27

Vierzig Mal ist die Sonne wiedergekehrt, während ich gefastet und nichts als Maismehlbrühe und Wasser zu mir genommen habe. Kein Regen ist auf unsere Felder oder auf unsere Wälder gefallen, und in den Wasserspeichern geht das Wasser immer mehr zurück. Überall in der Stadt fängt man an, Wasser und Mais und Maniok zu horten, und es heißt, manche trinken ihren eigenen Urin, um ihren Durst zu stillen. In zwanzig Sonnen wird es kein Wasser mehr geben.

Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich, dass einige nach Norden ziehen wollen, auf der Suche nach Land, das sie bestellen könnten, aber Jaguar Imix hat verkünden lassen, dass jeder, der Kanuataba verlässt, mit dem Tod oder mit noch Schlimmerem bestraft wird. In den ärmsten Winkeln von Kanuataba hat es in den letzten zwanzig Sonnen achtzehn Todesfälle gegeben, darunter viele Kinder; sie sind verhungert, weil sie bei der Zuteilung der Rationen als Letzte bedacht werden.

Früher war unsere Stadt im Umkreis von zehn Tagesmärschen ein Umschlagplatz für die besten Waren. Aber Jadeschmuck ist nutzlos, und abgesehen von denen, die mit der Erhaltung der königlichen Kleinodien und der Geschichtsschreibung betraut sind, so wie ich, gibt es für die Handwerker nichts mehr zu tun. Nicht mehr Ohrgehänge aus Perlmutt und Federumhänge in schillernden Farben sind die begehrtesten Güter für die adligen Frauen, sondern Tortillas und Limonen. Eine Mutter, deren Kinder nichts mehr zu essen haben, verschwendet keinen Gedanken an goldene Medaillons, mögen sie auch noch so heilig sein.

Als die Sonne gestern im Zenit stand, wurde ich in den Palast befohlen.

Ich ließ Auxilas Töchter in meiner Höhle zurück, ich wusste, mein Krafttier würde in meiner Abwesenheit über sie wachen. Jaguar Imix, der allerheiligste König, war gerade erst zurückgekehrt von seinem weit entfernten Sternenkrieg. Er befahl mich zu sich, um mir die Bedeutung des Gottes Akabalam zu offenbaren, damit ich den Prinzen auch in Zukunft unterrichten könnte.

Als ich einige Hundert Schritt von der Mitte unserer Stadt entfernt war, weniger als tausend Schritt von dem Platz, wo die neue königliche Grabstätte errichtet werden soll, konnte ich nicht glauben, was ich sah. Dicker schwarzer Rauch stieg über den Türmen des kleinen Tempels auf, unserer heiligen Katakombe. Und als ich um die Ecke bog, sah ich eine solche Menge von versammelten Männern und Frauen, wie ich sie seit sechshundert Sonnen in Kanuataba nicht mehr gesehen hatte.

Ich wusste, dass für diesen Tag eine Versammlung angekündigt worden war, aber ich hätte nicht im Traum gedacht, dass sie so groß und so prachtvoll sein würde. Ich kann nicht beschreiben, was ich empfand beim Anblick des lebendigen Treibens. Es war wie in meiner Kindheit, als ich auf den kräftigen Schultern meines Vaters über den Markt getragen wurde, zwischen den geschäftigen Händlern hindurch. Man munkelte, Jaguar Imix habe ein Wunder vollbracht, er werde die Massen speisen, und es gebe so viel, dass wir bis zur nächsten Ernte mit Nahrung versorgt seien.

Ich sah, wie Männer große Mengen von Gewürzen und Holz und Jade zur Südtreppe des Palastes trugen. Sie brachten auch Salz und Piment und Koriander, dazu über dem Feuer getrocknete Pfefferschoten; das waren die Gewürze, die man für Truthahn- und Hirschfleisch brauchte. Auch mein Magen knurrte vor Hunger. Aber die Sklaven sagten, im Umkreis von zwei Tagesmärschen gebe es weder Hirsche noch Truthähne noch Agutis. Hatten Jaguar Imix und seine mächtigen Krieger Fleischvorräte erbeutet?

