18

Das CDC hatte dafür gesorgt, dass sich Chel mit einer Sondergenehmigung frei auf der Straße bewegen konnte. Der Sicherheitsdienst des Museums hatte ihr ein Begleitfahrzeug zur Verfügung gestellt, das ihr zum Mount Hollywood hinauf folgte. Vom Mulholland Drive aus konnte sie in der Ferne Rauchsäulen aufsteigen sehen. Dennoch empfand sie das erste Mal seit Tagen eine zaghafte Hoffnung, als sie ostwärts raste. Patrick hatte sich sofort bereit erklärt, sich mit ihr im Planetarium zu treffen.

East Mulholland glich einer Geisterstadt. Die Straßen waren, bis auf den einen oder anderen Streifenwagen oder Jeep der Nationalgarde wie leer gefegt. Ein beißender Geruch hing in der Luft – vielleicht waren die Brände doch näher, als sie dachte. Sie kurbelte das Fenster hoch. Sie war nur einen Sekundenbruchteil abgelenkt, aber genau in diesem Moment rannte eine Frau in Joggingkleidung auf die Straße und direkt vor Chels Kühler. Ohne die reflektierenden Laufschuhe hätte Chel sie überhaupt nicht gesehen.

Sie riss das Lenkrad herum, die Reifen des Volvo rutschten quietschend über den Asphalt. Schließlich kam der Wagen am Bordstein zum Stehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Im Rückspiegel sah sie, dass die Joggerin einfach weiterlief, als wäre nichts geschehen. Die Frau hatte offenbar auf Autopilot geschaltet. Chel hatte von VFI-Infizierten gehört, die Apotheken überfielen, um sich Schlaftabletten zu beschaffen, von Leuten, die sich ins Koma tranken oder die Drogendealern horrende Summen für illegale Beruhigungsmittel zahlten. Die Frau im Rückspiegel, die immer kleiner wurde, versuchte es auf natürlichem Wege: laufen, bis sie vor Erschöpfung umfiel. Es hatte den Anschein, als würde sie wirklich jeden Moment zusammenbrechen. Aber sie lief weiter, immer weiter.

Was würde ich tun? Wie weit würde ich gehen?, fragte sich Chel.

Das Begleitfahrzeug hielt neben ihrem Volvo. Chel versicherte, es sei nichts passiert, alles in Ordnung. Die Fahrzeuge setzten sich wieder in Bewegung.

Sie folgten der kurvenreichen Straße den Berg hinauf und hatten eine Viertelstunde später ohne weitere Zwischenfälle das Griffith Observatory erreicht.

Der wuchtige steinerne Bau hatte Chel immer an eine Moschee erinnert. Vor vielen Jahren sei das hier der beste Ort im Land gewesen, um den Nachthimmel zu beobachten, hatte Patrick ihr erzählt. Jetzt, wo die Lichter der Großstadt die meisten Sterne überstrahlten, war es ein Aussichtspunkt, von dem man einen einzigartigen Blick über den gesamten Großraum von Los Angeles hatte. Von hier oben sah das brennende Feuer vor dem nächtlichen Himmel fast schön aus. Von hier oben betrachtet, konnte man fast vergessen, dass L.A. vielleicht seinem Untergang entgegenging.

Der Mann vom Sicherheitsdienst würde auf dem Parkplatz auf sie warten.

Bevor sie ausstieg, warf sie einen Blick auf ihr Telefon. Keine neuen Nachrichten. Nicht von ihrer Mutter, nicht von Stanton. Sie fragte sich, wann er ihr das nächste »Irgendwas Neues?« schicken würde. Möglicherweise könnte sie ihm das nächste Mal tatsächlich etwas Neues berichten. Dieser Gedanke spornte sie an.

Sie stieg aus. Patrick erwartete sie am Eingang zum Observatorium.

»Hi«, sagte sie.

»Selber Hi.«

Sie umarmten sich und blieben einen Moment lang eng umschlungen stehen. Patrick mit seinen knapp eins fünfundsechzig passte größenmäßig perfekt zu ihr. Seltsam. Da hatte sie mit diesem Mann zusammengelebt, jeden Tag mit ihm geredet, neben ihm geschlafen, und jetzt schmiegte sie sich an ihn und wusste doch so gut wie nichts darüber, was er in den vergangenen Monaten gemacht hatte.

