7

Volcys Mund, seine Kehle und sogar sein Magen waren so ausgetrocknet, als hätte er zwei Tage am Stück Beete angelegt und ausgesät. So musste Janotha sich gefühlt haben, als sie Sama zur Welt brachte. Sie hatte über schrecklichen Durst geklagt, unstillbaren Durst. Seine flatternden Lider blendeten das Licht ein und wieder aus, während er sich zu erinnern versuchte, wie er in dieses Bett gekommen war.

Ich werde Sama nie wiedersehen. Ich werde verdursten, und sie wird nie erfahren, dass ich das Buch unserer Väter nur für sie genommen habe, nur für sie.

Als die Dürre kam, flehte der Schamane jeden Tag zu Chaak und brachte ihm Opfer dar, aber der Regen kam nicht. Familien zerbrachen, Kinder wurden in die Stadt zu Verwandten gebracht, alte Menschen starben durch die Hitze. Janotha sorgte sich, dass ihre Milch versiegte.

Aber das würdest du – der Falke – niemals zulassen. Niemals.

Als Volcy noch ein kleiner Junge war, hatte seine Mutter oft gehungert, damit genug zu essen blieb für ihre Kinder. Dann hatte er sich nachts, wenn seine Eltern schliefen, aus der Hütte geschlichen und Mais vom Feld einer Familie gestohlen, die mehr hatte, als sie brauchte.

Der furchtlose Falke.

Viele Jahre später war Volcy dem Ruf seines wayob gefolgt, als seine Familie wieder einmal in Not war. In der Zeit seiner inneren Reinigung hatte er den Ruf vernommen, der ihn zu den Ruinen führen sollte. Er und Malcin, sein Partner, waren drei Tage lang im Regenwald unterwegs gewesen. Nur Ix Chel, die Mondgöttin, hatte ihnen Licht gespendet. Malcin hatte Angst, sie könnten die Götter erzürnen. Aber die Weißen zahlten viel Geld für kleine Tonscherben, weil das Ende des Langzeitzyklus bevorstand.

Die Götter hatten sie zu den Ruinen geführt. Zwischen turmhohen Bäumen waren sie auf verwitterte, überwucherte Mauern gestoßen, die wahre Schätze in ihrem Inneren bargen: Klingen aus Obsidian, stuckverzierte bauchige Gefäße, Kristalle, Perlen und Tongefäße. Eine Maske und Totenköpfe mit Jadezähnen. Und das Buch. Das verfluchte Buch. Sie hatten keine Ahnung, was die Zeichen auf dem brüchigen Papier zu bedeuten hatten, aber das Buch schlug sie in ihren Bann.

Und jetzt lag er allein in der Dunkelheit – aber wo? Wo war er? Der Mann und die Qu’iche-Frau waren gegangen. Volcy tastete nach seinem Glas. Es war leer.

Er schwang seine Beine aus dem Bett und richtete sich schwankend auf. Seine Gliedmaßen gehorchten ihm nicht mehr, sein Körper ließ ihn im Stich, genau wie sein Augenlicht. Aber er musste unbedingt etwas trinken. Er zog den Ständer, mit dem er durch einen Schlauch verbunden war, hinter sich her, wankte ins Bad, drehte den Wasserhahn auf, hielt das Gesicht in den Wasserstrahl und trank gierig. Doch es war nicht genug. Das Wasser lief ihm in die Nase und in den Mund und über das Gesicht, aber er brauchte mehr. Der Fluch des Buches trocknete ihn aus. Er hatte sich dazu verleiten lassen, die Ehre seiner Vorfahren der fixen Idee der Weißen zu opfern, die besessen waren vom Maya-Kalender.

Der Falke hob den Kopf vom Wasserhahn und sah sein Gesicht im Spiegel. Das Wasser lief ihm über die Haare und über das Gesicht, aber der Durst quälte ihn noch immer.

***

Stanton ging im Hof vor dem Krankenhaus auf und ab, während er mit Davies telefonierte. Ringsum zuckten rote und blaue Lichter: Sie hatten die Polizei rufen müssen, damit sie die metastasierende Presse in Schach hielten. Bei der undichten Stelle, die die Fernsehteams auf die Spur der Havermore Farms geführt hatte, handelte es sich offenbar um einen Krankenpfleger. Er hatte zufällig gehört, wie Thane sich mit einem Arzt über John Doe und dessen mysteriöse Erkrankung unterhalten hatte, und dann in einem Forum einen Beitrag über Rinderwahnsinn geschrieben. Inzwischen hatte jede größere Nachrichtenagentur im Land ein Team hergeschickt.

