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Dr. Gabriel Stantons Zuhause befand sich ganz am Ende der hölzernen Promenade, dort wo der Fußweg in eine üppig grüne Rasenfläche überging, auf der sich die Freunde des Tai-Chi trafen. Die bescheidene Doppelhaushälfte gegenüber dem Strand von Venice Beach war nicht unbedingt nach Stantons Geschmack. Er mochte lieber geschichtsträchtigere Gebäude. Aber an diesem eigenwilligen Abschnitt der kalifornischen Küste hatte man nur die Wahl zwischen heruntergekommenen Bruchbuden und modernen Bauten aus Stein und Glas. Stanton verließ das Haus kurz nach sieben Uhr morgens und radelte auf seinem alten Gary-Fisher-Rad Richtung Süden. Dogma, sein hellhaariger Labrador, rannte neben ihm her. Groundwork, wo es den besten Kaffee von L.A. gab, war nur sechs Straßen entfernt, und Jillian würde schon einen kräftigen Black Gold für ihn bereithalten, wenn er durch die Tür trat.

Dogma liebte die Morgenstunden ebenso sehr wie sein Herrchen. Aber da Hunde nicht mit ins Café durften, band Stanton ihn draußen an und ging dann allein hinein. Er winkte Jillian zu, schnappte sich seinen Becher und ließ den Blick prüfend durch den Raum schweifen. Viele der morgendlichen Gäste waren Surfer, von deren Neoprenanzügen noch das Wasser tropfte. Stanton stand normalerweise um sechs Uhr auf, aber diese Jungs waren schon seit Stunden wach.

Einer der bekanntesten und sicherlich originellsten Anwohner der Strandpromenade saß an seinem Stammplatz. Sein kahl geschorener Kopf war vollständig mit komplizierten Mustern tätowiert, und Ohrläppchen, Nase und Lippen waren mit Ringen, Nieten, kleinen Ketten gepierct. Stanton fragte sich nicht zum ersten Mal, wo Monster wohl herkommen mochte. Welche Erlebnisse in seiner Jugend hatten ihn dazu bewogen, seinen Körper zu einem derartigen Kunstwerk zu machen? Aus irgendeinem Grund sah Stanton immer ein halbgeschossiges Haus nahe einem Truppenstandort vor sich, wenn er sich Monsters Kindheit vorstellte – genau die Art Haus, die er aus seiner eigenen Kindheit nur allzu gut kannte.

»Und, was gibt’s Neues in der Welt da draußen?«, fragte Stanton.

Monster schaute von seinem Computer auf. Er war geradezu süchtig nach Nachrichten, und wenn er nicht in seinem Tattoo-Laden arbeitete oder sich als Teil der Venice Beach Freak Show von Touristen bestaunen ließ, postete er Kommentare in politischen Blogs.

»Du meinst, abgesehen davon, dass in zwei Wochen eine kosmische Konstellation dafür sorgen wird, dass die magnetische Ladung an den Polen sich umkehren wird, was den sicheren Untergang der Menschheit bedeutet?«

»Ja, davon einmal abgesehen.«

»Ein verdammt schöner Tag da draußen.«

»Und deine Lady?«

»Elektrisiert mich noch immer, danke der Nachfrage.«

Stanton ging zur Tür. »Dann bis morgen, Monster. Falls wir dann noch da sind.«

Draußen stürzte er seinen Black Gold hinunter, schwang sich dann wieder auf sein Rad und fuhr, Dogma neben sich, weiter in Richtung Süden. Vor hundert Jahren schlängelten sich Kanäle mit einer Gesamtlänge von mehreren Meilen durch Venice, eine von dem Tabakmagnaten Abbot Kinney geschaffene Nachbildung Venedigs. Inzwischen waren praktisch alle Wasserwege, auf denen sich die Einwohner früher mit Kähnen hatten befördern lassen, zugeschüttet worden und gepflastert mit anabolikabetriebenen Fitnessstudios, mit auf fetttriefende Snacks spezialisierten Imbissbuden und mit trendigen T-Shirt-Läden.