Der königliche Zwerg trat neben mich. Ich werde wiedergeben, was er sagte, damit alle wissen, zu welch niederträchtigen Machenschaften er fähig war. Er sprach:

– Wenn die Menschen dich so gut kennen würden wie ich, Schreiber, und wenn sie wüssten, dass du diese beiden Mädchen niemals anrühren würdest, würde man dir deine Konkubinen wegnehmen. Dein Leben könnte um zehntausend Sonnen verkürzt werden und das Leben dieser Mädchen dazu. Daher rate ich dir, nie wieder mein Missfallen zu erregen. –

Noch nie in meinem Leben hatte ich einen so heftigen Drang verspürt, eines Mannes Leib ausbluten zu lassen und ihm das Herz herauszureißen. Ich wünschte, es käme zu irgendeinem Tumult, der laut genug wäre, dass er Jacomos Schreie erstickte. Ich würde diesen Zwerg in Stücke reißen und irgendwo verscharren.

Doch bevor ich meine Hand gegen ihn erheben konnte, wurde ich von einem lauten Lärmen abgelenkt. Blau bemalte Gefangene, fünfzehn an der Zahl, wurden herbeigezerrt. Sie waren an eine lange Stange gebunden und an den Händen und am Hals aneinandergefesselt. Einige konnten sich kaum noch auf den Beinen halten, so lange waren sie schon unterwegs. Viele schienen halb tot zu sein.

Ich bemerkte die Tätowierungen auf dem Oberkörper eines der Gefangenen, ein Zeichen für seine vornehme Herkunft. Noch nie habe ich einen Adligen gesehen, der sich im Angesicht des Todes so ängstlich gebärdet hätte. Er schrie und wand sich, während er weitergeführt wurde, seine Füße schleiften über den Staub und wirbelten ihn hoch. Den Aufsehern war anzumerken, dass auch sie so etwas noch nie erlebt hatten. Was für ein unwürdiges Gebaren! Nur ein kranker Geist konnte die Seele dieses Adligen so versehrt haben, dass er sich nicht in sein Schicksal fügte.

Ich bahnte mir einen Weg an den Wirtschaftern, Schneidern, Konkubinen vorbei. Die Schwitzhütte, ein kuppelförmiger Raum, befindet sich ganz oben im Turm, ein hochheiliger Ort, um mit den Göttern in Verbindung zu treten und ihre Weissagungen zu empfangen. Normalerweise haben hier nur die engsten Gefolgsleute des Königs Zutritt.

Als ich das Schwitzbad betrat, sah ich, dass der König allein war, was nach meiner Erinnerung in tausend Sonnen nicht mehr vorgekommen war. Sein Gesicht war eingefallen und abgezehrt, es wirkte so wenig heilig wie noch nie zuvor. Nicht einmal ein Sklave oder eine Ehefrau von niederem Rang waren anwesend, um seine Wünsche zu erfüllen.

Der König sprach:

– Ich habe dich hierher befohlen, Paktul, damit du bei den Vorbereitungen des großen Festmahls zugegen bist und alles in den großen Büchern für die Nachwelt festhalten kannst. –

Ich ließ mich neben den glühenden Kohlen auf die Knie sinken, und die Hitze war unerträglich. Aber da es eine große Ehre war, in die Schwitzhütte gebeten zu werden, wollte ich mir nicht anmerken lassen, wie ich litt. Ich sprach:

– Erhabener, du hast recht, wir müssen in den Büchern über das große Fest schreiben, aber ich möchte dich noch einmal bitten, mir zu erklären, warum die Götter uns mit diesem üppigen Mahl segnen, wo sie uns sonst doch keineswegs wohlgesonnen sind. Ich möchte verstehen, warum wir uns heute an einem Festessen laben, aber an allen anderen Tagen Hunger leiden. –

Der König presste die Kiefer aufeinander. Seine schielenden Augen blickten an mir vorbei, als versuchte er, seinen Zorn zu zügeln. Er hielt seinen Herrscherstab fest umklammert. Doch er erhob sich nicht, als ich geendet hatte, er wies mich nicht zurecht und rief auch nicht die Wachen, damit sie mich wegschafften. Er blickte nur auf meine Hand und deutete auf meinen Ring, das Zeichen des großen Affen-Schreibers, meines Vorgängers.

