15
Die Schnellstraße 10 war nahe Cloverfield gesperrt worden, damit die Nationalgarde Lebensmittel und andere Hilfsgüter in die westlichen Stadtteile transportieren konnte. Stanton fuhr auf Nebenstraßen, vorbei an verlassenen Einkaufszentren, Grundschulen und Autowerkstätten. Obwohl kaum Fahrzeuge unterwegs waren, ging es nur langsam voran, weil die Nationalgarde im Abstand von ungefähr einer Meile Kontrollpunkte errichtet hatte. Der Gouverneur von Kalifornien hatte dem umstrittenen Plan von Cavanagh und Stanton zugestimmt und den Notstand ausgerufen, damit erstmals in der Geschichte der USA eine ganze Stadt unter Quarantäne gestellt werden konnte.
Die Nationalgarde sicherte die Grenzen: vom San Fernando Valley im Norden bis zu den San Gabriel Mountains im Osten und Orange County im Süden. Es durften keine Maschinen starten oder landen. Im Westen, auf dem Pazifik, hatte die Küstenwache fast zweihundert Boote im Einsatz, um den Hafen und die Küste zu überwachen. Bisher hatten die Einwohner von Los Angeles erstaunlich gelassen auf die Verhängung der Quarantäne reagiert und sich so kooperativ gezeigt, dass sogar die optimistischsten Politiker in Sacramento und Washington überrascht waren.
Darüber hinaus wurde jeder, der sich in den vergangenen Tagen zu Besuch in L.A. aufgehalten hatte, sowie Einwohner, die die Stadt noch vor Verhängung der Quarantäne verlassen hatten, vom Seuchenzentrum auf Krankheitserreger getestet. Die Mitarbeiter des CDC machten jedes Flugzeug ausfindig, das in letzter Zeit vom Flughafen in L.A. gestartet war, spürten Bahnreisende anhand von Kreditkartenquittungen auf und ermittelten viele, die auf der Straße unterwegs waren, mittels der Mautstellen und durch Fotos von Radargeräten. Bis jetzt waren acht Fälle in New York, vier in Chicago und drei in Detroit aufgetreten; hinzu kamen die fast elfhundert Infizierten im Großraum Los Angeles.
Stanton und die anderen Ärzte konnten für die Erkrankten nichts weiter tun, als ihnen ein möglichst angenehmes Umfeld zu schaffen. Bei den meisten Infizierten traten nach einer kurzen Inkubationszeit Schlafstörungen und starkes Schwitzen auf, dann kamen krampfartige Anfälle, Fieber und Insomnie dazu. Patienten, die drei Tage oder länger nicht mehr geschlafen hatten, waren am schwierigsten zu überwachen. Sie litten an Bewusstseinstrübung und hatten Panikattacken, schließlich kam es, wie auch bei Volcy und Gutierrez, zu Halluzinationen und zu gewalttätigen Ausbrüchen. Innerhalb einer Woche wären sie wahrscheinlich tot, das wusste Stanton, und er konnte nichts dagegen tun. Rund zwanzig Infizierte waren bereits gestorben.
Stanton war auf dem Weg nach Venice. Der Anblick der Army-Geländewagen in Tarnfarben und der Männer und Frauen in gelbbrauner Uniform und mit umgehängtem Maschinengewehr auf dem Lincoln Boulevard hatte etwas zutiefst Verstörendes. Während Stanton vor dem Kontrollpunkt wartete, warf er einen Blick auf sein Handy, wo auf dem Display die aktualisierte Liste der Namen von Infizierten erschien. Die Opfer stammten aus jeder ethnischen Gruppe, jeder sozialen Schicht und praktisch jeder Altersgruppe. Das Tragen einer Brille hatte einige vor Ansteckung geschützt, aber viele, die eine Brille trugen, hatten sich trotzdem angesteckt. Die Einzigen, die offenbar immun waren gegen VFI, waren Blinde, deren Sehnerven keine Verbindung mehr zum Gehirn hatten, und Neugeborene. Die Sehnerven waren bei Babys noch nicht entwickelt, und solange die Hülle, die sie umgab, heranreifte, konnte der Krankheitserreger nicht ins Gehirn gelangen. Dieser Schutz blieb allerdings nur bis zum sechsten Lebensmonat erhalten, sodass das kein Trost für Stanton war.