»Was, wenn John Doe uns einen Haufen Lügen erzählt?«, fragte Davies.

»Warum sollte er das tun?«

»Was weiß ich. Vielleicht ist seine Frau überzeugte Veganerin und darf nicht wissen, dass ihr Mann Big Macs gefuttert hat.«

»Ach, komm!«

»Na schön. Aber kann es nicht sein, dass er krank geworden ist, bevor er aufgehört hat, Fleisch zu essen?«

»Du hast doch die Proben unter dem Mikroskop gesehen. Die Infektion kann nicht so lange zurückliegen.«

Davies seufzte. »Deine Dolmetscherin hat doch gemeint, es sei denkbar, dass er Käse gegessen oder Milch getrunken hat, nicht wahr? Höchste Zeit, über Milchprodukte zu reden.«

Der Aussage eines einzigen Patienten standen die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungen gegenüber, und Stanton hielt es immer noch für unwahrscheinlich, dass etwas anderes als Fleisch als Infektionsquelle infrage kam. Aber sie mussten auch dieser Möglichkeit nachgehen. In Kuhmilch waren schon Escherichia coli, Listerien und Salmonellen gefunden worden, und Stanton befürchtete schon lange, dass Prionen auch in Milchprodukte gelangen könnten. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Rindfleisch lag in den Vereinigten Staaten bei vierzig Pfund im Jahr – bei Milchprodukten waren es über dreihundert Pfund. Und die Milch einer einzigen Kuh wurde im Laufe ihres Lebens in Tausenden verschiedenen Produkten verwertet, was die Suche nach der Quelle erheblich erschwerte.

»Ich werde die Kollegen in Guatemala bitten, zu überprüfen, welche Möglichkeiten sie haben, ihre Milchprodukte bis zur Quelle zurückzuverfolgen«, sagte Davies. »Aber wir reden hier von einem Gesundheitssystem in der Dritten Welt, das Nachforschungen über eine Krankheit anstellen soll, von der keiner wissen darf, dass sie dort ausgebrochen ist. Keine guten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Epidemiologie.«

»Wie sieht’s mit den Nachforschungen in den Krankenhäusern hier aus?«

»Bis jetzt haben wir nichts gefunden«, antwortete Davies. »Das Team hat jede Notaufnahme in L.A. angerufen, und ich habe Jiao losgeschickt, damit sie sich ein paar verdächtige Patienten anschaut, aber es war jedes Mal falscher Alarm.«

»Behalte die Leute im Auge. Lass sie alle vierundzwanzig Stunden checken.«

Stanton beendete das Gespräch und eilte um die Ecke des Gebäudes. Auf dem Parkplatz herrschte Hochbetrieb. Neben den Fahrzeugen der Fernsehteams stand ein ganzer Pulk von Rettungswagen mit eingeschaltetem Blaulicht vor dem Eingang der Notaufnahme. Es wimmelte von Rettungssanitätern, Ärzten und Krankenschwestern. Alle liefen geschäftig hin und her und riefen sich Anweisungen zu, während Patienten ausgeladen und auf fahrbaren Tragen in die Notaufnahme gerollt wurden. Auf der Schnellstraße 101 war es zu einer Massenkarambolage gekommen, und man hatte Dutzende Verletzte in kritischem Zustand hierher gebracht.

Auf dem Weg zum Haupteingang telefonierte Stanton noch einmal. »Ich bin’s«, sagte er leise, als Ninas Mailbox ansprang. Er blickte sich rasch um, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war. »Tu mir einen Gefallen und wirf auch die Milch und den Käse über Bord.«

***

In der Notaufnahme drückte sich Stanton an die Wand, um Platz für die fahrbaren Krankentragen zu machen. Ein älterer Mann, eine Aderpresse um den in Gaze gewickelten Arm, schrie vor Schmerzen. Patienten, deren Zustand so kritisch war, dass sie nicht erst in den OP geschafft werden konnten, wurden an Ort und Stelle in der nicht sterilen Notaufnahme operiert. Stanton war gottfroh, dass Unfallchirurgie nicht sein Gebiet war.

Er fuhr mit dem Lift in den sechsten Stock hinauf, wo er Chel Manu im Wartebereich fand. Selbst mit ihren hochhackigen Schuhen war sie ein winziges Persönchen. Stantons Blick heftete sich auf ihren Nacken, der von ihren schwarzen Haaren fast verdeckt wurde. Da sie eine kluge Frau zu sein schien und ihm als Dolmetscherin bereits eine wertvolle Hilfe gewesen war, hatte er sie gebeten zu bleiben.