Stanton hatte mit Bedauern beobachtet, wie in den vergangenen Wochen überall Graffiti aufgetaucht waren, die sich auf die vermeintliche Maya-Prophezeiung der bevorstehenden Apokalypse bezogen. Auch Händler nutzten die Gunst der Stunde und boten allen möglichen Billigkram an. Stanton war katholisch erzogen worden, aber er hatte seit Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen, und er hatte auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Wenn jemand meinte, sein Schicksal ergründen zu können, oder glaubte, irgendeine antike Uhr bringe Glück oder Unglück, dann sollte er das ruhig tun; Stanton hatte nichts dagegen. Er würde sich weiterhin an wissenschaftliche Methoden und überprüfbare Hypothesen halten.

Zum Glück schienen aber nicht alle in Venice damit zu rechnen, dass am 21. Dezember die Welt untergehen würde. Die Strandpromenade war auch mit roten und grünen Lämpchen geschmückt – nur für den Fall, dass diese Weltuntergangsspinner sich irrten. Die Weihnachtszeit war eine merkwürdige Zeit in L.A.: Nur wenige Zugereiste kamen damit klar, Weihnachten bei gut 20 Grad Wärme zu feiern, aber Stanton liebte den Kontrast: Rollschuhfahrer mit Nikolausmützen, Sonnenschutzcreme in Weihnachtsstrümpfen, mit falschen Rentiergeweihen geschmückte Surfbretter. Nichts konnte ihn heutzutage besser in Weihnachtsstimmung versetzen als eine Fahrt am Strand entlang.

Zehn Minuten später erreichten sie das nördliche Ende von Marina del Rey. Ihr Weg führte vorbei am alten Leuchtturm und an den Segeljachten und den vertäuten Fischerbooten, die im Hafen dümpelten. Stanton ließ Dogma von der Leine, und der Hund rannte voraus, während sein Herrchen sein Fahrrad schob und hinterhertrottete. Er lauschte. Die Frau, deretwegen sie hier waren, umgab sich zu jeder Tageszeit mit Jazz, und wenn man Bill Evans’ Piano oder Miles Davis’ Trompete hörte, wusste man, dass sie nicht weit sein konnte. Nina Countner war den größten Teil der letzten zehn Jahre die Frau in Stantons Leben gewesen. Zwar hatte es in den drei Jahren seit ihrer Trennung ein paar andere bei ihm gegeben, aber keine, die mehr als ein Ersatz für sie gewesen wäre.

Stanton folgte Dogma zu den Anlegestellen. Die schwermütigen Klänge eines Saxofons wehten aus der Ferne zu ihm herüber. Der Hund hatte schon die Spitze der südlichen Mole erreicht, wo Ninas wuchtige zweimotorige McGray – knappe sieben urwüchsige Meter Metall und Holz – sich ganz hinten in den letzten Liegeplatz quetschte. Dogma hatte sich auf die Seite gelegt und ließ sich von Nina, die neben ihm in die Hocke gegangen war, den Bauch kraulen.

»Wie ich sehe, habt ihr zwei mich gefunden«, rief sie.

»Ja, und zur Abwechslung direkt mal in einem richtigen Hafen«, erwiderte Stanton.

Er küsste sie auf die Wange und atmete ihren Duft ein. Obwohl Nina fast die ganze Zeit auf dem Meer verbrachte, schaffte sie es, immer nach Rosenwasser zu duften. Stanton trat einen Schritt zurück und betrachtete sie. Sie hatte ein Grübchen am Kinn und auffallend schöne grüne Augen, aber ihre Nase war ein kleines bisschen krumm und ihr Mund ziemlich klein. Die meisten Menschen bemerkten ihre Schönheit nicht, aber Stanton fand, dass ihr Gesicht perfekt war.

»Wann erlaubst du mir endlich, dass ich dir eine richtige Anlegestelle besorge?«, fragte er.