Er fuhr mit seinem Audi im Schritttempo auf den Kontrollpunkt zu. Auf der Liste standen die Namen von Ärzten und Schwestern, die er im Presbyterian Hospital kennengelernt hatte, sowie die von zwei Mitarbeitern des CDC, die er kannte und mochte.
Dann entdeckte er auch die Namen von Maria Gutierrez und ihrem Sohn Ernesto.
Stanton wusste, dass er eigentlich in der Lage sein sollte, mit dem Tod umzugehen. Und er hatte in seiner Laufbahn schon einige wirklich schlimme Fälle erlebt. Aber auf das hier war er nicht vorbereitet. Er brauchte jemanden, der ihn erdete, und normalerweise hätte er Nina angerufen. Nach ihrem letzten Besuch bei ihm war sie wieder aufs Meer hinausgefahren, und als er sie angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass VFI durch die Luft übertragen werden konnte, war ein unbehagliches Schweigen entstanden. Im Grunde hätte Stanton sie anweisen müssen, sofort an Land zu kommen und sich testen zu lassen. Doch da sie anscheinend keinerlei Symptome hatte, war es ihm lieber, wenn sie weit, weit weg blieb. In Bussen und öffentlichen Toiletten und in fast jedem Krankenhaus der Stadt waren pathogene Prionen gefunden worden, und nicht einmal den auf die Beseitigung gefährlicher Stoffe spezialisierten Reinigungsfirmen war es gelungen, die Kontaktflächen zu dekontaminieren.
Sein Handy klingelte. »Stanton.«
»Hier ist Chel Manu.«
»Dr. Manu! Sind Sie schon weitergekommen?«
Sie erzählte ihm von dem Vater-Sohn-Glyphenpaar, von der Entdeckung, die sie gemacht, und von dem ersten Teil der Handschrift, die sie übersetzt hatten. Stanton konnte ihr zwar nicht ganz folgen, aber ihre Klugheit beeindruckte ihn ebenso sehr wie die Tatsache, dass sie eine so komplizierte Sprache beherrschte und über so umfangreiches Geschichtswissen verfügte. Er hörte auch die Leidenschaft in ihrer Stimme. Er hatte zwar keinen Grund, dieser Frau zu trauen, aber die Energie, die sie ausstrahlte, hob seine Stimmung.
»Im ersten Teil haben wir keine näheren geografischen Angaben gefunden«, fuhr sie fort. »Aber die Schilderung der Ereignisse ist sehr detailliert, und deshalb hoffen wir, dass der Schreiber uns später Genaueres über seinen Aufenthaltsort verraten wird.«
»Wie lange werden Sie für den ganzen Text brauchen?«, wollte Stanton wissen.
»Möglicherweise ein paar Tage.«
»Wie lange haben Sie für diesen ersten Teil gebraucht?«
»Etwa zwanzig Stunden.«
Stanton warf einen Blick auf die Uhr. Dann hatte Chel durchgearbeitet genau wie er. »Haben Sie Schlafstörungen?«
»Ich bin eingenickt und habe ein paar Minuten gedöst«, antwortete sie. »Ich habe bis jetzt gearbeitet.«
»Haben Sie Familie hier in der Stadt?«
»Nur meine Mutter, und der geht’s gut. Und Sie? Was ist mit Ihrer Familie?«
»Ach, ich habe nur einen Hund. Und ihm und meiner Exfrau geht es auch gut.« Stanton fiel auf, dass ihm das Wort »Exfrau« so leicht über die Lippen gekommen war wie schon lange nicht mehr.
Chel seufzte. Dann sagte sie: »Majun wonombam.«
»Was bedeutet das?«
»Das ist ein Gebet der indígenas und bedeutet so viel wie: Möge keiner zurückbleiben.«
Stanton schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Rufen Sie zuerst mich an, wenn Sie irgendwelche Symptome haben.«
***
Auf der Strandpromenade konnte man nur selten das Rauschen der Brandung hören, aber an diesem Abend waren die Wellen das Einzige, was Stanton hörte. Die lärmenden Jugendlichen, die normalerweise vor den Haschläden herumlungerten, waren ebenso verschwunden wie die ausgelassen Feiernden unten am Strand. Stanton stellte seinen Wagen unter dem gigantischen Wandgemälde von Abbot Kinney ab. Der Boardwalk war wie leer gefegt. Die Polizei hatte die Leute nach Hause oder in eine Obdachlosenunterkunft geschickt.
