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Es war kurz nach sechs Uhr morgens, als Stanton das Haus verließ, um an einer Telefonkonferenz mit hochrangigen Verwaltungsbeamten aus L.A., Atlanta, Washington und anderen Städten teilzunehmen. Davies und Thane gingen unterdessen ein letztes Mal ihren gemeinsamen Plan in allen Einzelheiten durch. Die Sonne stieg nur langsam höher am Horizont und hatte die Luft über dem Meer noch nicht aufgeheizt. Es war kalt auf der menschenleeren Strandpromenade, und Stanton war mit seinem langärmeligen Hemd und der Jeans viel zu dünn angezogen. Das Knattern eines unsichtbaren Hubschraubers irgendwo in der Ferne war das einzige Geräusch, das mit dem Rauschen der Brandung wetteiferte.

Stanton blendete die routinemäßige Telefonschaltung aus, weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte. Ein paar Männer saßen unten am Strand. Alle trugen Schutzbrillen, und sie hatten ihre Liegestühle im Kreis aufgestellt. Im ersten Moment war Stanton völlig irritiert. Er konnte sich nicht vorstellen, wer so dreist war, gegen die Ausgangssperre zu verstoßen. Dann bemerkte er, dass sie genau dort saßen, wo sich die Anonymen Alkoholiker meist bei Sonnenaufgang trafen. Stanton fand es seltsam tröstlich zu wissen, dass einige Verabredungen eingehalten wurden, ganz egal, was passierte.

»Die Versorgungsbetriebe stoßen an ihre Grenzen«, sagte der Vertreter der FEMA, der Federal Emergency Management Agency, jetzt am Telefon. »Ohne Elektrizität keine Trinkwasserversorgung.«

In Los Angeles drohte schon seit Jahrzehnten eine Energiekrise. Jetzt, wo die halbe Stadt nicht mehr schlafen konnte vor Angst, waren Lampen, Fernseher, Computer rund um die Uhr eingeschaltet. Es kam immer öfter zu Stromausfall, weil das Netz überlastet war. Der Wasserverbrauch war ins Astronomische gestiegen. Es war nicht auszuschließen, dass binnen einer Woche kein Wasser mehr aus den Hähnen kam.

»Was machen wir mit den Toten?«, warf Stanton ein, obwohl er nicht an der Reihe war. »Überall in der Stadt könnten Leichen in den Häusern verwesen.«

»Wir müssen sie zu einer zentralen Sammelstelle schaffen«, antwortete jemand. Er erkannte die Stimme nicht; an jeder Entscheidung waren inzwischen unzählige Bürokraten beteiligt.

»Wir reden hier möglicherweise von ein paar Tausend in den nächsten Tagen«, sagte Stanton. Im gesamten Stadtgebiet waren über achttausend Fälle von VFI registriert worden. »Sie haben weder die Ausrüstung für eine potenziell tödliche Seuche dieses Ausmaßes, noch könnten Sie für die Sicherheit der Arbeiter garantieren.«

»Nun, wir müssen irgendetwas tun«, mischte sich Cavanagh ein. »Und es ist ganz unglaublich, dass ich das jetzt sage, aber vielleicht müssen wir die Leute bald auffordern, die Leichen in der Badewanne mit Säure oder Lauge zu übergießen, damit sie sich auflösen.«

Stantons Chefin nahm von einem Postamt in East L.A. aus an der Konferenz teil. Die Postfiliale war aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen worden; jetzt hatte das CDC dort seine Kommandozentrale eingerichtet. Stanton konnte an Cavanaghs Stimme hören, wie sehr sie das alles belastete. Bis jetzt hatten sich zweiundvierzig Beamte und Krankenschwestern des Seuchenzentrums mit VFI infiziert, und Stanton kannte Cavanagh gut genug, um zu wissen, dass sie sich die Schuld daran gab. Sie hatte viele dieser Mitarbeiter persönlich ausgesucht und nach L.A. geschickt, damit sie bei der Seuchenbekämpfung halfen.

Als die Konferenz zu Ende war, bat Stanton seine Chefin, in der Leitung zu bleiben. Er, Davies und Thane würden die Antikörper in den nächsten vierundzwanzig Stunden so oder so einsetzen. Es war alles genauestens geplant. Aber wenn es ihm gelänge, Cavanagh davon zu überzeugen, dass das der richtige Weg war, würde ihnen eine größere Testgruppe zur Verfügung stehen und sie würden nicht gegen das Gesetz verstoßen.