Ninas Blick sagte alles. Stanton hatte ihr schon oft angeboten, die Miete für einen ständigen Liegeplatz für ihr Boot zu übernehmen, immer in der Hoffnung, sie damit öfter an Land zurückzulocken, aber Nina hatte jedes Mal abgelehnt, und er wusste, dass sich daran vermutlich nichts ändern würde. Sie arbeitete freiberuflich als Journalistin, und da sie nicht über ein regelmäßiges Einkommen verfügte, war sie eine wahre Meisterin darin geworden, freie Liegeplätze, abgelegene Strände und von keinem Radar erfasste Anlegestellen aufzuspüren, die nur wenigen bekannt waren.

»Wie geht’s voran mit deinem Experiment?«, fragte sie, als sie vor Stanton an Bord ging. Das Deck der Plan A war spärlich ausgestattet: zwei Klappstühle, eine Sammlung von CDs, die rings um den Kapitänsstuhl verstreut lagen, und ein Wasser- und ein Futternapf für Dogma.

»Ich erwarte für heute weitere Ergebnisse«, antwortete er. »Dürfte interessant werden.«

Nina setzte sich auf den Platz des Skippers. Wie üblich kam sie gleich zur Sache. »Du siehst müde aus.«

Er fragte sich, ob es die unaufhaltsam vordringende Flut des Alters war, die sie auf seinem Gesicht entdeckte, die Krähenfüße hinter den Gläsern seiner randlosen Brille. Er hatte vergangene Nacht volle sieben Stunden geschlafen. Das kam selten vor. »Mir geht’s gut.«

»Und der Prozess? Ist er endgültig ausgestanden?«

»Schon seit Wochen. Das sollten wir feiern. Ich hab noch eine Flasche Champagner im Kühlschrank.«

»Ach, weißt du, ich will rüber nach Catalina.« Nina betätigte ein paar Hebel und Schalter, um das GPS und die Schiffselektronik einzuschalten. Stanton hatte sich nie die Mühe gemacht, sich mit der Steuerungsanlage vertraut zu machen.

Durch den Dunst hindurch konnte man die vagen Umrisse von Catalina Island erkennen. »Und wenn ich mitkommen würde?«, fragte Stanton.

»Um dann geduldig auf die Ergebnisse aus dem Forschungszentrum zu warten? Ich bitte dich, Gabe.«

»Behandle mich nicht wie ein kleines Kind.«

Nina stand auf, ging zu ihm und fasste ihn am Kinn. »Ich bin nicht umsonst deine Exfrau.«

Es war Nina gewesen, die diese Entscheidung getroffen hatte, aber Stanton gab sich die Schuld am Scheitern ihrer Ehe, und etwas in ihm hoffte immer noch auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr. Während ihrer drei Jahre dauernden Ehe hatte sein Beruf ihn oft monatelang ins Ausland geführt, und Nina hatte sich unterdessen aufs Meer hinausgeflüchtet. Der Ozean war schon immer ihre große Liebe gewesen. Stanton hatte sie ziehen lassen, und es hatte den Anschein, als wäre sie so am glücklichsten – ganz allein durchs Leben treibend.

In der Ferne heulte die Sirene eines Containerschiffs, und Dogma begann wie verrückt zu bellen und jagte dann seinem eigenen Schwanz hinterher.

»Ich bring ihn dir morgen Abend wieder«, sagte Nina.

»Bleib doch zum Essen«, schlug Stanton vor. »Sag mir, worauf du Lust hast, ich koche für dich.«

Nina sah ihn skeptisch an. »Und was wird deine Freundin dazu sagen?«

»Ich habe keine Freundin.«

»Was ist denn mit Wie-hieß-sie-doch-gleich passiert? Mit der Mathematikerin.«

»Wir sind vier Mal zusammen ausgegangen.«

»Und?«

»Und dann musste ich mir ein Pferd ansehen.«

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Doch. Ich bin nach England geflogen, weil bei dem Pferd der Verdacht auf Scrapie bestand, und da meinte sie, mir liegt nichts an unserer Beziehung.«

»Und, hat sie recht gehabt?«

»Wir sind vier Mal zusammen ausgegangen! Also, was ist jetzt mit dem Abendessen morgen?«

Nina ließ den Motor genau in dem Moment an, als Stanton auf die Anlegebrücke sprang, wo er sein Fahrrad abgestellt hatte. »Besorg eine anständige Flasche Wein«, rief sie ihm zu, während sie ablegte und ihn wieder einmal zurückließ. »Dann sehen wir weiter …«