Doch wenn es darum ging, sich zu verstecken, gehörten die Leute vom Ocean Front Walk zu den erfinderischsten in der Stadt. Stanton nahm die sechs Packungen mit Schutzbrillen, die er aus dem Labor mitgenommen hatte, und steckte sie in seine Tasche. Er hatte zwar tausend Dinge zu erledigen, aber die Freaks vom Boardwalk waren seine Freunde und Nachbarn. Und wenn er etwas für sie tun konnte, auch wenn es noch so lächerlich wenig war, dann wollte er es tun. Das Gefühl der Ohnmacht war schon groß genug.
Als Erstes ging er zu den öffentlichen Toiletten, wo er in einer der Kabinen ein Pärchen entdeckte. Nachdem er den beiden zwei Schutzbrillen in die Hand gedrückt hatte, setzte er seinen Weg fort. In einer Nische zwischen zwei Tattoo-Läden stieß er auf einen Typen, den er flüchtig kannte. Er nannte sich der »Lustigste Säufer der Welt« und sang meistens »Lasst uns froh-ho und betrunken sein«. An diesem Abend sagte Marco nichts, und er sang auch nicht, sondern lachte nur dümmlich, als Stanton einen Augenschutz vor ihm auf den Boden legte.
Hinter dem jüdischen Seniorenzentrum stand ein VW-Bus. Stanton öffnete die Tür und entdeckte vier Teenager, die einen Joint rauchten. »Willst du auch?«, fragte einer und hielt ihm die Haschzigarette hin.
Stanton lehnte mit einer Handbewegung ab. »Da, setzt die auf, zu eurem eigenen Schutz«, sagte er und ließ ihnen ein paar Schutzbrillen da.
Vor dem Haus des einzigen Schönheitschirurgen in Venice blieb er stehen und betrachtete das Graffiti, das mittels einer Schablone auf das Gesicht von BOTOX ON THE BEACH gesprüht worden war. Er hatte dieses Zeichen schon öfter hier in der Gegend gesehen, aber er hatte nie verstanden, was es mit 2012 zu tun hatte:
Verwirrt ging er weiter in Richtung Süden. Er meinte sich zu erinnern, dass eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein griechisches und kein Maya-Symbol war. Aber in Zeiten wie diesen warfen die Leute alles in einen Topf und stellten die unglaublichsten Verknüpfungen her.
Das Metallgitter am Groundwork Coffee war heruntergelassen, und im Fenster hing ein kleines Schild: GESCHLOSSEN, SOLANGE WIR ES SAGEN, VERDAMMTE SCHEISSE. In diesem Moment fiel Stanton ein, dass er jemanden vergessen hatte. Er machte kehrt. Wenige Minuten später stieg er ein paar Häuserblocks weiter nördlich die Treppe zur Venice Beach Freak Show hinauf und klopfte auf das gelbe Fragezeichen, das mitten auf die Tür gemalt war. Wenn sein Freund irgendwo daheim war, dann hier. »Monster? Bist du da?«
Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Eine Frau unbestimmten Alters mit einer Haut wie Porzellan lugte heraus. Sie trug gestreifte Strümpfe und einen kurzen Rock. Die »Electric Lady« hatte krauses schwarzes Haar – die Stromstoßfrisur rührte angeblich daher, dass sie als Kind von einem Blitz getroffen worden war. Stanton hatte einmal gesehen, wie sie auf einem elektrischen Stuhl saß und einen mit Benzin übergossenen Stock mit der Zunge in Brand steckte. Sie war außerdem Monsters Freundin. Elektrisierend.
»Wir sollen niemanden reinlassen«, sagte sie.
