24

»Zweitausend Sonnen«, sagte Rolando. »Fast sechs Jahre. Das ist eine Mega-Dürre.«

Er und Chel hatten sich über fünf weitere rekonstruierte und entschlüsselte Seiten der alten Bilderhandschrift gebeugt. Chel überflog noch einmal, was Paktul auf der achtundzwanzigsten Seite festgehalten hatte: Manche Maiskolben gedeihen selbst in so langen und schrecklichen Dürreperioden wie der jetzigen, die nunmehr seit fast zweitausend Sonnen andauert.

»Meinst du nicht auch?« Rolando sah Victor an, der auf der anderen Seite des Getty-Labors saß, seine Kopie der Übersetzung studierte und dabei seinen Tee schlürfte.

Als Chel vergangene Nacht von der Kirche zurückgekommen war, hatte sie gehofft, sie könnte ihren Frust über die Unterhaltung mit ihrer Mutter bei Victor abladen, weil sie dachte, er sei der Einzige, der sie wirklich verstand. Aber Victor war erst weit nach Mitternacht zurückgekommen – mit leeren Händen: Das Stöbern in seinem Bestand alter wissenschaftlicher Zeitschriften hatte nichts gebracht. Chel hatte sich da schon eine kurze Dusche im Gebäude des Getty Conservation Institute gegönnt, um auch die letzten Spuren ihrer Begegnung mit Ha’ana abzuwaschen, und sich dann wieder in die Arbeit gestürzt. Über ihren Besuch in der Kirche hatte sie kein Wort verloren.

»Der König war sicher nicht ganz unschuldig an der Situation«, sagte Victor. »Aber du hast recht, es sieht tatsächlich so aus, als ob diese anhaltende Trockenheit der eigentliche Grund war.«

Unter normalen Umständen wäre das vielleicht die bedeutendste Entdeckung in ihrer aller Karriere gewesen. In ihren von Land umschlossenen Städten konnten die Maya Wasser für bis zu achtzehn Monate speichern. Der Nachweis einer sechsjährigen Dürreperiode würde sogar Chels skeptischste Kollegen davon überzeugen, dass sie mit ihrer These recht hatte: Es war diese anhaltende Trockenheit, die den Untergang des Maya-Reichs herbeigeführt hatte.

Aber normal waren die Umstände schon lange nicht mehr.

Die Verbindung zwischen dem alten Buch und der versunkenen Stadt war das Einzige, was jetzt zählte, und die Hinweise auf diese Verbindung verdichteten sich mit jedem weiteren Abschnitt, den sie entschlüsselten. Paktul hatte die beiden Mädchen bei sich aufgenommen, um sie zu beschützen, und es schien fast unvermeidlich, dass er sie zu seinen Ehefrauen machen würde. Rolandos Theorie, dass die drei die Gründer der Stadt waren, wurde immer plausibler.

Trotz dieser bahnbrechenden Entdeckungen hatten sie aber immer noch nicht herausgefunden, wo genau die versunkene Stadt lag oder wo Volcy sich infiziert haben könnte. Wenigstens wussten sie jetzt mehr über die rätselhafte Akabalam-Glyphe, die ihnen bei der Dechiffrierung des Textes so großes Kopfzerbrechen bereitet hatte. Chel, Rolando und Victor waren sich einig, dass es sich bei den beschriebenen Insekten nur um Gottesanbeterinnen handeln konnte. Diese Fangheuschreckenart war im gesamten Siedlungsgebiet der Maya verbreitet. Und obwohl der Schreiber sich fragte, aus welchem Grund sie diese Kreaturen anbeten sollten, war bekannt, dass die Maya tatsächlich Insekten verehrt und ihnen zu Ehren Gottheiten geschaffen hatten.

Dennoch war das Rätsel nicht vollständig gelöst. Sie hatten zwar zweiunddreißig Seiten fast lückenlos entschlüsselt, stießen dann aber auf eine Seite, auf der diese Glyphe zehn oder elf Mal auf ungebräuchliche und gänzlich unerwartete Weise verwendet worden war. Chel ersetzte jede Akabalam-Glyphe durch Gottesanbeterin oder zur Gottheit erhobene Gottesanbeterin, aber das ergab keinen Sinn. Hatte sich die Glyphe in früheren Abschnitten auf den Namen des neuen Gottes bezogen, so schien sie auf den hinteren Seiten eher eine Handlung auszudrücken.