Er löste sich von ihr. »Ich bin froh, dass du heil hier angekommen bist.« Seine blauen Augen unter der Schutzbrille glänzten. Blonde Haare umrahmten sein Gesicht. Er trug das gestreifte Hemd mit Button-down-Kragen, das Chel ihm letzte Weihnachten geschenkt hatte. Ob er es aus einem bestimmten Grund angezogen hatte? Als sie zusammen waren, hatte er es kaum je getragen. Sie dafür umso öfter – als Nachthemd. Er hatte es ihr so gern ausgezogen.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du mit dem Erstinfizierten da drin warst«, sagte er kopfschüttelnd. »Großer Gott.« Er trat einen Schritt zurück und sah sie prüfend an. »Arbeitest du wieder rund um die Uhr?«

»Ja, so ungefähr.«

»Ist ja nicht das erste Mal.«

Die Sehnsucht in seiner Stimme war unüberhörbar. Er wollte sie an ihr vergangenes gemeinsames Leben erinnern. »Ich bin dir wirklich dankbar, dass du gekommen bist«, sagte sie. »Das ist furchtbar nett von dir.«

»Kein Problem«, erwiderte er. »Mach ich doch gern. Eine Handschrift aus der klassischen Periode. Unglaublich.«

Chel warf einen Blick zurück auf die Metropole unter ihnen. Feiner grauer Aschedunst hing in der Luft. »Komm, gehen wir rein«, sagte sie. »Es ist unheimlich hier draußen – und außerdem läuft uns die Zeit davon.«

Patrick blieb noch einen Augenblick in der Dunkelheit stehen und schaute blinzelnd zum Himmel hinauf. »Ich liebe die Sterne viel zu sehr, als dass ich Angst vor der Nacht hätte«, murmelte er in Anlehnung an eine Grabschrift, die ihm besonders gut gefiel.

Die Kuppel des dreihundert Sitzplätze bietenden Oschin Planetariums war knapp dreiundzwanzig Meter hoch und gab dem Besucher das Gefühl, als würde er in einem großen unvollendeten Kunstwerk stehen, in einer Basilika, deren Decke noch bemalt werden musste. Bis auf den roten Schein zweier AUSGANG-Hinweisschilder und dem bläulichen Licht eines Laptopmonitors war es fast dunkel im Raum. Während Patrick sich auf die im PC gespeicherten Fotos der Handschrift konzentrierte, betrachtete Chel die sonderbaren Umrisse des Sternenprojektors in der Mitte des Saals. Er sah aus wie ein futuristisches Monster, eine mechanische Hydra, die durch halbkugelförmige Vertiefungen hindurch Tausende von Sternen auf die Aluminiumdecke projizierte.

»So was hab ich ja noch nie in einem Kodex gesehen«, staunte Patrick. »Ein Hinweis auf einen Sternenkrieg in zeitlicher Abstimmung mit dem Abendstern! Ich fass es nicht!«

Das alte Maya-Buch hatte auch ihn in seinen Bann gezogen. Er dimmte die Beleuchtung und legte einen Schalter am Projektor um. Schon füllte sich die Kuppel mit Sternen, die über den Nachthimmel rasten, wobei sie wie durch Zauberhand etliche Hundert Mal ihre Position veränderten. In den eineinhalb Jahren, die sie zusammen waren, war Chel ungefähr ein Dutzend Mal hier gewesen, und jedes Mal war es neu und aufregend.

»In den Passagen, die du schon übersetzt hast, finden sich Dutzende astronomische Hinweise«, sagte Patrick und zeigte mit einem Laser an die Decke. »Nicht nur Sternbilder, sondern auch Positionsangaben und andere Dinge, die wir nutzen können.«

Chel hatte sich nie für die Einzelheiten seiner Arbeit interessiert, und jetzt war es ihr peinlich, dass sie so wenig darüber wusste.

»Komm schon, du weißt doch, was ich meine. Ich spreche von einem historisch-astronomischen GPS«, zog er sie auf.

Chel warf ihm einen schrägen Blick zu.