»Emily, die Quarantäne wird durchlässig«, sagte er. »Bald wird man in jeder Stadt in Amerika diese Diskussion über Leichen und Badewannen führen müssen. Wir müssen über alternative Therapien reden.«

»Wir haben schon darüber geredet, Gabe.«

»Aber ich muss es noch einmal sagen. Wenn wir sofort anfangen, könnten wir in kürzester Zeit eine Antikörpertherapie entwickeln. In ein, zwei Tagen.« Er warf einen Blick über die Schulter auf sein Haus, wo bereits eifrig an dem Wirkstoff gearbeitet wurde. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, wie Cavanagh reagieren würde, wenn sie es erfuhr. Aber falls die Patienten auf die Therapie ansprechen würden, hätte Cavanagh gar keine andere Wahl, als einem Versuch in großem Umfang zuzustimmen.

Der Hubschrauber kam näher, er kreiste irgendwo hinter Stanton.

»Ich werde mit dem Boss reden«, sagte Cavanagh schließlich. »Vielleicht kann er das Weiße Haus überreden, ein Dekret zu erlassen, damit die FDA auf das normale Zulassungsverfahren verzichtet.«

»Die FDA wird sich Zeit lassen. Wie üblich.«

»Wir wollen alle das Gleiche, Gabe«, sagte Cavanagh resigniert und beendete das Gespräch.

Stanton war frustriert. Sie ließ ihm keine Wahl. Als er ins Haus zurückwollte, klingelte sein Handy erneut.

Er nahm das Gespräch an. »Haben Sie etwas gefunden?«

»Dr. Stanton? Hier ist Chel Manu.«

»Ja, ich weiß. Also? Haben Sie noch etwas gefunden?«

»Sorry. Ja. Ja, wir haben noch etwas gefunden. Es könnte … hilfreich sein. Es ist richtig gut.«

Es war eine willkommene Abwechslung, eine lebhafte, ja sogar zuversichtliche Stimme zu hören. »Gut ist gut«, erwiderte er. »Erzählen Sie.«

Als sie ihm von ihrer Entdeckung erzählte – dass sich der ermittelte Längengrad der antiken Stadt offenbar in unmittelbarer Nähe zu dem Dorf befand, in dem sie geboren worden war –, wusste Stanton nicht, was er davon halten sollte. Aber hatte er überhaupt eine Wahl? Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen. Jeder sagte ihm, sie wisse genau, was sie tue. Und dennoch kam sie immer wieder mit Geschichten daher, von denen eine abenteuerlicher war als die andere. Alles in ihrer Arbeit und in ihrem Leben schien stets zum Ausgangspunkt zurückzuführen.

»Und Ihnen war nicht klar, dass Volcy aus Ihrem Dorf kam?«, fragte Stanton ungläubig.

»Wir wussten, dass er aus Petén stammte. Aber an Kiaqix habe ich nicht im Traum gedacht. Und Volcy hatte Angst. Auf meine Fragen nach seinem Dorf hat er immer ausweichend geantwortet.«

»Sind das alles nur Vermutungen oder haben Sie handfeste Beweise für Ihre Geschichte?«

»Es gibt kein Telefon in Kiaqix, aber ich habe mit einem Cousin von mir gesprochen, der in Guatemala City wohnt. Er fährt regelmäßig nach Kiaqix, um seinen Vater zu besuchen. Ich habe ihn gebeten, sich im Internet auf einer Nachrichtenwebsite das Foto von Volcy anzusehen, das an die Medien rausgegeben wurde, und er hat ihn wiedererkannt.«

Der Hubschrauber knatterte jetzt direkt über Stanton. Er blickte auf und sah, dass es nicht nur einer war, sondern zwei. Sie flogen ziemlich tief und schienen direkt auf den Strand zuzuhalten. Der eine war groß und sah aus wie eine Militärmaschine. Der andere war kleiner – vier Plätze unter einer Glashaube. Sekunden später setzten sie nacheinander auf dem Boden auf, etwa hundert Meter den Strand hinauf. Das war eines der merkwürdigsten Bilder, die Stanton an der Strandpromenade je gesehen hatte, und das wollte verdammt viel heißen.

