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Das East L.A. Presbyterian Hospital: vergitterte Fenster und draußen ein Grüppchen von Rauchern, wie sie vor heruntergekommenen Krankenhäusern immer herumstanden und pafften. Der Haupteingang war geschlossen, weil durch eine undichte Stelle in der Decke der Eingangshalle Wasser tropfte, und so wurden Besucher und Patienten gleichermaßen durch die Notaufnahme in das Krankenhaus gelotst.
Eine wilde Mischung unterschiedlichster Gerüche schlug Stanton drinnen entgegen: Alkohol, Schmutz, Blut, Urin, Erbrochenes, Desinfektionsmittel, Luftverbesserer, Tabak. Im Wartezimmer saßen Dutzende Kranke und warteten darauf, dass sie aufgerufen wurden. Stanton kam nicht oft in solche Einrichtungen: In einem Krankenhaus, das sich Tag für Tag mit den Opfern von Bandenkriminalität beschäftigen musste, bestand kein Bedarf an einem Prionenspezialisten, der akademische Vorträge hielt.
Während eine eindeutig gestresste Krankenschwester, die hinter einer kugelsicheren Scheibe saß, Dr. Thane zu erreichen versuchte, ging Stanton zu einer Gruppe von Besuchern, die sich um einen an der Wand angebrachten Fernseher geschart hatten. Ein Bergungsschiff der Küstenwache zog ein Flugzeug aus dem Meer. Rettungsboote und Helikopter kreisten um die Trümmer. Flug 126 der Aero Globale war auf dem Weg von L.A. nach Mexico City gewesen, als die Maschine vor der Küste von Baja California ins Meer stürzte. Zweiundsiebzig Passagiere und acht Besatzungsmitglieder waren ums Leben gekommen.
So kann’s gehen, dachte Stanton. Auf einmal ist alles vorbei. Egal, wie oft das Leben ihn auch zu dieser Erkenntnis zwingen mochte, der Gedanke verblüffte ihn immer wieder aufs Neue. Man trieb Sport und ernährte sich gesund, man ließ sich einmal im Jahr durchchecken, arbeitete vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche, ohne sich zu beklagen, und dann stieg man eines Tages einfach ins falsche Flugzeug, und das war’s.
»Dr. Stanton?«
Das Erste, was ihm an der groß gewachsenen Schwarzen im grünen Overall auffiel, waren die breiten Schultern. Die Frau war Anfang dreißig, hatte kurz geschnittene Haare und trug eine Brille mit dicken Gläsern und schwarzem Gestell, was ihr das Aussehen einer Exrugbyspielerin verlieh, die einen auf hip machte.
»Ich bin Michaela Thane.«
»Gabriel Stanton.« Er schüttelte ihr die Hand.
Thane schaute zum Fernseher hinauf. »Schrecklich, nicht wahr?«
»Weiß man schon, wie es passiert ist?«
»Angeblich menschliches Versagen.« Sie führte ihn aus der Notaufnahme. »Oder wie wir hier sagen: RDSA – Ruf die Scheißanwälte an.«
»Apropos anrufen – ich nehme an, Sie haben das Gesundheitsamt informiert?«, fragte Stanton, als sie zum Lift gingen.
Thane drückte mehrmals auf einen Knopf, der partout nicht aufleuchten wollte. »Sie haben versprochen, jemanden herzuschicken.«
»Ich schätze, das kann dauern«, bemerkte Stanton trocken.
Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Stanton lächelte.
Endlich kam der Lift. In der Kabine drückte Thane auf den Knopf mit der Sechs. Ihr Ärmel rutschte dabei ein Stück hoch, und Stanton bemerkte die Tätowierung auf ihrem Trizeps – ein Weißkopfadler mit einer Schriftrolle zwischen den Schwingen.
