mit welcher Kunstfertigkeit der Fälscher zu Werke gegangen war. Wahrscheinlich hätten sich selbst einige ihrer fachkundigsten Kollegen davon täuschen lassen.
Dann fiel ihr Blick auf eine Sequenz von Glyphen, und sie erstarrte.
Auf einem der größten Papierstücke waren drei Piktogramme zu einem Satzfragment aneinandergereiht worden:
Wasser, dazu gemacht, aus einem Stein emporzuschießen
Chel blinzelte verwirrt. Der Verfasser konnte damit nur einen Brunnen meinen. Aber kein Fälscher der Welt hätte einen Brunnen erwähnen können, weil erst seit Kurzem bekannt war, dass die Maya jener Zeit bereits welche gekannt hatten. Erst vor knapp vier Wochen hatte ein Archäologe der Pennsylvania State University herausgefunden, dass, entgegen der landläufigen Meinung, nicht die Spanier die ersten Aquädukte in der Neuen Welt errichtet hatten: Die Maya hatten schon Jahrhunderte vor der Ankunft der Europäer Wasserleitungen gebaut.
Eine Handschrift wie diese konnte unmöglich in so kurzer Zeit gefälscht worden sein.
Chel schaute auf und sah Gutierrez ungläubig an. »Wo haben Sie die her?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, das wissen Sie doch.«
Chel konnte sich schon denken, woher die Handschrift stammte: Sie war aus einem Grab in irgendeiner Maya-Ruine geraubt worden, wie so viele andere Schätze auch.
»Wer weiß sonst noch davon?«
»Nur meine Quelle«, antwortete Gutierrez. »Verstehen Sie jetzt, wie wertvoll dieser Fund ist?«
Wenn sie sich nicht irrte, enthielten diese Texte mehr Informationen über die Geschichte der Maya als alle bisher bekannten Ruinen zusammen. Der Dresdner Kodex, der von den vier überlieferten Handschriften am besten erhalten war, würde auf einer Versteigerung zehn Millionen Dollar einbringen, aber die Seiten, die sie hier vor sich liegen hatte, würden alles in den Schatten stellen.
»Haben Sie vor, das Buch zu verkaufen?«
»Wenn der richtige Zeitpunkt kommt.«
Selbst wenn sie das Geld hätte, würde dieser Zeitpunkt für sie wahrscheinlich nie kommen. Legal konnte sie die Handschrift nicht erwerben, weil sie offensichtlich gestohlen war, und die Rekonstruktion und Entzifferung der Texte würde so umfangreiche Nachforschungen erfordern, dass sie es nicht lange würde geheim halten können. Und wenn je herauskäme, dass sie im Besitz eines geraubten Kodex war, würde sie ihre Stelle verlieren und müsste wahrscheinlich mit einer Anzeige rechnen.
»Warum sollte ich es für Sie aufbewahren?«, fragte sie.
»Damit ich genug Zeit habe, die entsprechenden Papiere nachzumachen, damit es an ein amerikanisches Museum verkauft werden kann – an Ihres, hoffe ich. Und weil keiner von uns das Buch je wiedersehen wird, wenn es jetzt der Einwanderungs- und Zollbehörde in die Hände fällt.«
Chel wusste, dass Gutierrez recht hatte. Wenn die Handschrift jetzt beschlagnahmt wurde, würde sie der guatemaltekischen Regierung zurückgegeben werden, die weder die finanziellen Mittel hatte noch die Experten, die für die Auswertung, Konservierung und Ausstellung einer so kostbaren Handschrift nötig waren. Das in Mexiko entdeckte Grolier-Fragment verrottete dort seit den 1980er-Jahren in einem Kellergewölbe.
Gutierrez machte den Deckel der Holzkiste wieder zu und packte sie sorgfältig ein. Es juckte Chel regelrecht in den Fingern, den alten Text noch einmal zu berühren. Das spröde Papier zerfiel und musste unbedingt fachkundig konserviert werden. Vor allem aber musste die Welt erfahren, was in diesem Buch geschrieben stand, weil es ein Zeugnis der Geschichte ihres Volkes war. Und die Geschichte ihres Volkes geriet mit jedem Tag mehr in Vergessenheit.