»Wie Sie hoffentlich noch wissen, Dr. Manu, dreht sich die Erde um die Sonne und auch um ihre eigene Achse. Darüber hinaus sorgen die Anziehungskräfte des Mondes dafür, dass sie hin und her schwingt. Du kannst dir das ungefähr vorstellen wie einen Kreisel. Das bedeutet, dass die Bahn der Sonne sich in unserer Wahrnehmung jedes Jahr ein kleines bisschen verändert. Womit wir bei den 2012ern und ihren Theorien wären.«

»Du meinst die galaktische Synchronisation?«

Patrick nickte. »Genau. Weil sich Mond, Erde und Sonne zur Wintersonnenwende auf einer Linie befinden und wir uns dem Zeitpunkt nähern, wo die Sonnenbahn und ein gedachter Äquator der Milchstraße sich überschneiden, glauben diese Irren, dass die Menschheit ausgelöscht werden wird. Die einen sagen, durch gigantische Flutwellen, die anderen, durch eine Sonnenexplosion. Es macht ihnen nicht mal was aus, dass dieser ›Äquator‹ nur gedacht ist.«

Hoch oben über ihnen bewegten sich projizierte Sterne in langsamen konzentrischen Kreisen. Chel war es leid, sich den Hals zu verrenken, und setzte sich auf einen der gepolsterten Stühle.

»Die Erde eiert also hin und her«, fuhr Patrick fort. »Dadurch ändert sich nicht nur die Bahn der Sonne, sondern auch die der Sterne.«

»Aber selbst wenn sie im Lauf der Zeit ihre Position verändern, sind die Sterne, die wir in Los Angeles sehen, doch praktisch dieselben, die man in Seattle sieht, oder nicht?«, wandte Chel ein. »Wie soll uns das bei einer Ortsbestimmung helfen? Die Unterschiede sind doch fast nicht wahrnehmbar.«

»Für unsere Augen nicht, nein. Wegen der Lichtverschmutzung. Die gab es im Altertum nicht, deshalb sind die Beobachtungen der damaligen Astronomen präziser, als unsere es je sein werden.«

Patricks Liebe zu den Maya war während seines Studiums in Archäoastronomie entstanden. Er war absolut fasziniert von den Beobachtungen, die die Astronomen der Maya von ihren Tempeln aus gemacht, und von den Schlussfolgerungen, die sie daraus abgeleitet hatten. Sie hatten grob die Planetenbahnen bestimmt, das Prinzip der Galaxien verstanden und im Ansatz sogar die Vorstellung, dass Monde an andere Planeten gebunden sind. Für Patrick war es eine Tragödie, dass die »Sternguckerei« so ganz aus der Mode gekommen war.

Sie schauten beide zum erstarrten Himmel hinauf. »So«, sagte Patrick. »Fangen wir bei Tikal an. Wenn wir von dem ungefähren Datum ausgehen, das du anhand der Karbondatierung und der Ikonografie ermittelt hast, hat der Himmel bei der Frühlingstagundnachtgleiche so ausgesehen. Sagen wir: 20. März 930 v. Chr.« Er richtete den Laser auf ein helles Objekt am westlichen Himmel. »Deinem Schreiber zufolge war die Venus bei seiner Frühlingstagundnachtgleiche mitten am Himmel zu sehen. Wir verschieben also die Koordinaten des Sternenprojektors innerhalb des Gebietes von Petén, bis die Venus an der richtigen Stelle steht.«

Die Sterne über ihnen rotierten, bis die Venus sich am höchsten Punkt der Kuppel befand. »Vierzehn bis sechzehn Grad Nord, schätze ich«, sagte Patrick schließlich.

Das würde ein Gebiet von einer Breite von mehr als zweihundert Meilen umfassen, so viel wusste Chel. »Das ist zu vage. Geht es nicht ein bisschen genauer?«

Patrick begann von Neuem, die Sterne zu verschieben. »Das ist nur ein erstes Modell. Wir haben noch einige Dutzend weitere Angaben, die wir vom Computer analysieren lassen müssen. Wir machen so schnell es geht.«

Sie arbeiteten Seite an Seite. Die Anhaltspunkte aus dem Maya-Buch wurden in den Computer eingegeben und von diesem mithilfe der einprogrammierten Sternkarten ausgewertet. Der Sternenprojektor projizierte die Ergebnisse an die Decke der Kuppel. Patrick konzentrierte sich ganz auf die Himmelsdarstellung, und auch Chel arbeitete schweigend.

Es war nach zwei Uhr morgens, als Chels Gedanken zu Volcy auf dem Totenbett abschweiften. Ein unbehagliches Gefühl erfasste sie.

Sie war erleichtert, als Patrick das lange Schweigen brach und sie aus ihren düsteren Gedanken riss. »Und, bist du nach Petén gefahren? Bevor das alles hier losging, meine ich. Hast du die vielen Artikel veröffentlicht, die du schreiben wolltest?«

Das waren die Gründe gewesen, die sie genannt hatte, als sie sich von ihm trennte.