Und dann sprach er:

– Der Ring, den du da trägst, der Ring des Affen-Schreibers, das Symbol deines Standes – was, glaubst du, ist dieser Ring gegen die Krone der Götter, die ich auf dem Kopf trage? Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als diese Bürde mit meinem Volk zu teilen und ihm erklären zu können, welche Zugeständnisse ich machen muss, um die Götter zufriedenzustellen. Diese Bürde zu tragen kann man nicht aus Büchern lernen, sondern nur von jenen, die mir vorangegangen sind, von meinen Vätern, die einst über unsere Terrassenstadt herrschten. Einer, der den Ring des Affen-Schreibers trägt, kann die Schwere dieser Bürde kaum ermessen. –

Mit diesen Worten erhob sich der König in seiner Nacktheit. Ich dachte, er werde mich schlagen, aber er befahl mir nur, mich zu erheben. Er schlang sich einen Lendenschurz um die Hüften und hieß mich, ihm in die Küche des Palastes zu folgen.

Man munkelt, es gebe nichts, was die königlichen Köche nicht so zubereiten können, dass es dem Herrscher mundet. Sie schicken ihre Helfer an bis zu sieben Tagesmärsche entfernte Orte, um Guaven oder Schweinepflaumen zu sammeln, die nur auf den höchsten Bergen wachsen, oder um mit den Baummenschen um Süßkartoffeln zu feilschen, die nur im Winter im Schatten eines Kapokbaumes wachsen.

Ich folgte seiner Heiligkeit, Jaguar Imix, und ich konnte die schlangengleich flink umherhuschenden Männer sehen, die, ganz auf ihre Kunst konzentriert, mit den Vorbereitungen für das große Festmahl beschäftigt waren. Jeder hatte eine andere Aufgabe. Da gab es welche, die für Soßen und Garnierungen zuständig waren und Blättchen von Manioksträuchern auf die verschiedenen Mischungen von Pfefferschotenpaste, Zimt, Kakao und Piment gaben. Andere wiederum kümmerten sich um das eigentliche Kochen und wachten über die großen Bratspieße in jeder Ecke des Raumes und brieten das Fleisch, bevor sie es zu den üppigen Eintöpfen hinzugaben, die in gewaltigen Kesseln in der Mitte der Küche schmorten.

Die offenen Feuerstellen strahlten eine Hitze ab, die fast so erdrückend war wie in der Schwitzhütte. Wir gingen weiter, und ich wusste, dass wir zum Schlachthaus gingen. Bevor wir dort eintraten, bedachte mich der König mit einem strahlenden Jadelächeln.

Er sprach:

– Gemeiner Schreiber, es kann keine bedeutendere göttliche Eingebung geben als jene, die ich vor zwanzig Monden erhielt, das göttliche Gebot Akabalams, das unsere Rettung sein und Kanuataba für immer verändern wird. Fast ein Jahr habe ich dieses Blut in mir aufgenommen, und es ist an der Zeit, mein Volk an der Quelle meiner Kraft teilhaben zu lassen. Meinen Spionen zufolge sind diese Rituale bei anderen Völkern eine Alltäglichkeit geworden. Nicht nur bei den Adligen, sondern auch beim niederen Volk. Sie haben sich viele Monde davon ernährt und brauchten nichts anderes. –

Ich folgte dem König ins Schlachthaus.

Der Boden schwamm in Blut, es durchtränkte meine Sandalen. Mehr als zwei Dutzend tote Körper hingen da, gehäutet und geköpft, ausgeweidet, ausgeblutet und zerlegt. Die Schlachter lösten das Fleisch von den Knochen der Gliedmaßen und warfen die Stücke auf einen Berg aus dicken Fleischscheiben. Mit Steinklingen wurde das Fleisch so zurechtgeschnitten, dass es gebraten werden konnte, und nicht das kleinste Stückchen wurde verschwendet. Ich begriff erst nach einem Augenblick, dass es menschliche Gliedmaßen waren, die man uns zum Verzehr vorsetzen wollte.

Es waren menschliche Körper, die an den Fleischerhaken hingen.