Stanton hielt die Schachteln mit den Schutzbrillen hoch. »Die hier sind für euch, Leute.«
Die Räumlichkeiten bestanden aus einem Saal und einer kleinen Bühne, auf der die Künstler Schwerter schluckten oder sich Dollarnoten auf die Haut tackerten. Die Electric Lady winkte Stanton nach hinten. Dann wandte sie sich wieder der weltgrößten Schau von Tieren mit zwei Köpfen zu, um sie zu füttern. Es gab »siamesische« Schildkröten, eine Albinoschlange mit zwei Köpfen, einen Leguan mit zwei Köpfen und einen Mini-Dobermann mit fünf Beinen. In Gläsern waren die toten Körper eines Huhns mit zwei Köpfen, eines Waschbären und eines Eichhörnchens konserviert.
Stanton fand seinen tätowierten Freund in dem kleinen Büro ganz hinten. Kleidungsstücke waren über eine Pritsche in der Ecke verstreut. Monster saß am Schreibtisch, vor sich den alten Laptop, der sein ständiger Begleiter war.
»Hey, Gabe. Dein Name taucht überall auf. Dachte, du wärst in Atlanta.«
»Nein, ich sitze hier fest wie alle anderen auch.«
»Was machst du hier in Venice? Müsstest du nicht in irgendeinem Labor sein?«
»Mach dir deswegen keine Gedanken.« Stanton hielt einen Augenschutz hoch. »Tu mir einen Gefallen und setz den hier auf. Ich lass dir noch ein paar da, damit du sie an alle verteilen kannst, die noch keinen haben.«
»Danke.« Monster nahm die Schutzbrille und streifte sich die Schlaufen hinter die Ohren mit den Ringen am oberen Rand. »Electra und ich haben gerade von dir geredet, Doc. Glaubst du diesen Scheiß, den der Bürgermeister von sich gibt?«
»Was meinst du?«
»Hast du es noch nicht gehört? Die Meldung kam vor ein paar Minuten. Du wirst auch erwähnt, ein paar Mal sogar.« Er drehte den Laptop herum, damit Stanton den Monitor sehen konnte. »Im Internet sind die internen E-Mails aufgetaucht, die in den acht Stunden vor und nach der Entscheidung über die Quarantäne vom Büro des Bürgermeisters verschickt worden sind. Auf der Website von einer dieser Enthüllungsplattformen. Die Seite wurde schon zwei Millionen Mal angeklickt.«
Stanton bekam ein banges Gefühl, als er die Nachrichten überflog. Mails vom Seuchenzentrum an den Bürgermeister, die davor warnten, wie schnell sich die VFI-Fälle ausbreiten könnten. Lakonische Anfragen aus der Stadtverwaltung, mit wie vielen Todesopfern innerhalb der nächsten Woche zu rechnen sei. Kommentare darüber, dass angesichts der Unzerstörbarkeit des Prions öffentliche Plätze und Gebäude nicht dekontaminiert werden konnten und Teile von L.A. deswegen vielleicht für alle Zeit unbewohnbar sein würden.
»Das sind wilde Spekulationen über Worst-Case-Szenarien«, sagte Stanton. »Keine Fakten.«
»Wir haben 2012, Bruder – das macht keinen Unterschied mehr.«
In einem anderen Online-Artikel wurde die Vermutung geäußert, Volcy könne den Erreger aus irgendeinem politischen Grund absichtlich eingeschleppt haben. »Das ist lächerlich«, murmelte Stanton kopfschüttelnd.
»Das hindert die Leute nicht daran, es zu glauben. Da draußen laufen ’n Haufen Verrückte rum, die sich einen Scheiß um Fakten kümmern. Und nicht bloß 2012er. Die Leute haben Angst, also sei lieber vorsichtig. Dein Name steht hier, Kumpel, vergiss das nicht.«
Stanton sorgte sich nicht um sich selbst, aber er fragte sich, wie die Öffentlichkeit reagieren würde, wenn die Zuständigen unverhohlene Angst zeigten. Die Ruhe auf den Straßen war trügerisch, und die Lage könnte ganz schnell kippen.