»Ich denke schon«, erwiderte Chel ruhig.

»Wenn das alles hier vorbei ist, wirst du für den Rest deines Lebens auf allen Veranstaltungen die Hauptrednerin sein.«

Er schien vergessen zu haben, dass sie vielleicht erst einmal ins Gefängnis wandern würde, wenn das alles vorbei war. Doch selbst jetzt, mitten in dieser lebensbedrohlichen Situation, konnte sie den neidischen Unterton hören, der in seiner Stimme mitschwang. Obwohl Patrick ein großzügiges Stipendium bekommen hatte, interessierten sich nur wenige für Archäoastronomie. Während seiner ganzen Laufbahn hatte er sich vergeblich bemüht, die Welt der Wissenschaft davon zu überzeugen, dass seine Arbeit wichtig war. Auf jeder Konferenz stand er ganz am Schluss auf der Liste der Vortragsredner, er veröffentlichte nur in Zeitschriften von fragwürdigem Ruf, und seine Manuskripte wurden von den Verlagen abgelehnt.

Chel hatte erst an dem Abend, als sie die renommierteste Auszeichnung der Amerikanischen Gesellschaft für Linguistik erhalten hatte, erkannt, wie tief Patricks Konkurrenzneid saß. Sie waren bei ihrem Lieblingsitaliener und hatten die zweite Flasche Sangiovese geleert, als Patrick das Glas erhob und sagte:

»Auf dich! Darauf, dass du dir das richtige Spezialgebiet ausgesucht hast.«

»Was willst du damit sagen?«

»Gar nichts«, hatte er erwidert und einen kräftigen Schluck Wein genommen. »Ich bin bloß froh, dass sich Epigrafie so großer Wertschätzung erfreut.«

Sooft ein Artikel von ihr erschien oder sie mit einem weiteren Preis ausgezeichnet wurde, gab er sich die größte Mühe, Haltung zu bewahren, aber seine Freude wirkte aufgesetzt. Irgendwann erzählte Chel ihm nur noch von den wenigen negativen Seiten ihres Jobs: von Studenten, die nicht mitarbeiteten, oder von der Interessenpolitik des Getty-Kuratoriums. Sie berichtete ihm nur noch das Schlechte, nicht mehr das Gute; das war einfacher. Doch mit jeder Kleinigkeit, die sie ihm nicht erzählte, spürte sie, wie die Distanz zwischen ihnen größer wurde.

Patrick korrigierte das Sternenmuster an der Decke des Planetariums ein weiteres Mal. »Ich bin wieder mit jemandem zusammen.«

Chel schaute auf. »Wirklich?«

»Ja. Seit ein paar Monaten. Sie heißt Martha.«

»Was Ernstes?«

»Glaub schon«, erwiderte er. »Ich wohne seit einer Weile bei ihr. Sie war gar nicht begeistert, als ich ihr sagte, dass ich mich heute Abend mit dir treffe, aber sie hat verstanden, wie ernst die Lage ist. Ganz schön verrückte Ausrede, um sich mitten in der Nacht mit seiner Ex zu treffen.«

»Ich hab gar nicht gewusst, dass jemand unter sechzig Martha heißen kann.«

»Oh, sie ist ziemlich weit südlich von sechzig, wenn du das meinst.«

»Aha, ein Kind also. Noch besser.«

»Sie ist fünfunddreißig und erfolgreiche Theaterleiterin. Und sie will heiraten.«

Chel konnte es nicht fassen, dass er so kurz nach der Trennung von ihr ans Heiraten dachte. »Wenigstens arbeitet ihr in verschiedenen Bereichen.«

Patrick sah sie an. »Wie meinst du das?«

»Na ja, so gibt es bei euch beruflich wenigstens keine Unstimmigkeiten.«

»Du glaubst, das war unser Problem?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Kann sein.«

»Das Problem war nicht, dass ich dich als Konkurrenz betrachtet habe, Chel«, sagte er langsam. »Solange du nicht erkennst, dass du die Erwartungen, die dein Vater vielleicht in dich gesetzt hat, schon längst erfüllt hast, wirst du nicht glücklich sein. Oder imstande, jemand anderen glücklich zu machen.«

Chel wandte sich wieder den Fotos der alten Handschrift zu. »Konzentrieren wir uns lieber auf unsere Arbeit.«