Der König sprach:

– Akabalam hat befohlen, dass wir uns dieses Fleisch einverleiben, weil wir so die Macht der Seelen, die in diesen Toten wohnten, in uns aufnehmen. Ich und meine engsten Getreuen haben diese Macht bereits erlangt, da wir in den vergangenen dreihundert Sonnen mehr als zwanzig Männer verzehrt haben. Jetzt ist es Akabalams Wille, dass wir die Kraft von zehn Männern in jedem einzelnen Mann unseres großartigen Volkes konzentrieren. Die Gottesanbeterin verspeist den Kopf ihres Männchens, um zu überleben. Gesegnet sei sie! Und wie sie werden wir alle das Fleisch unseresgleichen verzehren. –

Als er geendet hatte, wusste ich, dass dies kein Gott war, der bestimmt wurde, damit wir wieder auf den Pfad der Frömmigkeit zurückkehren. Das war etwas sehr viel Schrecklicheres, und niemand musste mich je lehren, es zu fürchten.


Seit meiner letzten Niederschrift ist viel geschehen in Kanuataba; sechzig Sonnen sind aus der Farbe der Wiedergeburt geboren worden und in Schwärze erloschen. Akabalam hat sich bis in jeden Winkel der Stadt verbreitet, als bekannt wurde, dass der König bei dem Festmahl auf dem großen Platz das Fleisch der Adligen unserer Feinde seinem eigenen Adel vorsetzte. Jaguar Imix hat befohlen, Akabalam zu huldigen. Kein Regen ist auf die Felder gefallen, und so sind die Kochtöpfe gefüllt mit dem Fleisch der Toten; alles wurde verwendet, jeder kleinste Fleischfetzen von den Knochen geschabt. Niemand darf seinen eigenen Sohn oder seinen Vater, seine eigene Tochter oder seine Mutter essen – das ist das einzige Verbot, das der König erließ, weil die Götter es so angeordnet haben. Aber ich habe kindliche Sklaven gesehen, die gezwungen wurden, fleischlose Mahlzeiten zuzubereiten, nur um dann geopfert zu werden wie Tiere, hin und hergewendet im würzigen Sud, den sie selbst zubereitet hatten.

Ich habe Akabalam nicht gehuldigt und habe es auch Auxilas Töchtern nicht erlaubt. Wir ernähren uns von Blättern und Wurzeln und kleinen Beeren. Schmetterling Ohnegleichen und Geflammte Feder wären schon längst Nahrung für die Massen geworden, wenn meine Stellung sie nicht schützen würde. Die Waisen in der Stadt gehörten zu den Ersten, die geopfert wurden, aber in meiner Höhle sind die beiden Mädchen in Sicherheit. Mein Krafttier wacht über sie. Ich habe ihnen verboten, die Höhle zu verlassen, weil sich viele grausame Wilde auf den Straßen herumtreiben, die nicht zögern würden, ein Kind zu töten, um es zu essen.

Der König hat sich tief in den Palast zurückgezogen, wo er auf eine Eingebung der Götter wartet. NurJacomo, der Zwerg, sowie die Königin und der Prinz dürfen zu ihm. Der Rat wurde aufgelöst. Jaguar Imix verkündete, kein Mann außer ihm könne den Ruf der himmlischen Götter vernehmen, und im Rat habe es zu viele falsche Propheten gegeben. Jeden Tagbei Sonnenaufgang steht Jacomo, der Zwerg, auf den Stufen des Palastes, wo er die Befehle des Königs verliest und die Opfer, die dargebracht werden müssen, um die Götter zufriedenzustellen.

Jeden Tag bei Sonnenuntergang sind die Opfer dargebracht, sind Männer und Frauen und Kinder, unter ihnen auch adlige, auf den Opferaltar gezerrt worden, wo sie von den Scharfrichtern getötet, wo ihnen das Herz und die Eingeweide herausgerissen wurden, bevor sie den Massen als Nahrung dienen.

Doch mit jeder Opferung wachsen in Kanuataba die Zweifel an der Macht des Königs. Ich habe das Murren im Volk vernommen. Jeder hat Angst, er könnte der Nächste sein, der geopfert wird. Jaguar Imix habe seine besondere Verbindung zu den Göttern verloren, wird gemunkelt, ein Fluch habe seinen Geist verwirrt.

Und was hat Akabalam uns gegeben? Es ist kein Regen auf die Felder gefallen, nichts hat den Boden genährt, damit die Frucht wachsen könnte, von der wir leben.