***

Das Zentrum für Prionenforschung des Seuchenzentrums CDC in Boyle Heights war seit fast zehn Jahren Stantons berufliche Heimat. Als er 2000 hierher gezogen war, um die Stelle als Direktor anzutreten, dem ersten überhaupt, hatte das Zentrum nur aus einem kleinen Labor in einem Wohnwagen bestanden, der auf dem Gelände des Los Angeles County & USC Medical Center aufgestellt worden war. Unermüdlich hatte Stanton für die Erweiterung des Forschungszentrums gekämpft, und heute nahm es den ganzen sechsten Stock des Hauptgebäudes des Krankenhauses ein, desselben Gebäudes, das über drei Jahrzehnte lang als Kulisse für die Fernsehserie General Hospital gedient hatte.

Stanton ging durch die Doppeltür in seine »Höhle«, wie seine Post-Doktoranden den Raum oft nannten. Einer von ihnen hatte eine weihnachtliche Lichterkette aufgehängt, und Stanton schaltete sie zusammen mit den Halogenlampen ein, sodass neben bläulich weißem auch rotes und grünes Licht auf die Mikroskoptische im Labor fiel. Er ließ seine Aktenmappe in seinem Büro achtlos auf den Boden fallen, streifte sich Handschuhe und einen Mundschutz über und ging in den hinteren Teil des Labors. Wochenlang hatte sein Team an einer Testreihe gearbeitet, und an diesem Morgen würden sie die ersten Ergebnisse auswerten können. Stanton konnte es kaum erwarten.

Der Raum für die Labortiere war fast so lang wie ein Basketballfeld und nach dem neuesten Stand der Technik ausgestattet: computergesteuerte Bestandslager, Datenspeicher mit Touchscreens, elektronische Vivisektions- und Autopsiestationen. Stanton ging zum ersten der zwölf an der Südseite aufgestellten Käfige und spähte hinein. Zwei Tiere befanden sich darin: eine sechzig Zentimeter lange schwarz und orangerot geringelte Korallenschlange und eine kleine graue Maus. Auf den ersten Blick wirkte die Szene vollkommen normal – eine Schlange, die auf den richtigen Moment wartete, um vorzuschnellen und ihre Beute zu packen. Doch in Wirklichkeit spielte sich in diesem Käfig etwas ganz und gar Unnatürliches ab.

Die Maus stupste mit der Nase lässig den Kopf der Schlange an und hörte selbst dann nicht auf, als die Schlange warnend zischte. Und sie versuchte auch nicht, in eine Ecke des Käfigs zu fliehen. Sie fürchtete sich vor der Schlange ebenso wenig, wie sie sich vor einer anderen Maus gefürchtet hätte. Als Stanton dieses Verhalten zum ersten Mal beobachtet hatte, waren er und sein Team in lauten Jubel ausgebrochen. Mithilfe von Gentechnik hatten sie bestimmte Eiweißmoleküle, sogenannte Prionen, von der Membran der Hirnzellen der Maus entfernt, wodurch die natürliche Ordnung im Mäusehirn zerstört und die angeborene Angst vor Schlangen ausgelöscht worden war. Es war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Entschlüsselung der Funktion der tödlichen Eiweiße, eine Arbeit, die Stanton zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte.

Prionen kommen in jedem tierischen Gehirn vor, auch in dem des Menschen, doch auch nach jahrzehntelanger Forschung wusste weder Stanton noch sonst irgendein Wissenschaftler, welchen Zweck sie eigentlich erfüllten. Einige von Stantons Kollegen vertraten die Ansicht, dass Prionen-Eiweiße etwas mit der Gedächtnisleistung zu tun hatten oder eine wichtige Rolle bei der Bildung des Knochenmarks spielten. Aber genau wusste das niemand.