»Es muss etwas sein, was charakteristisch für sie ist«, überlegte Rolando. »So wie Bienen für etwas Süßes stehen.«

»Oder wie Hunab Ku gebraucht werden kann, um eine Veränderung anzuzeigen«, sagte Victor in Anspielung auf den Schmetterlingsgott.

Ein lauter Knall ließ alle drei zusammenfahren. Chel lief ans Fenster. In den letzten beiden Tagen hatten sich ein paar Autos hierher verirrt – Plünderer in der Hoffnung auf leichte Beute. Doch sobald sie gesehen hatten, dass der Sicherheitsdienst das Museumsgelände immer noch bewachte, hatten sie wieder umgedreht.

»Alles in Ordnung?«, fragte Rolando.

»Ich glaub schon«, antwortete Chel, die draußen nichts Auffälliges bemerkte. Sie ging zu den beiden Männern zurück.

»Also, was fangen wir jetzt damit an?« Rolando sah sie an. »Befiehlt der König Gehorsam diesem neuen Gott gegenüber, weil die Gottesanbeterin fromm erscheint?«

»Die anhaltende Dürre dürfte dazu geführt haben, dass viele Menschen zu zweifeln begannen«, sagte Chel. »Vielleicht hat der König geglaubt, dieses Insekt sei so etwas wie eine göttliche Fügung.«

Sie trat an den Glaskasten, in dem sich ein Fragment einer der teilweise rekonstruierten hinteren Buchseiten befand, und begann im Geist zu ersetzen:

Vielleicht erlaubt der König diese/Frömmigkeit/, weil seiner Bitte um Regen nicht entsprochen wurde und weil er weiß, dass kein Regen kommen wird. Aber wird diese mutwillige/Frömmigkeit/nicht zu Unruhen unter den Menschen führen, selbst unter jenen, die die Götter fürchten? Nicht ohne Grund fürchten die Menschen von Kanuataba die/Frömmigkeit/genau wie ich; kein Verstoß ist so schreckenerregend, selbst wenn der König diese/ Frömmigkeit/ befiehlt!

»Das ergibt keinen Sinn«, sagte sie langsam und schüttelte den Kopf. »Wieso sollte sich der Schreiber vor der Frömmigkeit fürchten? Und warum sollte sie ein Verstoß sein?«

Nachdenklich betrachtete sie den Text und ging in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durch.

»Wie weit sind wir mit der Satellitensuche?«, fragte Rolando.

Nach dem Besuch bei ihrer Mutter hatte Chel zuallererst Stanton angerufen und ihm erzählt, dass Chiams Angaben über die versunkene Stadt praktisch mit Paktuls Schilderung übereinstimmten.

Er hatte aufmerksam zugehört. Dann hatte er nur gemeint: »In Ordnung, Chel. Ich werde alles Nötige veranlassen.« Dieses Mal klang seine Stimme nicht skeptisch oder zweifelnd. Seit gestern waren auf Veranlassung des CDC ein Dutzend NASA-Satelliten auf die Region rings um Kiaqix gerichtet und suchten den Dschungel auf mögliche Ruinen ab. Chel hatte nichts mehr von Stanton gehört. Aber jemand aus seinem Team oder er selbst würde sie sicherlich sofort informieren, wenn die Satelliten Bilder mit brauchbaren Hinweisen geliefert hätten. Sie hoffte, dass er selbst sich bei ihr melden würde.

»Die Satelliten können jeweils bis zu tausend Aufnahmen pro Tag liefern«, antwortete sie auf Rolandos Frage, »und die Fotos müssen erst ausgewertet werden.«

»Jetzt können wir bloß hoffen, dass Kanuataba ein zweites Oxpemul ist«, warf Victor ein.