Stanton klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Behalt den Augenschutz auf. Und wenn du sonst noch was brauchst, du weißt ja, wo du mich findest.«
***
Als Stanton nach Hause kam, waren die Möbel umgestellt und das Unterste zuoberst gekehrt. Das Wohnzimmersofa und der Esstisch waren hochkant in die Küche gequetscht worden. Zwei zusammengerollte Teppiche standen brusthoch in den Ecken, auf den Arbeitsflächen stapelten sich die Bücher vom Couchtisch, und daneben standen Lampen und anderer Krimskrams. Sie brauchten jeden verfügbaren Platz.
»Bist du das, Schatz?«
Stanton fand Alan Davies im Wohnzimmer an einem Labortisch sitzend. Wo vorher die Möbel gestanden hatten, befanden sich jetzt Aufbewahrungsboxen, Mikroskope, Zentrifugen und anderes Laborgerät. Es roch nach Desinfektionsmittel. Mit der Einrichtung dieses Labors in Stantons Privathaus verstießen sie gegen eine ausdrückliche Anweisung, und da sie alles heimlich aus dem Forschungszentrum hatten herausschmuggeln müssen, beschränkte sich die Ausrüstung auf das Nötigste. So mussten sie auch Reagenzgläser, Glasbecher und andere gläserne Gerätschaften immer wieder spülen, damit sie sie wiederverwenden konnten. Auf dem Fernsehschrank standen Abtropfgestelle, in denen schon die nächsten Gläser warteten.
»Und, gefällt’s dir?«, fragte Davies und blickte kurz von seinem Mikroskop auf. Stanton konnte es nicht fassen, dass sein Partner selbst jetzt noch perfekt gekleidet war: weißes Hemd, rosa Schlips, blaue Hose.
Im Fernsehen lief CNN. »Einreisebeschränkungen für amerikanische Staatsbürger in fünfundachtzig Ländern … Bioterrorismus mögliche Ursache … E-Mails aus dem Büro des Bürgermeisters an die Öffentlichkeit gelangt. YouTube-Videos zeigen Plünderungen in Koreatown und brennende Häuser …«
»Großer Gott«, murmelte Stanton bestürzt. »Es gibt schon Plünderungen?«
»Die Anspannung entlädt sich in Krawallen«, erwiderte Davies. »In L.A. ist das praktisch ein Lebensstil.«
Stanton rannte aus dem Haus und in seine Garage. Hinter Kartons mit wissenschaftlichen Zeitschriften, Andenken an Notre-Dame und veraltetem Fahrradzubehör war ein kleiner Safe versteckt. Dort bewahrte er eine selbst zusammengestellte Notfallausrüstung für den Fall eines Erdbebens und/oder eines Tsunami auf: Tabletten zur Wasseraufbereitung, eine Trillerpfeife und einen Spiegel, damit er Signale geben konnte, tausend Dollar in bar und eine 9mm Smith & Wesson.
Davies guckte zur Tür herein. »Wusst ich’s doch, dass du Republikaner bist.«
Stanton beachtete ihn nicht. Er vergewisserte sich, dass die Waffe geladen war, und legte sie in den Safe zurück. »Wie weit sind wir mit den Mäusen?«
»Wenn wir Glück haben, müssten die Antikörper morgen so weit sein«, antwortete Davies.
Stanton nickte und folgte ihm zurück ins Haus. Er konnte nicht einfach die Hände in den Schoß legen. Er musste weiter nach einer Therapie suchen, und deshalb hatten sie heimlich das Labor hier eingerichtet. Im Esszimmer standen ein Dutzend Käfige, jeder mit einer Maus darin, auf dem Holzfußboden.
Nur ging es dieses Mal nicht darum, die Mäuse sozusagen angstfrei zu machen – dieses Mal wurden sie mit VFI infiziert. Stanton hoffte, dass sie Antikörper bilden würden, mit denen die Krankheit bekämpft werden konnte. Normalerweise würde dieser Vorgang Wochen dauern, das wussten sie aus den bisherigen Testreihen. Aber Davies hatte ein Verfahren entwickelt, mit dem sich eine extrem hohe Konzentration reiner VFI-Prionen herstellen ließ, sodass die Reaktion schneller ablief. Einige Mäuse hatten schon angefangen, Antikörper zu bilden.