Meistens waren die Prionen gutartig und saßen an den Neuronenzellen im Gehirn. In seltenen Fällen jedoch kam es vor, dass sich diese Eiweiße krankhaft veränderten und zu wuchern begannen. Bei Prionenkrankheiten wie Alzheimer oder Parkinson wurde gesundes Gewebe zerstört und durch Ablagerungen, sogenannte Plaques, ersetzt, wodurch die normalen Hirnfunktionen ausgeschaltet wurden. Doch während Alzheimer und Parkinson genetisch bedingte Krankheiten waren, gab es andere Formen von Prionenkrankheiten, die durch infiziertes Fleisch übertragen wurden. Das war das eigentlich Erschreckende. Mitte der 1980er-Jahre gelangten in England mutierte Prionen von kranken Kühen durch verseuchtes Fleisch in den Handel, und die ganze Welt sah sich plötzlich mit dem Phänomen einer Prioneninfektion konfrontiert. Innerhalb von drei Jahrzehnten fielen in Europa zweihunderttausend Rinder dem sogenannten Rinderwahnsinn zum Opfer. Dann griff die Krankheit auch auf den Menschen über. Die ersten Patienten konnten ihre Bewegungen nicht mehr koordinieren und zitterten unkontrolliert, sie verloren das Gedächtnis und die Fähigkeit, Freunde und Angehörige zu erkennen. Wenig später kam es zum Hirntod.

Stanton war schon früh in seiner Laufbahn ein weltweit anerkannter Experte für Rinderwahnsinn geworden, daher war er, als das Seuchenzentrum in den USA das Nationale Zentrum für Prionenforschung ins Leben rief, die erste Wahl für den Posten des Direktors gewesen. Es war ihm als einmalige Chance erschienen, und Stanton war dem Ruf nach Kalifornien voller Begeisterung gefolgt. Es war das erste Zentrum zur Erforschung von Prionen und Prionenkrankheiten in den USA. Unter Stantons Leitung sollten hier die rätselhaftesten Krankheitserreger der Welt diagnostiziert, erforscht und schließlich bekämpft werden.

Doch so weit kam es nicht. Die Fleischindustrie startete eine erfolgreiche Kampagne, mit der deutlich gemacht werden sollte, dass sich in den USA nur ein einziger Mensch nachweislich mit Rinderwahnsinn infiziert hatte. Die Zuschüsse für Stantons Labor wurden gekürzt, und als in England keine weiteren Neuerkrankungen bekannt wurden, ließ das Interesse der Öffentlichkeit an dem Thema rasch nach. Das Budget für das Forschungszentrum war zusammengestrichen worden, und Stanton sah sich gezwungen, einige Mitarbeiter zu entlassen. Das Schlimmste aber war, dass es trotz jahrelanger Forschungsarbeit immer noch kein Heilmittel gab. Unzählige Wirkstoffe waren getestet worden, aber die Hoffnung auf eine wirksame Therapie hatte sich jedes Mal zerschlagen. Doch Stanton war immer schon ebenso dickköpfig wie optimistisch gewesen. Er glaubte immer noch fest daran, dass das nächste Experiment möglicherweise die Antwort lieferte, die er sich erhoffte.

Als er vor den nächsten Käfig trat, bot sich ihm der gleiche Anblick: eine Schlange, die ihre Beute belauerte, und eine kleine Maus, die sich davon nicht im Geringsten beeindrucken ließ. Stanton und sein Team wollten mit diesem Experiment erforschen, ob Prionen eine Rolle bei der Unterdrückung »angeborener Instinkte« einschließlich der Angst spielten. Eine Maus musste nicht erst lernen, sich vor raschelndem Gras zu fürchten – es war in ihren Genen programmiert, dass dieses Geräusch Gefahr bedeutete, weil es das Anpirschen eines Feindes signalisierte. Doch nachdem ihre Prionen in einem früheren Experiment genetisch ausgeschaltet worden waren, verhielten sich die Mäuse aggressiv und irrational. Stanton und sein Team hatten daraufhin in weiteren Versuchen gezielt den Zusammenhang zwischen der Eliminierung von Prionen und den angeborenen Ängsten der Tiere untersucht.

