36
»Schon allein die Luft dort unten könnte hundert Leute infizieren. Du musst ihn anziehen.«
Stanton hielt Chel den Schutzanzug hin.
Obwohl sie in Schweiß gebadet war, kühlte ihr Körper nicht ab. Ihr war so entsetzlich heiß, dass sie sich nicht vorstellen konnte, sich jemals wieder angenehm kühl zu fühlen. »Ich bin doch schon infiziert. Und du hast gesagt, die Hitze macht alles nur noch schlimmer.«
»Je höher die Konzentration der Erreger ist, der du ausgesetzt bist, desto schneller läuft die Reaktion ab. Und desto schneller …«
Er brauchte den Satz nicht zu Ende zu sprechen.
Stanton half ihr in den Schutzanzug. Sie fragte sich, wie sie in diesem plumpen, sperrigen Ding, in dem es obendrein furchtbar warm war, in die Grabkammer gelangen sollte. Sie hatte in ihrem Leben schon viele unterirdische Grabanlagen erforscht und nie an Klaustrophobie gelitten, aber bei der Vorstellung, in diesem Anzug in die Katakombe hinunterzusteigen, war ihr mulmig zumute. Es würde sich vermutlich anfühlen, als wäre man lebendig begraben. Der Helm dämpfte jedes Geräusch. Durch das Glas des Visiers betrachtet, schien alles so weit weg zu sein: das Laubdach des Dschungels, Paktuls Stadt, Stanton und seine Ausrüstung. Ein beklemmendes Gefühl überkam sie.
»Bist du so weit?«, fragte Stanton. Sie nickte zaghaft.
Er half ihr, sich durch die Öffnung zu zwängen, die sie im Mauerwerk neben der zurückgelassenen Spitzhacke entdeckt hatten. Dann quetschte er sich selbst hindurch und leuchtete über Chels Schulter hinweg mit seiner Taschenlampe den Weg aus.
Chel sah, wie ihr Atem das Glas des Helmvisiers beschlug, während sie auf allen vieren durch den schmalen Gang kroch. Auf den Steinen konnte man Spuren von Schimmel erkennen, der sich vor zig Jahren gebildet hatte. Sogar durch den Schutzanzug hindurch fühlte sich der Boden fremdartig und moosig an. Die Luft musste vom scharfen Gestank von Fledermausexkrementen durchdrungen sein, aber Chel konnte nur den leicht antiseptischen Geruch des Luftreinigungssystems ihres Schutzanzugs wahrnehmen.
Nach einigen Metern verbreiterte sich der Gang zu einer gut einen Meter fünfzig hohen Kammer. Chel musste nur den Kopf ein wenig einziehen; Stanton musste eine gebückte Haltung einnehmen.
Chel richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf die gegenüberliegende Wand, die mit Darstellungen verziert war: Menschenopfer mit einem Kopfputz in Tiergestalt und schlangenköpfige Wesen mit einem menschlichen Körper. Sie streckte die Hand aus und fuhr über den Stein. Eine dicke Staubschicht rieselte auf den Boden. Es waren zweifelsohne Paktuls Zeitgenossen gewesen, die diese Darstellungen in den Stein gemeißelt hatten. Für jede Linie brauchte man Stunden, und der kleinste Fehler wäre mit dem Tod bestraft worden.
Am anderen Ende der Kammer führte eine Treppe nach unten. Die Anlage bestand ganz offensichtlich aus mehreren Ebenen, die durch Treppen miteinander verbunden waren. Chel nahm an, dass sie auf der untersten Ebene einige kleinere Räume für rituelle Zeremonien finden würden und die Grabkammer des Königs – so wie es in den Tempeln der Ruinenstätte El Mirador der Fall war.
Sie setzten ihren Weg fort. Jeder Treppenabgang war enger als der vorhergehende, und in ihren ausladenden Schutzanzügen mussten sie sich seitlich zwischen den Mauern hindurchzwängen. Je tiefer sie hinabstiegen, desto kühler wurde die Luft. Chel wusste es, aber sie spürte es nicht. Sie hätte alles gegeben für einen einzigen Atemzug frischer, kühler Luft. Die Luft in ihrem Schutzanzug schmeckte abgestanden und wiederaufbereitet.
Schließlich ging es nicht mehr weiter. Chel richtete ihre Taschenlampe auf einen Gang mit Türöffnungen zu beiden Seiten. Sie mussten jetzt sechs, sieben Meter unter der Erde sein. Nicht einmal am helllichten Tag hätte es hier unten noch natürliches Licht gegeben. Aber die Decken waren höher, sogar Stanton konnte fast aufrecht stehen.
»Da lang«, sagte Chel und ging ihm voraus durch den Gang. Sie leuchtete in zwei Räume, die beide leer waren. Dann hatte sie gefunden, wonach sie suchte.
In der Mitte der letzten Kammer stand ein Kalksteinsarkophag.
Die letzte Ruhestätte von König Jaguar Imix.