***

Zehn Minuten später schaltete Patrick den Projektor aus und sagte in die Stille hinein: »Das ist es.« Er zeigte nach oben. »Damit sind alle achtzehn zwingenden Bedingungen erfüllt.«

»Bist du sicher?«, fragte Chel. »Das ist es?«

Er nickte. »Das ist es. Zwischen 15,30 und 15,57 Grad Nord und zwischen 900 und 970 v. Chr. Ganz exakt können wir die Position nicht bestimmen. Aber wenn wir die Mittelwerte zugrunde legen, heißt das, 15,5 Grad Nord und 935 v. Chr. Ich hab dir doch gesagt, ich krieg’s raus.«

Dieser Himmel hatte sich über Paktul gespannt, als er sein Buch schrieb. Genau dieser Himmel. Chel empfand bei ihrer Arbeit oft ehrfürchtige Bewunderung, aber dieses Gefühl, Raum und Zeit zu überwinden, war einzigartig. Sie spürte, wie sie ihrem Ziel immer näher kamen.

»Im Süden von Petén, genau wie du vermutet hast«, fuhr Patrick fort. Er krempelte die Ärmel hoch und breitete dann eine Karte der Maya-Region auf einem Tisch neben dem Sternenprojektor aus. Darauf waren die Längengrade im Abstand von jeweils einem halben Grad eingezeichnet. »Tikal oder Uaxactun oder Piedras Negras kann es nicht sein – die sind alle im Siebzehn-Grad-Bereich. Es muss irgendwo weiter südlich sein.«

Er fuhr mit dem Finger eine gedachte Linie nach. Jede größere bekannte Maya-Stadt im Südosten von Petén war eingezeichnet, aber Patricks gedachte Linie stieß auf keine dieser Städte, auch nicht auf eine kleinere.

Chel kaute auf ihrer Unterlippe. Sie hatte eine seltsame Vorahnung.

»Gibt es hier einen Computer, den ich benutzen kann?«

Patrick zeigte auf das kleine Büro im hinteren Teil des Planetariums.

Als sie den PC eingeschaltet hatte, klickte sie sich zu Google Earth durch und dann zu einer digitalen Landkarte des heutigen Guatemala. Da keine Längengrade eingezeichnet waren, rief sie eine zweite Landkarte mit detaillierten Längengradangaben auf und schaltete dann zwischen den beiden Fenstern hin und her, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.

Keine fünfzig Meilen vom Längengrad 15,5 Grad Nord entfernt war Chel geboren worden.

***

Chel saß auf den Schultern ihres Vaters. Es war Trockenzeit und früh am Abend, und Alvars Arbeitstag war zu Ende. Ein Huhn war aus dem Hühnerstall gestohlen worden, und er wollte die Sache mit seinem Nachbarn klären. Von ihrem luftigen Sitzplatz aus konnte Chel sehen, wie junge Mädchen Eimer mit Maismehl aus der Mühle nach Hause schleppten. Aus dem Mehl würden Tortillas fürs Abendessen gebacken und Getränke fürs Frühstück hergestellt werden. Aus den Häusern waren gepfiffene Melodien zu hören, irgendjemand schlug eine Trommel. Alvar tanzte im Gehen zu der Musik, und Chel spürte seinen Bart an ihren Beinen kratzen wie Sandpapier.

Das war Chels einzige Erinnerung an ihre Kindheit in Kiaqix.

Später, nachdem ihre Mutter mit ihr von dort weggegangen war, war sie noch einige Male in ihre Heimat zurückgekehrt, und es gefiel ihr mit jedem Mal besser. Sie liebte die Lagerfeuer, an denen immer noch Geschichten über ihre Vorfahren erzählt wurden, liebte die gemeinsame Arbeit auf dem Feld zur Erntezeit, die Geschenke von den Bienenzüchtern und die fröhlichen Volleyball- und Fußballspiele.

Aber Kiaqix lag etliche Hundert Meilen von einer größeren Stadt, von den Schnellstraßen oder von irgendwelchen antiken Ruinen entfernt, und der Weg dorthin war lang und beschwerlich. Mit einer kleinen Maschine, die auf einer fünf Meilen weiter östlich gelegenen Piste landete, konnte man hinfliegen, aber da es in Kiaqix nur ein einziges motorisiertes Fahrzeug gab, blieb einem nichts anderes übrig, als die fünf Meilen zu Fuß zu gehen. Es gab nur diese eine Straße, und während der Regenzeit war sie oft unpassierbar.