»Sie kommen von der Army?«
»Ja, ich war bei der 565. Sanitätskompanie. Zu Ihren Diensten, Sir!«
»Aus Fort Polk?«
»Stimmt. Kennen Sie das Bataillon?«
»Mein Vater war bei den Pionieren. Bei der 46. Wir haben drei Jahre in Fort Polk gewohnt. Waren Sie vor Ihrer Assistenzzeit im aktiven Dienst?«
»Ich habe für mein Medizinstudium die Ausbildung für Reserveoffiziere absolviert, und nach meinem Praktikum haben sie mich geholt«, antwortete sie. »Zwei Jahre Luftrettung per Helikopter in der Nähe von Kabul. Als ich aus der Army entlassen wurde, war ich Captain.«
Stanton war beeindruckt. Verwundete Soldaten über eine Luftbrücke von der Front zurückzuholen war so ziemlich der gefährlichste Einsatz im Sanitätsdienst.
»Wie viele Fälle von FFI haben Sie schon gesehen?«, fragte Thane, als sich der Lift endlich in Bewegung setzte.
»Sieben«, erwiderte Stanton.
»Und alle Patienten sind gestorben?«
Er nickte ernst. »Sind die Ergebnisse der Gentests schon da?«
»Noch nicht, müssten aber bald kommen. Ich habe inzwischen übrigens herausgefunden, wie der Patient hierhergekommen ist. Die Polizei hat ihn in einem Super 8 Motel ein paar Blocks von hier festgenommen, weil er auf andere Gäste losgegangen ist. Als den Beamten klar wurde, dass der Mann krank ist, haben sie ihn hierher gebracht.«
»Wir können von Glück sagen, dass er nach einer Woche ohne Schlaf nichts Schlimmeres verbrochen hat.«
Schon eine einzige schlaflose Nacht konnte das Wahrnehmungsvermögen so stark beeinträchtigen wie ein Blutalkoholspiegel von 0,1 Promille. Halluzinationen, Delirium und starke Stimmungsschwankungen konnten die Folge sein. Nach mehreren Wochen sich verschlimmernder Insomnie trugen sich die Patienten mit Selbstmordgedanken. Doch die meisten, die Stanton gesehen hatte, starben an völliger psychischer und physischer Erschöpfung.
»Sagen Sie, Dr. Thane, war es eigentlich Ihre Idee, den Amylasespiegel zu messen?«
Der Aufzug hielt im sechsten Stock.
»Ja, wieso?«
»Die meisten Assistenzärzte wären nicht auf die Idee gekommen, FFI auf die Liste der Differentialdiagnosen zu setzen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Heute Morgen war ein Obdachloser in der Notaufnahme, der acht Tüten Bananenchips gefuttert hatte. Er wollte damit seinen Kaliumspiegel in die Höhe treiben, damit wir ihn stationär aufnehmen. Wenn Sie ein bisschen mehr Zeit hier verbringen würden, wäre Ihnen klar, dass wir einfach alles in Betracht ziehen müssen.«
Sie näherten sich dem Nervenzentrum der Station. Stanton bemerkte, dass alle Angehörigen des Personals Thane im Vorbeigehen zulächelten oder zunickten oder zuwinkten. Der Empfangsbereich sah aus, als wäre er seit Jahrzehnten nicht mehr modernisiert worden. Sogar die Computer waren vorsintflutlich. Krankenschwestern und Assistenzärzte kritzelten Notizen in Schnellhefter, deren Farbe schon verblasste. Pflegekräfte beendeten ihre Runde und stapelten die leeren Tabletts aus den Krankenzimmern.
Vor Zimmer 621 war ein Angestellter des Sicherheitsdienstes postiert worden. Der Mann war mittleren Alters, hatte eine dunkle Hautfarbe und einen Bürstenschnitt und trug einen rosaroten Mundschutz, der bis auf die Augen das ganze Gesicht verdeckte.
»Alles in Ordnung da drin, Mariano?«, fragte Thane.