»Ist es das?«, sagte Stanton, der dicht hinter ihr stand, in das kleine Helmmikrofon.
Seine Stimme drang leicht verzerrt durch den winzigen Stöpsel in Chels Ohr. Sie nickte.
Sie sah mit einem Blick, dass die Grabkammer geplündert worden war. Aber Volcy hatte vieles zurückgelassen: kunstvoll geschnittene Feuersteine und verrostete Halsketten, Anhänger aus Muschelschalen, Figuren in Schlangenform.
Und Skelette.
Chel war körperlich vollkommen erschöpft, aber ihr Verstand war hellwach und nahm begierig jedes Detail in sich auf. Vierzehn oder fünfzehn Skelette, alle mit rotbraunem Zinnober überstäubt, waren nach rituellem Brauch um den Sarkophag herum angeordnet. Wahrscheinlich waren sie an der gleichen Krankheit gestorben, der sie selbst zum Opfer fallen würde, und hatten sich genauso gefühlt, wie sie sich jetzt fühlte: abgeschlagen, müde, übermäßig erhitzt und panisch, weil sie nicht mehr schlafen, nicht mehr träumen konnten.
»Wer sind die anderen?«, fragte Stanton.
»Die Menschen früher glaubten, dass ein König bei seinem Tod nur eine seiner neununddreißig Seelen verlor und dass die anderen achtunddreißig weiterleben oder in die jenseitige Welt eingehen würden. Darum mussten den Göttern andere Seelen geopfert werden, damit der ajaw sicher ankam.« Chel zeigte auf die sechs kleinsten Skelette. »Auch Kinder.«
Stanton ging in die Hocke. »Siehst du die voll ausgebildeten Hüftknochen bei diesem hier? Das ist ein kleinwüchsiger Erwachsener.«
Jacomo, der Zwerg. Er war zusammen mit seinem König bestattet worden.
Ein hohes, sirrendes Pfeifen ertönte, und Chel fuhr erschrocken zusammen. Als sie sich umdrehte, sah sie eine Wolke aus flatternden schwarzen Leibern. Fledermäuse. Sie flogen direkt auf sie zu.
»Runter!«, schrie Stanton. »Sie zerreißen uns die Anzüge!«
Chel verlor eine Sekunde lang die Orientierung in dem flatternden Gewimmel. Sie streckte die Hand nach der Wand aus, doch sie griff ins Leere und fiel zu Boden. Stanton ruderte wild mit den Armen und scheuchte die Fledermäuse in den Gang hinaus.
Ihr schrilles Kreischen verlor sich in der Dunkelheit.
Chel blieb benommen liegen. Sie wusste nicht, ob sie die Kraft hatte aufzustehen. In dem Schutzanzug fühlten sich ihre Arme und Beine starr an und wie versteift. Ihre Muskeln schmerzten. Sie lag auf dem Boden, auf Augenhöhe mit den uralten Skeletten, und spürte, wie eine ungeheure Mattigkeit sie überkam. Gerade als sie ergeben die Augen schließen wollte, fiel ihr Blick auf etwas metallisch Glänzendes im Staub. Es war ein großer Jadering mit einer in den Stein eingeschnittenen Glyphe.
Der Affen-Schreiber.
Chel streckte die Hand aus. Paktuls Ring.
Der Prinz war entkommen, Auxilas Töchter ebenfalls. Sie waren Paktuls Krafttier, dem scharlachroten Ara, gefolgt und dorthin gelangt, wo heute Kiaqix lag. Paktul selbst hatte es nicht geschafft. Wahrscheinlich war er von den Wachen des Königs getötet worden. Danach hatten sie ihn mitsamt seinem Ring und seinem Buch in der königlichen Grabkammer bestattet.
Chel betrachtete die Totenschädel und fragte sich, welcher von ihnen wohl der von Paktul sein mochte. Irgendwo hier lagen die sterblichen Überreste des Urvaters ihres Volkes. Auch wenn sie sein Skelett niemals zweifelsfrei würden identifizieren können, so half es Chel doch, zu wissen, dass sie ihn gefunden hatten. Ein Gefühl der Zufriedenheit erfüllte sie.
Stanton half ihr auf, aber sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er musste sie stützen, als sie mit schleppenden Schritten zum Sarkophag schlurfte. Der Deckel aus Kalkstein war über und über mit kunstvollen, in den Stein gemeißelten Ornamenten verziert. Man sah, dass er nicht bewegt worden war – Volcy hatte also nicht hineingeschaut. Er musste die Bilderhandschrift schnell gefunden und gewusst haben, dass er nicht mehr brauchte, dass diese eine Kostbarkeit genügte.
»Kriegst du den Deckel herunter?«, fragte sie Stanton.
Er gab ihr seine Taschenlampe, packte die schwere Steinplatte an einer Ecke und begann, daran zu ruckeln und sie hin und her zu schieben. Dann ging er zur nächsten Ecke und machte es genauso. Schließlich hatte er die Platte so weit gelockert, dass er sie herunterschieben konnte. Krachend fiel sie zu Boden, und das Poltern hallte in der Grabkammer wider.