»Möchten Sie auch einen Kaffee, bevor wir wieder hineingehen?«, fragte er mit einer Kopfbewegung zum Automaten hin.

»Nein, aber ich könnte jetzt eine Zigarette brauchen«, antwortete Chel.

Stanton warf ein paar Münzen in den Schlitz und wartete, bis der Kaffee in den Styroporbecher gelaufen war. Nicht ganz das, was er von Groundwork gewohnt war, aber etwas Besseres würde er hier kaum bekommen. »Kann mir nicht vorstellen, dass Sie hier welche finden.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich hab mir sowieso vorgenommen, Ende des Jahres damit aufzuhören.«

Stanton nippte an dem dünnen Kaffee. »Dann glauben Sie wohl nicht, dass der von den Maya prophezeite Weltuntergang kommt.«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Ich auch nicht.« Er lächelte, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. Anscheinend hielt sie nichts von zwangloser Unterhaltung. Oder aber das war kein Thema, über das sie Scherze machte.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte sie sachlich.

»Wir müssen versuchen, noch einmal mit Volcy zu reden. Bringen Sie ihn dazu, dass er Ihnen alle Milchprodukte aufzählt, die er in den letzten vier Wochen oder so zu sich genommen hat.«

»Ich werd’s versuchen, aber ich bin mir nicht sicher, ob er mir vertraut.«

»Machen Sie einfach weiter, okay?«

***

Als sie auf Volcys Zimmer zugingen, sah Stanton, dass Mariano, der Mann vom Sicherheitsdienst, nicht mehr da war. Stanton schaute sich verblüfft um, aber Mariano war nirgends zu sehen. Dann fiel ihm ein, dass vermutlich alle Sicherheitsleute unten gebraucht wurden, um Ordnung in das durch die Einlieferung der zahlreichen Verletzten entstandene Chaos zu bringen.

Sie betraten das Zimmer, fanden aber nur ein leeres Bett vor.

»Ist er verlegt worden?«, fragte Chel.

Stanton war genauso verwirrt wie sie. Er schaltete alle Lichter ein und blickte sich kurz um. Plötzlich hörten sie ein zischendes Geräusch, das aus dem Bad zu kommen schien. Stanton horchte an der geschlossenen Tür. »Volcy?« Das Zischen war schrill, und es klang so, als ob Dampf aus einem Leck strömen würde. »Fragen Sie ihn, ob alles in Ordnung ist«, forderte er Chel auf.

»Volcy, ja ’e?«

Keine Antwort.

Stanton drehte den Türknauf. Die Tür war nicht verschlossen. Er öffnete sie und sah Volcy auf dem Boden liegen, mit dem Gesicht nach unten, als wäre er bewusstlos zusammengebrochen. Das Bad glich einem Trümmerfeld: Fliesen waren kaputt geschlagen, das Waschbecken war aus der Halterung gerissen, Kupferrohre ragten aus der Wand, und Wasser lief heraus.

»Masam … ahrana … Janotha«, murmelte der Indio.

Stanton kniete sich neben Volcy, packte dessen Arm und legte ihn sich über die Schultern, fasste den Mann dann um die Taille und zog ihn vom Boden hoch. Arme, Beine und Oberkörper waren angeschwollen und sahen aus wie aufgeblasen. Als drohte der Mann zu platzen, wenn er nicht punktiert würde. Seine Haut war eiskalt.

»Einen Arzt, schnell!«, schrie Stanton.

Chel stand wie gelähmt in der Tür zum Bad.

»Los, worauf warten Sie noch! Beeilen Sie sich!«

Endlich kam Bewegung in sie. Sie rannte aus dem Zimmer, und Stanton wandte sich wieder zu dem Kranken hin. »Halten Sie sich an mir fest, Volcy.« Er schleppte den Indio zum Bett. »Nicht ohnmächtig werden«, keuchte er. »Bleib bei mir, hörst du? Komm schon!«

Eine Ärztin und zwei Schwestern stürzten ins Zimmer. Volcy atmete kaum noch. Er hatte so viel Wasser getrunken, dass sein Herz überlastet war. Man injizierte ihm Medikamente gegen einen drohenden Herzstillstand und presste ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Doch es war abzusehen, dass sie den Kampf verlieren würden. Drei Minuten später blieb Volcys Herz stehen.