»Ja, im Moment ist er recht ruhig«, antwortete der Mann und klappte sein Kreuzworträtselheft zu. »Ein paar kurze Ausbrüche, sonst nichts.«
»Das ist Mariano«, stellte Thane den Angestellten vor. »Mariano, das ist Dr. Stanton. Er wird uns bei dem Fall unseres unbekannten John Doe behilflich sein.«
Marianos dunkelbraune Augen richteten sich auf Stanton. »Seit er vor drei Tagen eingeliefert wurde, hat er die meiste Zeit wie wild um sich geschlagen und herumgebrüllt. Kann ganz schön laut werden da drin. Wuuh wuuh wuuh, das ist alles, was er von sich gibt.«
»Was sagt er?«, fragte Stanton stirnrunzelnd.
»Wuuh oder wuudsch. So ähnlich hört es sich jedenfalls an. Weiß der Teufel, was das zu bedeuten hat.«
»Ich habe es bei Google eingegeben, aber nichts gefunden, das irgendeinen Sinn ergeben würde, egal, in welcher Sprache«, sagte Thane.
Mariano zog die Gummischlaufen seines Mundschutzes fest hinter die Ohren. »Hey, Doc, Sie sind doch der Experte hier. Kann ich Sie was fragen?«
Stanton streifte Thane mit einem flüchtigen Blick. »Sicher.«
»Das ist doch nicht ansteckend, was der Typ da hat, oder?«
»Nein, machen Sie sich keine Sorgen.« Stanton folgte Thane in das Krankenzimmer.
»Ich glaube, er hat sechs Kinder oder so«, flüsterte Thane, als sie außer Hörweite waren. »Er hat Angst, er könnte etwas von hier mit nach Hause bringen. Ich habe ihn noch nie ohne Mundschutz gesehen.«
Stanton zog einen Mundschutz aus einem Automaten an der Wand und band ihn sich um. »Wir sollten seinem Beispiel folgen«, sagte er und gab Thane ebenfalls eine Maske. »Insomnie schwächt das Immunsystem, wir müssen verhindern, dass unser John Doe mit einer Erkältung oder irgendeinem Erreger infiziert wird, gegen den er keine Abwehrkräfte hat. Der Raum darf nur mit Mundschutz und Handschuhen betreten werden. Sorgen Sie dafür, dass ein entsprechender Hinweis an der Tür angebracht wird.«
Stanton hatte schon schlimmere Krankenzimmer gesehen, allerdings nicht in den Vereinigten Staaten. Zwei Metallbetten, Nachttische mit gesprungener Platte, zwei orangerote Stühle, Vorhänge mit ausgefransten Kanten. Spender mit Handdesinfektionsmittel hingen wackelig an der Wand, die Decke war durch Stockflecken von einem Wasserschaden verfärbt. Der unbekannte John Doe lag in dem Bett, das gleich beim Fenster stand. Er war ungefähr eins fünfundsechzig groß, dünn, mit dunkler Haut und langen schwarzen Haaren, die über seinen Schultern lagen. Elektroden, die mit dünnen Drähten an einen Elektroenzephalographen zur Messung der Hirnströme angeschlossen waren, standen ihm vom Kopf ab. Das Krankenhaushemd klebte ihm am Körper wie Seidenpapier, und er stöhnte leise.
Die beiden Ärzte beobachteten, wie der Patient sich unruhig hin und her warf. Stanton fielen die Augenbewegungen auf, die seltsam abgehackte Atmung und das unkontrollierte Muskelzucken in den Händen. Stanton hatte in Österreich einmal eine an FFI erkrankte Frau behandelt. Man hatte sie ans Bett fesseln müssen, so heftig war ihr Tremor gewesen. Hilflos mitansehen zu müssen, wie ihre Mutter sich quälte, und gleichzeitig zu wissen, dass sie eines Tages möglicherweise das gleiche Schicksal ereilen würde, hatte die Kinder der Frau ungeheuer belastet. Es war eine niederschmetternde Erfahrung für Stanton gewesen.
Thane bückte sich und schüttelte John Does Kissen auf. »Wie lange kann man ohne Schlaf überleben?«, fragte sie.