So vieles hat sich verändert. Grauen und Schrecken überall! Der Tod umgibt uns, er hält die Stadt in seiner kalten schwarzen Umarmung gefangen. Nach der letzten Zählung sind über tausend Menschen tot und noch viel mehr sind verflucht und warten auf den Tod. Ich hatte recht mit meinen Befürchtungen. Der Fluch von Akabalam hat viele befallen, er saugt den Geist aus ihnen heraus, sodass sie nicht mehr imstande sind, in die Traumwelt hinüber zugleiten, um in Verbindung mit ihren Göttern zu treten.

Verflucht sind jene, die sich gegen ihre Mitmenschen vergehen, und die Zahl der Verfluchten wird mit jedem Sonnenwechsel größer. Die Gewalt regiert in den Straßen bei Tag und bei Nacht; einst friedliche Menschen gehen aufeinander los, weil sie die Geister in ihren Träumen nicht mehr heraufzubeschwören vermögen, und prügeln sich um die wenigen noch verbliebenen kostbaren Dinge auf den Märkten.

Jaguar Imix und sein Gefolge haben viele Monde lang im Einvernehmen mit den Göttern Menschenfleisch verzehrt. Doch welcher Gott sie auch immer beschützt haben mag, er beschützt sie nun nicht mehr: Der König ist verflucht, seine Adligen sind verflucht, und Akabalam ist über unser Land hinweggefegt und hat alles verwüstet.

Akabalam hat Menschen in Ungeheuer verwandelt, genau wie ich es befürchtet habe. Wenn wir träumen, befinden wir uns im Einklang mit den Göttern, wir halten Zwiesprache mit unseren Krafttieren, wir überantworten uns den Göttern, wie wir es im Tode tun. Aber die Verfluchten können nicht träumen, sie können sich weder in die Obhut der Götter begeben noch Verbindung zu ihrem wayob aufnehmen, das über sie wacht.


Hier ist der Bericht meines letzten Aufenthalts im großen Palast, wo sich einst die Männer des königlichen Rates versammelten. Ich kam bei Nacht, ich trug den Ara auf den Schultern. Für einen frommen Mann war es zu gefährlich, sich am helllichten Tag auf den Straßen zu zeigen. Ich machte mich auf, und nur der Mond wies mir den Weg.

Ich sorgte mich um den Prinzen, Rauch Lied, meinen Schüler. Ich wollte ihn aus dem Palast bringen. Dass der Junge nicht verflucht ist, beweist, wie verwirrt sein Vater ist und wie wankelmütig im Glauben, denn seinem eigenen Sohn gab er kein Menschenfleisch zu essen.

Rauch Lied ist nicht das einzige Kind, das die Geschichten und die Legende der Terrassenstadt weitergeben wird. Geflammte Feder und Schmetterling Ohnegleichen warteten in meiner Höhle auf mich. Wir wollten in den Wald an dem See fliehen, den mein Vater einst gesucht hatte. Auxilas Töchter haben mein Verbot beachtet und kein Menschenfleisch gegessen. Wir werden uns von dem ernähren, was das Land hergibt, und wir werden sicher sein vor den Traumlosen und vor jenen, die ihnen ins Verderben folgen werden.

Seit zwanzig Sonnen war ich weder im Palast gewesen, noch hatte ich den König gesehen. Alles, was ich sah und erlebte, wirkte seltsam falsch, und ich hatte den merkwürdigen Verdacht, dass diese Lebensweise im Palast und in Kanuataba vorbei war, dass der Schein nicht länger aufrechterhalten werden konnte. Es waren keine Wachen zu sehen, und ich gelangte unbehelligt zu den königlichen Gemächern.

Ich fand den Prinzen nicht in seinem Zimmer, und so ging ich weiter zu den Gemächern des Königs. Der Prinz musste zu seinem Vater gegangen sein, und der Gedanke versetzte mich in Angst, weil ich nicht glaubte, dass der König ihm erlauben würde, den Palast zu verlassen.

Kühn betrat ich die Kammer des Königs.

Der Prinz kniete neben der Bettstatt seines Vaters. Da wusste ich, dass Ah Puch den Geist des Königs ins Jenseits getragen hatte, wo er mit anderen Königen die Zyklen der Zeit durchwandern würde, wie es bestimmt ist. Kein Atem stieg von seinen Lippen empor, kein Schlag seines Herzens war zu spüren. Rauch Lied berührte den Leichnam nicht, so wie ich es ihn gelehrt hatte. Er schwenkte nur die Räucherstäbchen, die einen bitteren Duft verströmten, um den Körper herum.