Stantons Handy vibrierte in der Tasche seines Laborkittels. »Hallo?«

»Spreche ich mit Dr. Stanton?«, fragte eine unbekannte Frauenstimme. Das konnte nur eine Ärztin oder eine Krankenschwester sein – jeder andere hätte sich dafür entschuldigt, dass er vor acht Uhr morgens anrief.

»Ja. Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Michaela Thane. Ich bin Assistenzärztin am East L.A. Presbyterian Hospital. Das Seuchenzentrum hat mir Ihre Nummer gegeben. Es geht um einen unserer Patienten. Es besteht der Verdacht, dass eine Prionenkrankheit vorliegt.«

Stanton lächelte, schob seine Brille zurecht und sagte: »Okay«, während er vor den nächsten Käfig trat. Eine Maus scharrte mit den Pfötchen am Schwanz der Schlange, die angesichts dieser Umkehrung der natürlichen Ordnung ganz verdattert schien.

»Okay? Ist das alles?«, fragte Thane.

»Schicken Sie mir die Proben ins Labor, mein Team wird sie sich ansehen«, erwiderte Stanton. »Ein gewisser Dr. Davies wird Sie dann wegen der Ergebnisse anrufen.«

»Und wann wird das sein? In einer Woche? Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, Doktor. Manchmal rede ich zu schnell für meine Gesprächspartner. Wir glauben, dass der Mann an einer Prionenkrankheit leidet.«

»Ja, das habe ich schon verstanden«, sagte Stanton. »Was ist mit den Gentests? Schon irgendwelche Ergebnisse?«

»Nein, aber –«

Stanton ließ sie nicht ausreden. »Hören Sie, Dr. … Thane, nicht wahr? Wir bekommen etliche Tausend Anrufe im Jahr, und nur bei einer Hand voll bestätigt sich der Verdacht einer Prionenerkrankung. Melden Sie sich wieder, wenn der Gentest positiv ist.«

»Doktor, alle Symptome deuten darauf hin, dass –«

»Lassen Sie mich raten. Ihr Patient hat einen unsicheren Gang.«

»Nein.«

»Gedächtnisverlust?«

»Das wissen wir nicht.«

Stanton klopfte an die Glasscheibe eines Käfigs. Aber keines der Tiere reagierte. »Und auf welche Symptome stützt sich dann Ihr Verdacht, Doktor?«, fragte er abwesend.

»Demenz und Halluzinationen, irrationales Verhalten, Muskelzittern und starkes Schwitzen. Und ein ganz schlimmer Fall von Schlaflosigkeit.«

»Schlaflosigkeit?«

»Wir dachten zuerst an Alkoholentzug, als er eingeliefert wurde«, erklärte Thane. »Aber bei Alkoholmissbrauch hätte sich ein Folsäuremangel nachweisen lassen müssen, und das war nicht der Fall. Also habe ich weitere Tests gemacht, und ich denke, es könnte sich um letale familiäre Insomnie handeln.«

Jetzt hatte sie Stantons volle Aufmerksamkeit.

»Wann wurde er eingeliefert?«

»Vor drei Tagen.«

Bei der letalen familiären Insomnie – oder FFI, nach dem englischen Begriff Fatal Familial Insomnia – handelte es sich um eine rasch fortschreitende Krankheit, die durch ein mutiertes Gen hervorgerufen wurde. Sie gehörte zur Gruppe jener wenigen Prionenerkrankungen, die erblich waren. Stanton hatte in seiner Laufbahn ein halbes Dutzend Fälle gesehen. Die meisten FFI-Patienten begaben sich zunächst in ärztliche Behandlung, weil sie ständig schwitzten und an Schlafstörungen litten. Binnen kurzer Zeit konnten sie überhaupt nicht mehr schlafen. Hinzu kamen Impotenz, Panikattacken, Bewegungsstörungen. Der Schlafmangel, der die Patienten zwischen einem halluzinatorischen Wachzustand und einer Panik auslösenden Munterkeit gefangen hielt, führte meist nach wenigen Wochen zum Tod. Und es gab nichts, was Stanton oder irgendein anderer Arzt dagegen tun konnte.

»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, sagte er. »FFI wird weltweit nur bei einem von dreiunddreißig Millionen Patienten diagnostiziert.«

»Was sonst könnte die Ursache für totale Schlaflosigkeit sein?«, fragte Thane.