In den 1980er-Jahren hatten Satelliten Fotos geschossen, auf denen in unmittelbarer Nähe zu einer bedeutenden Ausgrabungsstätte in Mexiko die Spitzen zweier Tempel zu erkennen waren, die aus dem dichten Blätterdach des Dschungels ragten. Es stellte sich heraus, dass die Tempel zu einer antiken Stadt gehörten, die noch größer war als die bisher bekannte Ausgrabungsstätte.

»Wir haben Regenzeit, das heißt, die Gegend um Kiaqix ist ständig von Wolken bedeckt«, rief Chel den beiden Männern ins Gedächtnis. »Außerdem könnte alles vollständig überwuchert sein. Wir reden hier von Bauwerken, die über tausend Jahre alt und verwittert sind. Einmal ganz abgesehen davon, dass sie jahrhundertelang unentdeckt geblieben sind.«

»Und deshalb sollten wir uns jetzt voll und ganz auf die Handschrift konzentrieren«, sagte Victor.

***

Es bereitete ihm keine Freude, dass die VFI-Infizierten furchtbar litten oder dass sich noch zahllose Menschen mit dem Erreger anstecken würden. Er war entsetzt, wenn er von erkrankten Kindern hörte oder von den gewalttätigen Ausschreitungen in den Straßen von L.A. Aber als er im Fernsehen den Börsencrash sah und die leeren Supermarktregale, konnte Victor sich des Gefühls nicht erwehren, dass ihm endlich Gerechtigkeit widerfahren war. Von seinen Kollegen war er verspottet worden, seine Familie hatte ihn verlassen. Sogar ihm waren Zweifel gekommen, ob er und die anderen 2012er nicht am Ende einsehen mussten, dass sie sich geirrt hatten, so wie viele andere vor ihnen, angefangen bei denen, die die Wiederkehr Christi und seiner Herrschaft angekündigt hatten, über diejenigen, die für den Jahreswechsel 1999/2000 den Zusammenbruch der Computersysteme und damit der Weltwirtschaft vorhergesagt hatten, bis hin zu – nun ja, zu jeder anderen Gruppe, die der Meinung gewesen war, eine weltweite dramatische gesellschaftliche und politische Veränderung bahne sich an. Und dann war die Epidemie ausgebrochen.

Kurz nach zwölf Uhr mittags ging das Team auseinander. Chel hatte sich vom Labor in ihr angrenzendes Büro zurückgezogen, um über das Akabalam-Problem nachzudenken, und Rolando war in ein anderes Gebäude gegangen, wo er Geräte holen wollte, die für die Rekonstruktion benötigt wurden. Victor war allein im Labor geblieben. Er beugte sich über die Glasplatte mit dem Fragment, in dem Paktul sich auf den dreizehnten Zyklus bezog. Er hob die Platte vom Gestell und wog prüfend ihr Gewicht. Sie war schwer, fünfzehn Pfund oder so, aber ein Mann könnte zwei oder drei davon tragen.

Als er ein Stück des alten Buches in der Hand hielt, konnte Victor dessen unglaubliche Macht spüren. Als kleiner Junge hatte er in der Synagoge gelernt, wie die Rabbis sich bei der Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die Römer schützend über die Schriftrollen der Thora geworfen hatten, weil sie glaubten, das jüdische Volk könne ohne die heiligen Bücher nicht weiterexistieren. Jetzt konnte Victor nachvollziehen, wie man sein Leben für ein Buch opfern konnte.

»Was tust du da, Victor?«

Er erstarrte, als er Rolandos Stimme hörte. Wieso war Rolando schon wieder zurück? Victor legte die Glasplatte behutsam wieder auf die Seite und rückte sie umständlich auf dem Leuchttisch hin und her. »Das Glas hat sich verschoben«, sagte er. »Ich hatte Angst, die Fragmente könnten beschädigt werden.«

Rolando trat neben ihn. »Danke, das ist nett von dir, aber lass das mit den Glasplatten lieber mich machen, okay?«

»Natürlich.«

Victor ging ein kleines Stück weiter und tat so, als studierte er Fragmente aus dem letzten Teil des Buches. Es wäre zu auffällig gewesen, wenn er das Labor allzu schnell verlassen hätte. Als Rolando offenbar erledigt hatte, weswegen er ursprünglich gekommen war, verschwand er im hinteren Teil des Labors. Victor hörte, wie er an Chels Bürotür klopfte und wie die Tür sich kurz darauf schloss.