Rauch Lied blickte auf und sah mich an. Tränen standen ihm in den Augen.

Plötzlich sprach eine Stimme hinter uns:

– Dies ist die Kammer des Königs, seine ganz allein. Dein unbefugtes Eindringen hier wird dir nicht vergeben werden, gemeiner Schreiber. –

Ich drehte mich um. Der Zwerg stand zehn Schritt hinter mir.

Ich sprach:

– Viel zu lange hast du deine Lügen auf den Straßen der Stadt verbreitet und das Volk von Kanuataba mit deiner Zunge verführt. Sie sollen keine Lügen mehr hören. Sie sollen erfahren, dass der König tot ist! –

– Wenn du irgendjemandem davon erzählst, werde ich dafür sorgen, dass alle erfahren, dass du den Beischlaf mit Auxilas Töchtern nicht vollzogen hast und dass sie deshalb nicht deine Konkubinen sind und du keinen Anspruch auf sie erheben kannst. Ich werde sie mir nehmen, und sie werden erblühen und meine Söhne gebären! Ich werde die Wachen des Königs schicken, damit sie sie holen und, wenn es sein muss, mit Gewalt hierher bringen! –

Da erhob ich meinen Gehstock und hieb ihn dem Zwerg über den knollenförmigen Kopf. Ich traf ihn mit der Jadespitze, sodass das Blut aus ihm herausfloss. Der Zwerg schrie auf, als er zu Boden fiel, und flehte den Prinzen um Hilfe an.

Rauch Lied rührte sich nicht.

Der Zwerg raffte sich auf, stürzte sich auf mich und schlug die Zähne in mein Bein. Ein Schmerz wie Feuer raste durch mich hindurch. Ich stach ihm mit der Spitze meines Jademessers ein Auge aus, und er ließ von mir ab. Ich rammte ihm die Jadeklinge in den Bauch, so fest ich konnte, und löschte sein Leben aus.

Dann wandte ich mich zu dem Prinzen hin.

– Geh! Ich bleibe hier. Nimm Geflammte Feder und Schmetterling Ohnegleichen und flieh mit ihnen aus der Stadt! –

Als der Prinz das vernahm, sprach er mit der Entschiedenheit, die seine neue Macht ihm verlieh:

– Als oberster ajaw dieser Stadt befehle ich dir, mit uns zu kommen, Paktul! Ich werde dich zum Hüter des Tages machen, wo immer wir hingehen werden. Das befehle ich dir als dein König! –

Aber ich wusste, dass die noch verbliebenen königlichen Wachen mich verfolgen würden. Es würde sie nach meinem Blute dürsten, und ich wollte das Leben der Kinder nicht aufs Spiel setzen. Ich sprach zum Prinzen:

– Dass du mir die Ehre erweisen und mich zum Hüter des Tages machen würdest, ist mir Anerkennung genug, Rauch Lied, und dieser Ruhm wird genügen, um mir Einlass zu verschaffen in die heilige Welt der Schreiber dort oben. Aber du musst mich hier zurücklassen, damit Itzamnaaj, der heilige Gott des Himmels, dich beschützen kann. –

Er sprach:

– Heiliger Lehrer, die Abtrünnigen kommen! Ich kann ihre Schreie hören! Als dein neuer König befehle ich dir, mir zu folgen! –

Da sprach ich zum Prinzen:

– Dann komm, mein König, ich will dich dorthin führen, wo meine Familie, die ich verloren habe, einst lebte, dorthin, wo all jene lebten, die vor mir waren. –

Heiliger Itzamnaaj, möge ich sie an den sicheren Ort führen, verborgen im tiefsten Wald, wo einst meine Vorfahren lebten und für alle Zeit leben werden. Wo wir zu den wahren Göttern beten und ein neues Volk hervorbringen werden, das den nächsten großen Zyklus einleiten wird. Rauch Lied wird Geflammte Feder zu seiner Frau machen, und mit dieser Verbindung soll ein fruchtbarer neuer Anfang gemacht, neue Menschen sollen erschaffen, ein neuer Zeitzyklus eingeleitet werden. Ich kann nur von den Generationen träumen, die Rauch Lied mit Geflammte Feder und deren Schwester zeugen wird, Männer, die gerecht und tugendhaft über ihr Volk herrschen werden. Und das Volk von Kanuataba wird weiterleben.

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