Die Anästhesistin griff zu den Paddles des Defibrillators und jagte dem Patienten eine Reihe von Stromstößen, jeder stärker als der vorige, in den aufgedunsenen Körper. Volcy bäumte sich jedes Mal auf, und dort, wo die Paddles aufgesetzt worden waren, wies die Haut Verbrennungen auf. Stanton begann mit der Herzmassage, etwas, was er seit seiner Zeit als Assistenzarzt nicht mehr gemacht hatte. Die Hände oberhalb des Brustbeins übereinandergelegt, drückte er ein paar Mal kurz hintereinander auf den Brustkorb, so fest er konnte. Eins, zwei, drei, vier …

Nach einer Weile fasste die Anästhesistin Stanton am Arm und zog ihn mit sanfter Gewalt vom Bett weg. »Todeszeitpunkt 12 Uhr 26«, stellte sie sachlich fest.

***

Von der Schnellstraße 101 jagten weitere Rettungswagen heran. Stanton versuchte, ihre heulenden Sirenen auszublenden, während er und Thane zusahen, wie die Pfleger Volcys Leichnam in einen Leichensack hoben. »Er hat eine Woche lang stark geschwitzt«, bemerkte Thane. »Er muss völlig dehydriert gewesen sein.« Stanton schaute auf den blau verfärbten, aufgedunsenen Körper und meinte: »Das kommt nicht von den Nieren, sondern vom Gehirn.«

Thane machte ein verwirrtes Gesicht. »Sie meinen, so was wie Polydipsie?«

Stanton nickte. Patienten mit psychogener Polydipsie litten an einem übermäßigen Durstgefühl. Ihr Durst quälte sie so sehr, dass sogar das Wasser von Waschbecken und Toilette abgestellt werden musste. Im schlimmsten Fall, wie in diesem hier, kam es zu Herzversagen aufgrund der übermäßigen Flüssigkeitszufuhr. Stanton hatte zwar noch keinen FFI-Patienten mit Polydipsie erlebt, aber jetzt war er wütend auf sich selbst, weil er diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen hatte.

»Ich dachte, das sei ein Symptom von Schizophrenie.« Thane sah Volcys Krankenakte durch auf der Suche nach Hinweisen, die zur Klärung der Todesursache beitragen könnten.

»Nach einer Woche ohne Schlaf sind Symptome von Schizophrenie durchaus denkbar.«

Stanton stellte sich die schrecklichen letzten Minuten in Volcys Leben vor, während die Pfleger den Reißverschluss des Leichensacks zuzogen. Schizophrenie äußerte sich unter anderem durch Halluzinationen und Wahnvorstellungen. FFI-Patienten zeigten nicht selten die gleichen Symptome. Stanton hatte sich schon oft gefragt, ob Schlaf das Einzige war, das geistig Gesunde gesund erhielt.

»Wo ist eigentlich Dr. Manu geblieben?«, fragte Thane.

»Vor einer Minute war sie noch da.«

»Na ja, man kann es ihr nicht verdenken, dass sie bei dem Anblick die Flucht ergriffen hat.«

»Sie war die Letzte, die mit ihm gesprochen hat«, sagte Stanton. »Wir müssen sie finden. Sie soll alles, was er gesagt hat, so genau wie möglich aufschreiben.«

Volcys Leichnam wurde auf eine fahrbare Trage gehoben und aus dem Zimmer gerollt. Stanton würde die Obduktion später gemeinsam mit den Pathologen durchführen.

»Eigentlich hätte ich hier oben sein müssen«, sagte Thane. »Aber ich wurde unten in der Notaufnahme gebraucht. Die schicken uns viel zu viele Schwerverletzte von diesem Unfall. Da unten sieht es aus wie in einem gottverdammten Feldlazarett in Afghanistan.«

»Sie hätten nichts mehr tun können.« Stanton nahm seine Brille ab.

»Da schläft irgend so ein Arschloch auf der Schnellstraße in seinem Geländewagen ein, und alle anderen Patienten bei uns müssen es büßen«, knurrte Thane.

Stanton trat ans Fenster, schob den Vorhang auf und schaute hinunter. Ein weiterer Rettungswagen raste mit heulender Sirene heran und hielt vor der Notaufnahme. »Der Fahrer, der die Massenkarambolage verursacht hat, ist am Steuer eingeschlafen?«

Thane zuckte die Achseln. »Das hat die Polizei jedenfalls gesagt.«

Stanton starrte angestrengt auf die zuckenden Lichter der Einsatzfahrzeuge.

Загрузка...