Die Männer von dem AA-Treffen sprangen auf und hielten schützend die Hände vors Gesicht, als der Sand von den Rotoren aufgepeitscht wurde. Fünf mit Maschinengewehren bewaffnete Männer im Tarnanzug sprangen aus dem Hubschrauber der Nationalgarde und rannten zu dem kleinen Mehrzweckhubschrauber. Sie zerrten den jungen Piloten, einen Mann um die sechzig und eine rothaarige Frau, die höchstens fünfunddreißig sein konnte, aus der Maschine. Der ältere Mann trug einen Blazer und eine Hose mit Bügelfalte, als ob er zu einem geschäftlichen Termin unterwegs wäre. Die Rothaarige hatte immer noch ihre Sonnenbrille auf. Sie kreischte laut, als ihr und den beiden Männern Handschellen angelegt wurden. Alle drei wurden festgenommen. Stanton konnte es nicht fassen: Da versuchten ein paar reiche Typen, sich den Weg aus der Quarantäne zu erkaufen.

»Dr. Stanton?«

Er konzentrierte sich wieder auf sein Telefonat. »Ja. Okay. Wir müssen herausfinden, wann Volcy das letzte Mal im Dorf gesehen wurde und in welche Richtung er gegangen ist, um diese … versunkene Stadt zu suchen.« Ein Atlantis im Dschungel als Infektionsherd war nicht die Antwort, die er sich erhofft hatte. Aber etwas anderes hatten sie nicht.

»Wie gesagt, es gibt dort kein Telefon. Und mit der Post kann es Wochen dauern. Wir reden hier wirklich vom tiefsten Dschungel.«

»Dann schicken wir ein Flugzeug hin.«

»Ich dachte, die Guatemalteken verweigern die Zusammenarbeit.«

Stanton presste die Lippen aufeinander. Jetzt, wo Tausende infiziert waren, würde es in der Tat schwer werden, irgendjemanden in den Staaten, geschweige denn in Guatemala, davon zu überzeugen, dass ihre einzige Chance darin bestand, ein Team auf die Suche nach einer Ruinenstadt im Dschungel zu schicken. »Versuchen Sie, die genaue Position zu ermitteln, und wir werden sie schon dazu bringen.«

»Ich werde mein Möglichstes tun«, versprach sie.

»Das weiß ich, Chel.« Er sprach ihren Namen das erste Mal laut aus, so wie er es von ihr gehört hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren: mit einem weichen »Sch«. Eine Sekunde lang dachte er, er habe es vermasselt, aber sie sagte nur: »Ich melde mich wieder, Gabe.«

Eine Brise wehte vom Meer heran, und der Dunst dämpfte die Strahlen der aufgehenden Sonne. Als Stanton mit einem Tastendruck das Gespräch beendete, hatte der Militärhubschrauber mit den drei Festgenommenen an Bord schon wieder abgehoben. Nur der kleine Mehrzweckhubschrauber stand noch da. Zwei der Typen von den AA spähten in das leere Cockpit; wahrscheinlich überlegten sie, ob sie das Ding irgendwie in die Luft kriegen könnten.

Als einer seinen über und über tätowierten Arm durchs Fenster streckte, erinnerte sich Stanton an jemanden. Er drehte sich um und ging eilig die Promenade hinunter. An einigen Geschäften waren die Metallrollläden aufgestemmt worden und hatten sich aufgerollt wie altmodische Sardinenbüchsen. Der Ocean Front Walk war für Fahrzeuge gesperrt, aber jetzt musste Stanton alle paar Meter um eine verlassene Schrottkiste herumgehen. Ein Pick-up war durch eine Ziegelmauer in einen Laden gerast. Der Rasen zwischen dem Fußweg und dem Strand war übersät mit Dutzenden gelben T-Shirts mit dem Aufdruck VENICE, WO KUNST UND VERBRECHEN SICH TREFFEN.

Als er zu der Freak Show kam, sah Stanton, dass sich am Eingang etwas bewegte. Ein Leguan mit zwei Köpfen bewegte sich auf den Stufen ruckartig hin und her. Plünderer hatten die Glastüren eingeschlagen, sodass die Tiere hatten entkommen können.

