20

Die beiden hatten beschlossen, ihre Zitadelle in den Verdugo Mountains zu errichten, weil dieser Ort für die Tongva – das »Volk der Erde« – eine spirituelle Bedeutung hatte. Die Tongva-Indianer hatten, bevor die Spanier kamen, jahrtausendelang im Gebiet des heutigen Los Angeles gelebt. Angesichts knapper Finanzen in den Kommunen war es nicht schwer gewesen, das L.A. County zu überreden, ihnen ein über achtzigtausend Quadratmeter großes Grundstück zu verkaufen. Dort hatten er, sein Hüter des Tages und ihre wachsende Zahl von Anhängern in aller Stille fünfzehn kleine Häuser aus Stein gebaut, von denen jedes Platz für bis zu vier Personen bot. Sie hatten alle erforderlichen Genehmigungen eingeholt, sich mit den Leuten angefreundet, die regelmäßig zum Wandern in die Gegend kamen, und einen Antrag auf Eingemeindung ihrer kleinen Gemeinschaft von Selbstversorgern zwanzig Meilen außerhalb der Stadt gestellt.

»Wir haben das geschaffen«, hatte er erst vor einem Monat zu ihnen gesagt, unter dem stolzen Blick seines Hüters des Tages. »Wir alle. Gemeinsam.« Und so war es auch. Sie hatten alle ihren Beitrag geleistet, auch wenn das nicht allen sechsundzwanzig Männern und Frauen und den zwei Kindern, die inzwischen geboren worden waren, bewusst war. Einige hatten ihn gebeten, auf den Hügel hinaufzusteigen und von dort oben zu ihnen zu sprechen und nicht von der Schwelle seines bescheidenen Hauses aus. Er hatte nur gelächelt. »Eines Tages wird es vielleicht einen König unter uns geben«, hatte er gesagt, »aber das wird nicht heute sein, und das werde ganz bestimmt nicht ich sein.«

Früher einmal war er Soldat gewesen. Er hatte fast sein ganzes Leben in irgendeiner Wüste verbracht: in Arizona, in Kuwait, in Saudi-Arabien. Als sie ihn das erste Mal nach Guatemala geschickt hatten, hatte ihm die feuchte Hitze fast die Luft abgeschnürt, und er hatte sich unter dem strotzenden Blätterdach des Dschungels, das keinen Lichtstrahl hindurchließ, gefühlt wie in einer Falle. Doch dann hatte er dieses Land lieben gelernt. Nicht Guatemala City mit den vielen Dieben und Bettlern, nicht die Soldaten, die er hier ausbilden sollte, mit ihrer durch nichts gerechtfertigten Prahlerei. Nein, er hatte sich in die verborgene Welt des Regenwalds verliebt.

Anfangs waren die indígenas nichts als verschwommene Gestalten am Rand der Schotterstraßen gewesen, die kaum von ihrer Feldarbeit aufgeblickt hatten, wenn er in seinem Army-Jeep vorbeigerattert war. Doch dann hatte er an seinen dienstfreien Wochenenden angefangen, die Ruinen von Tikal und Copan zu erforschen. Er las Bücher über die Kultur, die den spanischen Eroberern getrotzt hatte und jahrhundertelang auch Männern wie ihm, Männern, die ausgeschickt worden waren, sie zu zerstören. Er beschäftigte sich mit den uralten Weissagungen, und er begriff, was für ein tiefes Verständnis von der Welt und ihren Geheimnissen die Alten gehabt hatten. Als er dann dem Hüter des Tages begegnete, wusste er, was er zu tun hatte.

Als ehemaliger Soldat wusste er, wie wichtig strenge Befehle waren, und mithilfe von Befehlen war es ihm auch gelungen, seine Anhänger unter Kontrolle zu bringen. Aber Befehle waren nicht alles. Ein Soldat lernte, seinem Anführer bedingungslos überallhin zu folgen. Auf diese Weise konnte man Schlachten gewinnen, nicht aber eine bleibende Kultur schaffen. Mit Befehlen formte man keine Anführer und Priester, Befehle genügten nicht, um eine Stadt zu gründen, die ihn und den Hüter des Tages überdauern würde. Jene Anhänger, die ihn baten, auf einen Hügel zu steigen und Reden zu halten, taten dies, weil sie jemanden brauchten, der ihnen Befehle erteilte. Jemanden, der sie regierte. Mit bloßen Händen hatten sie aus dem Nichts eine Stadt erschaffen, aber der Gedanke, eine Kultur zu begründen, erfüllte sie mit panischer Angst. Sie hatten eine Menge geopfert für ihre Überzeugung – die Familie, den Beruf und vieles mehr –, und jetzt war etwas überaus Beängstigendes eingetreten: Es hatte sich herausgestellt, dass sie recht hatten.