Jemand klopfte laut an die Vordertür. Stanton, der vor den Käfigen in die Hocke gegangen war, richtete sich auf und ging zur Tür.
Michaela Thane sah aus, als hätte sie vier Wochen lang Nachtschicht gehabt. Ihre Haare waren zerzaust, ihr Gesicht abgezehrt und hohlwangig. Da das Presbyterian unter Quarantäne stand und praktisch alle Patienten in andere Krankenhäuser verlegt worden waren, hatten sich auch die Dienstpläne der Ärzte geändert. Es gab keinen Schichtdienst mehr, deshalb hatte Stanton es so eingerichtet, dass Thane Vollzeit in seinem Team mitarbeiten konnte.
»Ein Glück, dass Sie gut hier angekommen sind«, begrüßte er sie.
»Alles okay. Musste bloß an einem Kontrollpunkt warten, bis ungefähr hundert Streifenwagen und Löschzüge in die entgegengesetzte Richtung gerast waren. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg dorthin, wo diese Vollidioten Häuser in Brand stecken.«
Als sie eintrat und die ganzen Laborgeräte sah, schaute sie Stanton so entgeistert an, als wollte er Frankensteins Monster zusammenbasteln.
»Wir geben Ihnen für den Rückweg jemanden mit, der Sie begleitet«, sagte Stanton.
»Haben Sie mir meinen Tee mitgebracht?«, rief Davies. »Bitte, lieber Gott, mach, dass in dieser gottverlassenen Welt noch ein kleiner Rest Würde geblieben ist!«
Thane hielt eine Einkaufstüte hoch. »Was zum Teufel ist denn hier los?«
Davies grinste. »Willkommen am Ende unserer beruflichen Karriere!«
***
Zehn Minuten später versuchte Thane immer noch zu begreifen, was es mit dem provisorischen Labor und der Geheimniskrämerei auf sich hatte. »Das versteh ich nicht. Wenn wir Antikörper herstellen können, wieso dürfen wir sie dann nicht einsetzen?«
»Sie könnten eine allergische Reaktion hervorrufen«, erklärte Stanton. »Bei ungefähr dreißig Prozent der Patienten.«
Davies hielt sich seinen Becher Schwarztee unter die Nase und atmete tief ein. »Es wird Jahre dauern, bis die FDA Antikörper von Mäusen als Therapie bei Prionenerkrankungen zulassen wird.«
Thane zuckte die Schultern. »Aber die Opfer sterben doch sowieso!«
»Ja, aber so kann man weder das CDC noch die FDA dafür verantwortlich machen«, sagte Stanton.
»Wir haben die Vorschriften nicht gemacht«, warf Davies ein. »Wir verletzen sie nur. Dummerweise überwacht Deputy Cavanagh uns auf Schritt und Tritt, und sobald wir uns einem Krankenbett nähern, wird uns jemand über die Schulter schauen.«
»Mich wird keiner überwachen«, sagte Thane langsam. Jetzt war ihr klar, warum sie hergebeten worden war. »Ich habe immer noch Patienten auf der Intensivstation. Ich kann jederzeit rein.«
Schon allein die Einrichtung dieses Labors könnte alle drei die Approbation kosten, aber wer Verwundete mit dem Helikopter aus einem Kriegsgebiet geholt hatte, scheute sich nicht, für seine Patienten ein Risiko einzugehen. Stanton hatte Thane schon oft dabei beobachtet, wie sie mit ihren Patienten und auch mit ihren Kollegen umgegangen war. Er spürte instinktiv, dass er ihr vertrauen konnte.
»Sie dürfen mit niemandem darüber reden«, sagte Davies eindringlich. »Ich würde mich nicht sehr wohl fühlen in einem amerikanischen Gefängnis, glauben Sie mir.«
»Als Testperson kommt jeder infrage, nicht wahr?«, fragte sie.
Stanton nickte. »Vorausgesetzt, die Krankheit ist noch nicht zu weit fortgeschritten. Höchstens zwei oder drei Tage. Danach ist nichts mehr zu machen.«
»Dann habe ich eine Bedingung.«
Stanton sah sie aufmerksam an. »Und was wäre die eine Bedingung?«