Darüber hinaus weigerte sich Chels Mutter, nach Guatemala zurückzukehren, und sie flehte Chel jedes Mal an, es auch nicht zu tun. Solange die ladinos an der Macht waren, so glaubte Ha’ana, wären die Manus dort nicht sicher. Und seit es im Land wieder vermehrt zu Ausschreitungen gekommen war, sah sie sich in ihren Befürchtungen bestätigt.

»Was ist?«, fragte Patrick. Er war in der Tür zu dem hell erleuchteten Büro stehen geblieben, und da das Planetarium hinter ihm stockdunkel war, sah es so aus, als ob die Welt hier endete, in diesem winzigen Büro.

Chel zeigte ihm die Landkarte und erzählte ihm, was sie gefunden hatte.

»Gibt es dort irgendwelche größeren Ruinen?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Aber Kiaqix ist doch bloß ein kleines Dorf«, wandte er ein. »Du hast gesagt, der Schreiber spricht von einer Stadt mit mehreren Zehntausend Einwohnern.« Er beugte sich über sie, um den Monitor besser zu sehen, und Chel legte instinktiv die Hand auf seinen hochgekrempelten Ärmel. Sofort stellte sich das alte Gefühl von Vertrautheit ein. Patrick hatte recht: Im Altertum war Kiaqix ein völlig unbedeutender Ort gewesen. Es hatte dort keinerlei Funde aus der klassischen Periode gegeben, und die nächsten Ruinen lagen zweihundert Meilen entfernt.

Chel, den Blick auf die Landkarte geheftet, kam dennoch ins Grübeln. Die Ähnlichkeit zwischen den Angaben in dem alten Buch und den Geschichten, die sie selbst kannte, etwa die von dem König, der seine eigene Stadt zugrunde richtete, war fast schon unheimlich. »Denk an das Gründertrio«, sagte sie. »Kiaqix wurde angeblich von drei Stadtbewohnern gegründet, die in den Dschungel geflohen waren.«

»Ich dachte, du glaubst nicht an die Geschichte von der versunkenen Stadt. Hast du nicht immer gesagt, das sei nur eine Legende?«

»Es gibt keine handfesten Beweise, wir haben nur die mündliche Überlieferung und die Leute, die behaupten, sie hätten die Ruinen gesehen, aber sie können es nicht beweisen.«

Jetzt fiel es Patrick wieder ein. »Dein Onkel, nicht wahr?«

»Der Cousin meines Vaters.«

Vor mehr als dreißig Jahren hatte Chiam Manu Kiaqix verlassen und war im Dschungel verschwunden. Als er über eine Woche später zurückkehrte, behauptete er, er habe die versunkene Stadt gefunden. Doch er brachte nichts mit, das seine Behauptung untermauert hätte, und er weigerte sich auch, genauere Angaben darüber zu machen, in welcher Richtung die versunkene Stadt lag. Nur wenige Dorfbewohner glaubten ihm; die meisten verspotteten ihn und nannten ihn einen Lügner. Ein paar Wochen später wurde er von Soldaten ermordet. Er nahm die Wahrheit mit ins Grab.

»Was ist mit diesem Volcy?«, fragte Patrick. »Glaubst du, er könnte aus Kiaqix stammen?«

Chel holte tief Luft. »Alles, was er über sein Dorf erzählt hat, könnte auch auf Kiaqix zutreffen. Und auf ungefähr dreihundert andere Dörfer in Petén.«

Patrick legte die Hand auf ihre. »Das kann doch kein Zufall sein«, sagte er leise und beugte sich noch tiefer über sie. Sie konnte den Duft seiner Sandelholzseife riechen. »Wie kommt es, dass dieses Buch ausgerechnet bei dir landet? Das ist schon ein verdammt merkwürdiger Zufall, findest du nicht auch?«

Chel wandte sich wieder dem Computerbildschirm zu. In Qu’iche gab es kein Wort für »Zufall«, und das war nicht nur ein Übersetzungsproblem. Ihr Volk gebrauchte ein anderes Wort für das unerwartete Eintreten von Ereignissen, die alle in dieselbe Richtung deuteten. Es war dasselbe Wort, das Chels Vater in seinem letzten Brief aus dem Gefängnis verwendet hatte, als er spürte, dass der Tod nah war: ch’umilal.

Schicksal.

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