»Bei totaler Insomnie maximal zwanzig Tage«, antwortete Stanton.
Selbst die Ärzte wussten so gut wie nichts über das Phänomen Schlaf. In vier Jahren Ausbildungszeit zum Mediziner wurde diesem Thema nicht einmal ein ganzer Tag gewidmet. Was Stanton darüber wusste, hatte er durch seine FFI-Fälle gelernt. Bis jetzt war noch nicht einmal klar, warum Menschen und andere Lebewesen überhaupt Schlaf brauchten: Funktion und Bedeutung des Schlafs waren so rätselhaft wie die Existenz der Prionen. Einige Fachleute glaubten, Schlaf diene der Erholung des Gehirns, trage zur Wundheilung bei und unterstütze den Stoffwechsel. Andere wiederum vertraten die Auffassung, Schlafen schütze Tiere durch den Rückzug in eine sichere Umgebung vor nächtlichen Gefahren und sei eine Methode, um Energie zu sparen. Aber noch niemand hatte eine Erklärung dafür gefunden, warum der extreme Schlafmangel Stantons FFI-Patienten tötete.
Plötzlich riss John Doe seine blutunterlaufenen Augen auf und stöhnte laut: »Wuuh wuuh wuuh!«
Stanton studierte die Hirnaktivität des Patienten auf dem Überwachungsmonitor wie ein Musiker, der die Noten eines Stückes betrachtet, das er schon unzählige Male gespielt hat. Der normale Schlaf ließ sich in vier Phasen unterteilen, die im Abstand von jeweils etwa neunzig Minuten aufeinanderfolgen und an charakteristischen Hirnstromkurven zu erkennen sind, die hier jedoch wie erwartet vollständig fehlten. Kein Non-REM-Schlaf, kein REM, gar nichts. Das Gerät bestätigte, was Stanton bereits intuitiv und aus Erfahrung wusste: Es handelte sich hier definitiv nicht um eine Methamphetaminabhängigkeit.
»Wuuh wuuh wuuh!«
»Und, was halten Sie davon?«, fragte Thane.
Stanton sah ihr in die Augen. »Ich denke, das könnte der erste Fall von FFI in der Geschichte der Vereinigten Staaten sein.«
Obwohl sie sich in ihrer Diagnose bestätigt sehen konnte, machte Thane kein besonders glückliches Gesicht. »Er wird sterben, oder?«
»Höchstwahrscheinlich.«
»Und wir können nichts für ihn tun?«
Diese Frage hatte Stanton zehn Jahre lang gestellt. Vor der Entdeckung der Prionen waren Wissenschaftler davon ausgegangen, dass lebensmittelbedingte Krankheiten von Bakterien, Viren oder Pilzen herrührten, die ihre DNA oder RNA dann replizierten. Doch Prionen hatten weder das eine noch das andere: Sie bestanden aus reinem Eiweiß und »vermehrten« sich, indem sie andere, normale Proteine in pathogene umwandelten. Das bedeutete, dass ihnen mit den herkömmlichen Therapien gegen bakterielle oder virale Infektionen nicht beizukommen war. Sie konnten weder durch Antibiotika noch durch antivirale oder sonstige Medikamente bekämpft werden.
»Ich habe wissenschaftliche Beiträge über Pentosan-Polysulfat und das Malariamedikament Quinacrine gelesen«, sagte Thane. »Was ist damit?«
»Quinacrine zerstört die Leber«, erklärte Stanton. »Und Pentosan-Polysulfat kriegen wir nicht ins Gehirn, ohne noch größeren Schaden anzurichten.« Es werde zwar mit verschiedenen Therapien experimentiert, fügte er hinzu, aber noch sei keine für den Versuch am Menschen geeignet und keine von der staatlichen Gesundheitsbehörde FDA zugelassen.
Aber sie konnten es John Doe immerhin so angenehm wie möglich machen, bevor das Unausweichliche eintrat. »Wo befindet sich der Temperaturregler?«, fragte Stanton.