Er starrte zum Fenster seines kleinen Hauses in den Bergen hinaus, vielleicht zum letzten Mal. Da hatten sie so gründlich geplant, sich so gut vorbereitet, und jetzt erwiesen sich diese Berge doch nicht als die Zuflucht, die sie brauchten. Obwohl dieser Ort so abgeschieden war, lag er immer noch in der Quarantänezone, wo Tausende starben und weitere Zehntausende folgen würden. Er würde seine Leute an einen Ort führen müssen, den sie nur aus Büchern kannten. Und er wusste, dass nicht alle diese Reise überleben würden.

Er wandte sich vom Fenster ab und setzte eine Miene auf, die vertrauenerweckende Gewissheit ausdrückte. Nacheinander sah er die beiden Männer und die Frau an seinem Esstisch an.

»Achtzehn Monate Bauzeit«, sagte Mark Lafferty. »Und jetzt können wir wieder von vorn anfangen.«

Lafferty, ein Hochbauingenieur mittleren Alters, war unweit von Three Mile Island aufgewachsen, was ihn zu einer pessimistischen Einstellung berechtigte. Aber er war sehr nützlich. Er hatte die Bauarbeiten geleitet.

Ihr Anführer erhob sich schwungvoll und ging in dem kleinen Raum auf und ab. Die anderen sahen zu, wie er scheinbar seine Gedanken ordnete. Die Menschen brauchten jemanden, der ihnen sagte, was sie tun sollten, und manchmal stimmte es ihn richtig traurig, wie leicht es war, sich dieses Bedürfnis zunutze zu machen. Hätte er nicht den Hüter des Tages als Gesprächspartner, er würde sich zu Tode langweilen.

»Mark«, sagte er, »du hast hier fantastische Arbeit geleistet. Überleg doch, wie viel aufregender das Bauen erst mit den Originalmaterialien sein wird: Lehm, Holz, richtiges Stroh. Außerdem werden wir dort unten viel mehr Platz haben. Mehr, als wir hier jemals haben könnten. Seht in euer Herz. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass diese Berge nicht das Richtige für uns waren. Wir hätten schon längst nach Süden ziehen müssen.«

Er setzte sich wieder hin. Auf dem Tisch waren Karten ausgebreitet: von Los Angeles, von der Westküste und der Route durch Mexiko nach Mittelamerika. Auf der ganzen Strecke gab es einige Orte, wo man Lafferty zurücklassen könnte, falls er eine Last für die Moral der Gruppe werden sollte. Diese Entscheidung musste man auf sich zukommen lassen. Zunächst einmal mussten sie weg von hier – nachdem die eine noch ausstehende Aufgabe erledigt war.

Er wusste, dass David Sarno sich als Nächster zu Wort melden würde. Sarno gehörte zu den Ersten, die sich ihnen angeschlossen hatten. Er hatte seinen landwirtschaftlichen Großbetrieb aufgegeben, weil er die Gentechnik in der Landwirtschaft entschieden ablehnte. Er kannte sich bestens aus mit Feldbau und mit Böden, und er hatte eine gewisse Autorität, die man weiterentwickeln konnte. »Bei den Durchschnittstemperaturen dort unten ist es kein Problem, Mais oder Bohnen anzubauen. Weizen wächst vielleicht nicht so gut, aber auf den können wir getrost verzichten.«

»Was sagt der Hüter des Tages dazu?«, fragte Laura Waller. Als er Laura kennengelernt und angeworben hatte, war sie zweiunddreißig Jahre alt gewesen, von Beruf Lehrerin, und nach vier gescheiterten Versuchen einer künstlichen Befruchtung hatte sie sich scheiden lassen. Jetzt war sie in der dreißigsten Woche schwanger, und sie hatten ihr Kind auf natürlichem Wege gezeugt.

»Er ist der gleichen Meinung. Die einzige Lösung heißt: nach Süden.«

»Wir brauchen acht Lkw, damit wir alles transportieren können«, sagte Lafferty. Der Mann war wirklich anstrengend. »Wie sollen wir so viele Fahrzeuge über die Grenze bringen?«

Er schob ruhig die Karten hin und her. »Wir bekommen alles in vier Lkw höchstens. Wir nehmen nur das Nötigste mit: Saatgut, Medikamente und Waffen.«

Die Tür ging auf. Der Hüter des Tages. Er war wohlbehalten hier angekommen. Die Erleichterung war fast mit Händen zu greifen. Nicht zum ersten Mal wurde ihm klar, wie viel sein Partner diesen Menschen bedeutete. Er war warmherzig. Freundlich. Er nahm Anteil an ihnen und an ihrem Leben.