Hatte Rolando Verdacht geschöpft? Victor setzte sich an einen Labortisch und überlegte, was er sagen würde, falls Rolando ihn zur Rede stellte.

Einige Minuten später hörte er, wie die Tür zu Chels Büro wieder geöffnet wurde. Ihre leisen Schritte näherten sich. Sie stand hinter ihm. Victor hielt den Atem an und rührte sich nicht.

»Kann ich mit dir reden?«

»Natürlich«, antwortete er und drehte sich zu ihr um. »Worum geht’s denn?«

Sie setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber. »Ich habe gerade mit Patrick telefoniert. Ich habe ihn gefragt, ob er herkommen und uns bei einigen von den noch verbleibenden Astronomie-Glyphen helfen könnte, aber er meinte, er will seine neue Freundin nicht noch einmal allein lassen. Martha. Was für ein altmodischer Name!« Sie verdrehte vielsagend die Augen. »Ich weiß bloß nicht, ob wir das ohne ihn schaffen.«

»Erstens hat er seinen Beitrag geleistet, und wir brauchen ihn nicht mehr«, sagte Victor. »Und zweitens – du weißt doch, dass ich ihn sowieso noch nie leiden konnte.«

»Du lügst.« Sie lächelte, als sie das sagte, aber Victor zuckte dennoch leicht zusammen. »In einem allerdings hatte Patrick recht«, fuhr sie nachdenklich fort.

»Was meinst du?«

»Volcy. Das alte Buch. Kiaqix und die drei Stadtgründer. Er war der Erste, der mich darauf hingewiesen hat, was für ein unglaublicher Zufall das alles ist.«

Victor glaubte keine Sekunde an einen Zufall. »Na ja, alles ist möglich«, sagte er vorsichtig.

Chel wartete darauf, dass er weitersprach, und ihr erwartungsvoller Blick weckte ein Gefühl in ihm, das er sehr lange nicht mehr verspürt hatte – das Gefühl, von jemandem gebraucht zu werden, den er aufrichtig liebte.

»Was glaubst du?«, fragte er.

Chel schwieg eine ganze Weile, dann antwortete sie: »Dieses ganze Theater um das Ende der Langen Zählung hat die Preise für Antiquitäten aus dem Kulturraum der Maya in die Höhe schnellen lassen, und das war vermutlich der Grund, warum Volcy überhaupt in den Dschungel gegangen ist. Alles, was im Moment passiert, ist in irgendeiner Weise eine Folge von 2012.«

Victor betete im Stillen, dass er Chel doch noch überreden könnte, sich ihm und seinen Leuten anzuschließen. Und dass sie allmählich erkannte, dass die Prophezeiungen sich erfüllen würden. Er hoffte es inständig. Vielleicht war es noch nicht zu spät, vielleicht würde sie einsehen, dass Flucht der einzige Ausweg war.

»Man muss aufgeschlossen bleiben, dann kann man so einiges über die Welt erfahren«, sagte er sanft.

Sie schwieg einen Moment. »Kann ich dich etwas fragen?«

»Sicher.«

»Glaubst du an die Maya-Götter? Die richtigen Götter?«

»Man muss nicht an das Pantheon glauben, um die Weisheit des göttlichen Plans zu erkennen, den die Menschen früher im Universum sahen. Vielleicht genügt es, wenn man weiß, dass es eine Macht gibt, die uns alle miteinander verbindet.«

Chel nickte. »Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Sie holte tief Luft. »Was ich noch sagen wollte – danke, dass du hiergeblieben bist und mir geholfen hast.«

Sie stand auf und ging in ihr Büro zurück. Victor sah ihr nach. Sie war immer noch dieselbe junge Frau, die an ihrem ersten Studientag vor ihm gestanden und ihm erklärt hatte, sie habe alle seine Arbeiten gelesen. Dieselbe junge Frau, die ihn Jahre später bei sich aufnahm, während alle anderen ihm die Tür vor der Nase zuschlugen.

Als sich die Tür hinter Chel schloss, kämpfte Victor mit den Tränen.

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