Der Leguan huschte zurück ins Haus. Stanton lief hinterher.

Drinnen war alles zerschlagen.

Es stank nach Formaldehyd, weil die Gläser mit den konservierten Kadavern von den Regalen gefegt worden und zerborsten waren. Eine Viper mit zwei Köpfen lag tot unter einem umgestürzten Gestell. Von den anderen Tieren keine Spur. Stanton rannte in das kleine Büro. Monster und Electric Lady waren nicht da. Der Laptop, den sein Freund immer dabeihatte, war auf dem Schreibtisch zerschmettert worden, und Monsters Windjacke lag verlassen auf der schmalen Pritsche.

***

Benommen machte sich Stanton auf den Heimweg. Er öffnete die Haustür und zwängte sich zwischen Laborgeräten und Kabelsträngen hindurch, die an den Generator angeschlossen waren, den sie hergeschafft hatten. Auf dem Boden standen Abtropfgestelle und Zentrifugen, daneben Möbelstücke, über die dünne Plastikplanen geworfen worden waren.

Davies und Thane standen in der Küche und tranken den letzten Kaffee. Die Kaffeemaschine hatten sie ebenfalls an den Generator angeschlossen. »Wo hast du denn gesteckt?«, fragte Davies. »Eine Runde surfen? Eis essen? Das gesalzene Karamelleis von N’ice Cream soll köstlich sein, hab ich gehört.«

Stanton achtete nicht auf ihn. »Ist zufällig irgendwer hier gewesen, während ich weg war?«

Monster wusste, wo Gabe wohnte, weil dieser ihn einmal zu einem Straßenkunstevent eingeladen hatte. Falls sein Freund also irgendwie in Schwierigkeiten steckte …

Aber Davies schüttelte den Kopf. »Wen hast du erwartet? Maskierte Kinder, die etwas Süßes wollen und dir Saures geben? Na ja, ich seh wahrscheinlich wirklich so aus, als hätte ich mich für Halloween verkleidet.« Er trug ein altes Button-down-Hemd und eine zerknitterte Khakihose, beides von Stanton, weil er seine eigenen Sachen in die Waschmaschine geworfen hatte. Davies’ ungewohnt saloppe Aufmachung war wie das letzte Zeichen dafür, dass die Welt ihrem Untergang entgegenging.

Stanton wandte sich zu Thane hin. »Alles in Ordnung?«

»Alles bestens. Von mir aus kann’s losgehen.«

»Wo wir gerade davon sprechen«, warf Davies ein. »Ich hab einen winzigen Lichtblick für dich. Ich glaube, die Antikörper sind früher so weit als gedacht.«

Stanton nickte. »Schauen wir mal nach.«

Das Hochleistungsmikroskop im Esszimmer wurde von einem zweiten Generator gespeist. Stanton blickte durch das Okular. Nachdem sie die Mäuse mit VFI infiziert hatten, hatten sie die von den Tieren gebildeten Antikörper zusammen mit VFI-Erregern in ein Reagenzglas gegeben. Das Ergebnis war verblüffend. Die Umwandlung der Eiweißmoleküle in pathogene Proteine hatte sich in jeder Probe verlangsamt oder war sogar gestoppt worden.

»Jetzt muss sie sie nur noch in die Infusionsflaschen am Bett ihrer Freunde injizieren und sich nicht dabei erwischen lassen«, meinte Davies mit einer Kopfbewegung zu Thane hin.

Thanes Bedingung für die Teilnahme an dem illegalen Experiment war, dass der Versuch an ihren erkrankten Freunden und Kollegen vom Presbyterian Hospital durchgeführt werden sollte. Sie wusste, dass sie, falls die Therapie nicht anschlug, das Leben ihrer Freunde gefährdete. Sie wusste aber auch, dass dies die einzige Chance auf Heilung war, die sie hatten.

»Wie lange wird es dauern, bis wir wissen, ob es funktioniert?«, fragte sie.

»In vierundzwanzig Stunden müssten wir ein erstes Ergebnis haben«, antwortete Stanton.

»Und wenn es nicht funktioniert?«

»Ich weiß nicht, wie ihr Yankees das seht«, meinte Davies, »aber ich für meinen Teil werde einen Weg suchen, dieses gottverlassene Land schleunigst zu verlassen.«

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