»Komm, setz dich, Hüter des Tages. Hast du Durst?«

»Nein, vielen Dank, Colton. Ich möchte nichts.«

Victor wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn und setzte sich an den Tisch. »Ich glaube, das hier ist der letzte friedliche Winkel in der Stadt«, sagte er.

Lafferty wollte noch einmal auf das Problem der Logistik zu sprechen kommen, aber Shetter schnitt ihm rasch das Wort ab. »Ich danke euch allen für euren Rat. Jetzt möchte ich euch bitten, mich ein paar Minuten mit dem Hüter des Tages allein zu lassen.«

Shetter küsste Laura auf die Wange, als sie aufstand und mit den anderen das Haus verließ.

»Und, wie haben sie die Änderung des Plans aufgenommen?«, fragte Victor, als sie allein waren.

»Sie haben Angst.«

»Wir sollten alle Angst haben.«

»Aber sie sind auch stärker, als sie denken«, fügte Shetter hinzu.

Er hatte Victors Werk schon lange vor ihrer ersten Begegnung gekannt. Bei den Zusammenkünften mit seinen ersten Internet-Anhängern hatte er oft laut aus Victors Abhandlungen über die Lange Zählung vorgelesen. Vor achtzehn Monaten hatten die beiden Männer dann während der rituellen Weihrauchzeremonie bei den Ruinen von El Mirador nebeneinandergesessen. Shetter wusste sofort, dass das kein Zufall sein konnte. Sie waren von Anfang an die idealen Partner gewesen. Niemand kannte sich in der Geschichte der alten Maya-Kultur besser aus als Victor, der außerdem noch die Fähigkeit hatte, ihre Leute mitzureißen. Das Planen überließ er Shetter.

Victor zog einen Stoß Blätter aus seinem Rucksack. »Das hier sind die zuletzt übersetzten Seiten. Das sollte auch den letzten Zweifler überzeugen.«

Der Kodex war der endgültige Beweis für ihr kollektives Schicksal. Er belegte nicht nur, dass die alten Maya das Jahr 2012 als das Jahr des Weltuntergangs vorausgesagt hatten, sondern dass einige wenige den Zusammenbruch vorhergesehen und überlebt hatten, weil sie aus den Städten geflohen waren. Und jetzt war es seine, Shetters, und Victors Mission, ihre Leute in Sicherheit zu bringen.

Shetter überflog die Übersetzung. »Eines Tages werden die Kinder diese Worte genauso perfekt auswendig können wie das Treuegelöbnis auf die amerikanische Nation. Kaum zu glauben, findest du nicht auch?« Nur bei Victor ließ er sich zu der freudigen Erregung und der ehrfürchtigen Bewunderung hinreißen, die er im Beisein der anderen stets unterdrückte.

Victor nickte zerstreut.

»Alles in Ordnung?«, fragte Shetter stirnrunzelnd.

»Ja, alles bestens.«

»Gibt es ein Problem?«

»Nein, nein, überhaupt nicht.«

Shetter konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche. »Hast du die Pläne?«

»Die brauchen wir nicht.«

Victor reichte ihm einen schlichten Lageplan, wie jeder Besucher des Getty Museums ihn bekam. Es waren keine Größenangaben darauf eingezeichnet, keine elektrischen Leitungen, keine Einzelheiten des Sicherheitssystems. Victor würde in der neuen Welt von unschätzbarem Wert sein, aber in dieser hier war er schlecht vorbereitet.

»Vertrau mir«, sagte Victor. »Es wird kein Problem sein, in das Gebäude zu kommen.«

»Ich vertraue dir, das weißt du.«

»Gut. Gibt es sonst noch etwas zu besprechen? Wir marschieren einfach hinein und wieder hinaus.«

Shetter hatte schon vorher beschlossen, das Thema Waffen nicht anzuschneiden. Für Victor trugen Waffen und anderes Kriegsgerät maßgeblich dazu bei, dass es so schlecht um die Welt stand. In ihrer neuen Gesellschaft sollte über solche Dinge nicht einmal gesprochen werden. Shetter würde ihm, zumindest vorläufig, den Gefallen tun und seine Luger P08 in seiner Jackentasche lassen.

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