»Die Temperaturen werden zentral über eine Anlage unten im Keller geregelt«, antwortete Thane.
Stanton sah sich prüfend um. Dann trat er ans Fenster, riss die Vorhänge zu, damit kein Licht mehr von draußen hereinfiel, und begann, Möbelstücke zu verrücken. »Rufen Sie unten an, sagen Sie ihnen, sie sollen die Klimaanlage für diesen Stock auf die höchste Stufe drehen. Wir müssen die Temperatur im Zimmer so weit wie möglich senken.«
»Dann erfrieren die anderen Patient hier oben.«
»Wozu gibt’s Decken? Außerdem brauchen wir frische Bettwäsche und Hemden für ihn. Er wird im Nu alles nass schwitzen; sagen Sie den Schwestern, dass sie seine Sachen jede Stunde wechseln sollen.«
Nachdem Thane hinausgeeilt war, löschte Stanton überall das Licht und schloss die Tür. Dann warf er ein Handtuch über den EEG-Monitor, um auch diese Lichtquelle auszuschalten.
Der Thalamus – eine winzige Ansammlung von Neuronen im Zwischenhirn – entschied, welche sensorischen Eindrücke ins Bewusstsein gelangten, und diente gleichsam als »Schlafschutzschild« des Körpers. Wenn es Zeit war zu schlafen, sorgte er dafür, dass Signale von der Außenwelt, wie Geräusche und Licht, abgeblockt wurden. Stanton hatte bei jedem FFI-Patienten, den er behandelt hatte, die katastrophalen Auswirkungen eines nicht mehr funktionsfähigen Thalamus erlebt. Der Kranke reagierte hochgradig empfindlich auf Licht und Geräusche, weil er praktisch einem sensorischen »Dauerbeschuss« ausgesetzt war. Stanton hatte versucht, Clara, seiner österreichischen Patientin, wenigstens ein bisschen Linderung zu verschaffen, indem er ihr Zimmer in eine Art Höhle verwandelt hatte.
Er berührte John Doe sanft an der Schulter. »Habla Español?«
»Tinimit wuuh, tinimit wuuh.«
Stanton gab es auf. Ohne Dolmetscher würden sie nicht weiterkommen. Er untersuchte den Patienten. John Does Puls raste, sein Nervensystem arbeitete auf Hochtouren. Er atmete keuchend durch den Mund, seine Zunge war geschwollen, sein Verdauungsapparat hatte die Arbeit eingestellt. Weitere Hinweise auf FFI.
Thane kam zurück. Sie zog sich einen frischen Mundschutz über. In ihrer behandschuhten Hand hielt sie einen Ausdruck, den sie Stanton gab. »Der Gentest ist da.«
Sie hatten John Does DNA untersucht und besonderes Augenmerk auf Chromosom 20 gelegt, weil die für FFI charakteristische Mutation des Prionen-Proteins immer auf Chromosom 20 auftrat. Das wäre der endgültige Beweis.
Stanton überflog die Ergebnisse. Er konnte nicht fassen, was er da sah: eine völlig normale DNA-Sequenz. Keinerlei Auffälligkeiten. »Das kann nicht sein, da muss im Labor irgendwas schiefgegangen sein«, sagte er mit einem flüchtigen Blick auf Thane. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie das Labor in einem Krankenhaus wie diesem wohl aussah und wie oft es zu Verwechslungen kommen musste. »Sie sollen die Tests wiederholen, sagen Sie ihnen das.«
»Wieso?«
Er gab ihr den Ausdruck zurück. »Weil keine Mutation vorliegt.«
»Sie haben die Tests zwei Mal durchlaufen lassen. Sie wussten, wie wichtig es ist.« Thane studierte die Ergebnisse. »Ich kenne die Genetikerin, sie arbeitet äußerst sorgfältig. So was würde sie niemals vermasseln.«
Stanton fragte sich, ob er das klinische Bild falsch gedeutet hatte. Wie war es möglich, dass keine Mutation vorlag? In jedem früheren Fall von FFI war eine DNA-Mutation nachgewiesen worden, was zu einer Umwandlung der Prionen im Thalamus und schließlich zu den typischen Symptomen geführt hatte.