»Eine fehldiagnostizierte Methamphetaminabhängigkeit.«

»Wir sind hier in East L.A., Doktor. Ich habe das Vergnügen, jeden Tag eine Meth-Fahne zu riechen. Und der Drogentest war negativ.«

»Weniger als vierzig Familien weltweit sind von FFI betroffen«, sagte Stanton, während er langsam an den Käfigen vorbeiging. »Und Sie hätten es mir sicher schon gesagt, wenn es eine entsprechende Vorgeschichte gäbe.«

»Ehrlich gesagt konnten wir uns noch nicht mit dem Mann unterhalten, weil wir ihn nicht verstehen. Er sieht aus wie ein Latino, möglicherweise auch wie ein Indio aus Mittel- oder Südamerika. Wir haben schon einen Übersetzerdienst eingeschaltet. Aber heutzutage ist das meistens nur ein einziger Typ mit einem nicht näher qualifizierten Abschluss und einem Stapel ausgemusterter Wörterbücher.«

Stanton spähte in den nächsten Käfig. Die Schlange darin verharrte regungslos. Ein kleiner, dünner grauer Schwanz hing ihr aus dem Maul. Das Gleiche würde in den nächsten vierundzwanzig Stunden, wenn auch die anderen Schlangen Hunger bekämen, in allen anderen Käfigen passieren. Selbst nach so vielen Jahren im Labor wollte Stanton lieber nicht zu lange darüber nachdenken, welche Rolle er im Leben dieser Mäuse spielte.

»Wer hat den Patienten eingeliefert?«, fragte er.

»Laut Aufnahmeformular eine Ambulanz, aber ich finde nirgends einen Hinweis darauf, von welcher Organisation.«

Das passte zu dem, was Stanton sonst über das Presbyterian Hospital wusste. Nur wenige andere Einrichtungen in East L.A. waren so überfüllt und so verschuldet wie dieses Krankenhaus.

»Wie alt ist der Patient?«, fragte er.

»Wahrscheinlich Anfang dreißig. Ich weiß, das ist ungewöhnlich, aber ich habe Ihren Aufsatz über Altersabweichungen bei Prionenerkrankungen gelesen und dachte, dass wir es hier vielleicht mit einem solchen Fall zu tun haben.«

Thane verstand etwas von ihrem Job, doch ihre Gründlichkeit änderte nichts an den Tatsachen. »Ich bin sicher, wenn Sie erst einmal die Ergebnisse der Gentests vorliegen haben, wird sich das alles schnell aufklären. Sie können Dr. Davies später gerne anrufen, falls Sie noch weitere Fragen haben.«

»Halt! Nicht auflegen! Warten Sie, Doktor!«

Stanton musste ihre Hartnäckigkeit bewundern. Als Assistenzarzt war er auch eine ganz schöne Nervensäge gewesen. »Ja?«

»Letztes Jahr wurde eine Studie veröffentlicht, der zufolge Amylase ein biologischer Marker für Schlafmangel ist.«

»Ja, ich kenne diese Studie. Und?«

»Bei meinem Patienten wurden dreihundert Einheiten pro Milliliter gemessen, das heißt, er hat seit über einer Woche nicht mehr geschlafen.«

Stanton trat von dem Käfig zurück. Über eine Woche ohne Schlaf?

»Hat er epileptische Anfälle?«

»Die Hirnuntersuchung hat Hinweise darauf ergeben«, antwortete Thane.

»Wie sehen seine Pupillen aus?«

»Stecknadelkopfgroß.«

»Reaktion auf Lichteinfall?«

»Nein, keine.«

Tagelange Insomnie. Schwitzen. Anfälle.

Stecknadelkopfgroße Pupillen.

Von den wenigen Voraussetzungen, die diese Kombination von Symptomen auslösen konnten, waren die anderen noch seltener als FFI. Stanton streifte seine Handschuhe ab. Die Mäuse waren vergessen. »Lassen Sie niemanden zu dem Patienten. Ich komme, so schnell ich kann.«

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