»Könnte es etwas anderes sein als FFI?«, fragte Thane.
John Doe schlug wieder die Augen auf, und Stanton konnte einen flüchtigen Blick auf seine höchstens stecknadelkopfgroßen Pupillen erhaschen. Er war sich seiner Sache so sicher gewesen. Alle Symptome sprachen für FFI, auch wenn die Krankheit ungewöhnlich schnell fortschritt.
»Wuuh wuuh wuuh!«, schrie der Mann wieder.
»Wir müssen unbedingt einen Weg finden, uns mit ihm zu verständigen«, sagte Stanton.
»Ein Dolmetscherteam ist schon unterwegs. Die können praktisch jede zentral- und südamerikanische Sprache erkennen. Wenn wir erst mal wissen, was für eine Sprache er spricht, werden wir jemanden hinzuziehen, der sie perfekt beherrscht.«
Stanton nickte. »Sie sollen sich beeilen.«
Thane schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Wenn keine genetische Mutation vorliegt, kann er nicht an FFI erkrankt sein, richtig?«
Stanton blickte flüchtig zu ihr auf. Seine Gedanken überschlugen sich. »Richtig.«
»Dann handelt es sich also nicht um eine Prionenerkrankung?«
»Doch, ganz sicher. Aber wenn keine genetische Veränderung vorliegt, muss er sich auf andere Weise infiziert haben.«
»Und wie?«
Seit Jahrzehnten schon war eine seltene genetisch bedingte Prionenkrankheit namens Creutzfeldt-Jakob-Krankheit – oder CJD – bekannt. Dann erkrankten in England plötzlich mehrere Dutzend Menschen nach dem Verzehr von Rindfleisch. Die Krankheit verlief tödlich, und die Symptome waren die gleichen wie bei CJD. So bekam der auf den Menschen übertragene Rinderwahnsinn seinen korrekten Namen: Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Diese unterschied sich von CJD nur dadurch, dass sie durch verseuchtes Fleisch übertragen worden war. Und dass sie die Wirtschaft in unzähligen Ländern auf Jahre hinaus nachhaltig schädigte und völlig neue Richtlinien für die Produktion von Lebensmitteln erforderte. Es hatte ganz den Anschein, als würde jetzt etwas Ähnliches mit FFI passieren.
»Er muss verseuchtes Fleisch gegessen haben«, sagte Stanton.
John Doe warf sich wild hin und her, die Gitter an seinem Bett klapperten. Stanton hatte so viele Fragen: Was sagte der Patient? Wo kam er her? Welcher Art von Arbeit ging er nach?
»Großer Gott«, murmelte Thane. »Sie meinen, eine neue Variante von Prionen, die die Symptome von FFI nachahmt? Woher wissen Sie, dass der Erreger durch Fleisch übertragen wurde?«
»Wuuh wuuh wuuh …!«
»Weil das die einzige andere Möglichkeit ist, sich mit einer Prionenkrankheit zu infizieren.«
Und wenn er recht hatte – und dieser neue Cousin von FFI tatsächlich durch den Verzehr von Fleisch übertragen wurde –, dann mussten sie die Spur zurückverfolgen. Sie mussten herausfinden, woher das Fleisch stammte und wie es in den Verkauf gelangt war. Vor allem aber mussten sie klären, ob nicht noch mehr Menschen sich bereits infiziert hatten.
John Doe brüllte jetzt wie ein Wahnsinniger: »Wuuh wuuh wuuh …!«
»Und was machen wir jetzt?«, rief Thane ihm über den Krach hinweg zu.
Stanton zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer in Atlanta, die nicht einmal fünfzig Leute auf der Welt kannten. Am anderen Ende wurde sofort abgenommen: »Seuchenzentrum CDC. Sie sind mit der abhörsicheren Notrufhotline verbunden.«