Chel lehnte an der Wand und schaute zu, wie er Knochen und Artefakte herausnahm. Eine Jademaske mit Augen aus Perlen und Reißzähnen aus Quarz. Einen langen Speer mit einer scharfen Spitze aus Jade. Schmuckspangen aus Jade.
Aber keinerlei Gefäße. Keine Wasserkannen. Keine Behälter für Kakaobohnen oder Mais. Nichts, was der Aufbewahrung von Nahrungsmitteln gedient hätte. Nur Schmuck, Masken, Waffen.
Kostbarkeiten von unschätzbarem Wert. Aber nutzlos.
Chel hatte fest geglaubt, dass sie Tongefäße als Grabbeigaben finden würden, die sie auf Spuren von Lebensmitteln aus der damaligen Zeit untersuchen könnten. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Gabe«, stammelte sie betroffen. »Ich –«
Stanton achtete nicht auf sie. Er ging zu einem der kleineren Skelette, dem des Zwergs, und löste den Schädel vom Rumpf.
»Was hast du vor?«
»Die Zähne.« Stanton zeigte darauf.
»Was ist damit?«
»Vielleicht geben uns die Zähne einen Hinweis darauf, was sie gegessen haben. Körner halten ewig. Selbst wenn ihre Vorräte erschöpft waren, finden wir im Gebiss eventuell noch Reste von stärkehaltigen Nahrungsmitteln, die sie lange vor ihrem Tod gegessen haben.«
Stanton trennte weitere Schädel ab und machte sich unverzüglich an die Arbeit. Chel sah ihm eine Weile zu, dann schloss sie die Augen. Es war hell. Seltsam hell. Trotz der Dunkelheit. Und ihr Hirn in dem stickigen Helm wurde regelrecht gekocht. »Falls du mich hier zurücklassen musst …«, begann sie, aber da dachte sie schon wieder an Paktul, dessen Ring sie über dem Handschuh über ihren Finger gestreift hatte, und dann an ihre Mutter und wie falsch sie gelegen hatte bei ihr. Sie hörte nicht, wie Stanton antwortete:
»Ich verlasse dich nie.«
***
Stanton entfernte zuerst den sichtbaren Zahnstein und schabte dann mit einem Schablonenmesser die Zähne ab. Er nahm sich jeden Abschnitt der Gebisse drei Mal vor, bevor er das abgeschabte Material auf Objektträger gab. Das war selbst unter optimalen Bedingungen eine heikle Arbeit – in der Dunkelheit, mit nur einer Taschenlampe als Lichtquelle, war es nahezu unmöglich.
Aber Stanton, der langsam und gründlich arbeitete, schaffte es.
Dann, im schwachen Schein des batteriebetriebenen Mikroskops, verglich er die Präparate mit den Abbildungen in einem Nachschlagewerk. Es gelang ihm, etliche Pflanzenarten anhand der typischen Form ihrer Stärkemoleküle zu identifizieren: Mais; Bohnen; Avocado; Brotnuss; Papaya; Pfefferschoten; Kakao. Er fand Hunderte verschiedene Rückstände auf den Zähnen, aber er hielt es für unwahrscheinlich, dass eines dieser ganz gewöhnlichen Nahrungsmittel den König und dessen Gefolge vor VFI geschützt hatte.
Plötzlich entdeckte er etwas vollkommen Unerwartetes. Stärkemoleküle, die er auf Anhieb, auch ohne Nachschlagewerk, erkannte.
Es waren Stärkemoleküle von Buchen. Stanton konnte nicht glauben, was er da sah. Buchen wuchsen normalerweise im gebirgigen Hochland, wie etwa in Zentralmexiko. Er hätte niemals damit gerechnet, im tropischen Regenwald von Guatemala auf Buchen zu stoßen, und er kannte auch keinen Botaniker, der diese Möglichkeit überhaupt ins Auge gefasst hätte. Das bedeutete, es handelte sich möglicherweise um eine bisher unbekannte Art, die nur hier vorkam.
Der Hauptbestandteil in der Buche war Pentosan-Polysulfat, auf das man einst große Hoffnungen bei der Bekämpfung von Prionenkrankheiten gesetzt hatte. Das Problem war, dass der Wirkstoff, gleichgültig, aus welcher Buchenart er gewonnen worden war, die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren konnte. Und so war es als Therapie bei VFI gar nicht erst in Betracht gezogen worden.
Etwas allerdings machte Stanton stutzig. Die Früchte der Buche waren zwar essbar, ihr Geschmack jedoch war ebenso wie ihr Geruch, wenn sie geröstet wurden, unverkennbar bitter. Die ganze Stadt hätte Woche für Woche Unmengen davon essen müssen, um gegen pathogene Prionen immun zu werden.
Ein Gedanke durchzuckte ihn. Er ging zu Chel hinüber und tippte ihr leicht auf die Schulter. »Eine Frage«, flüsterte er. »Haben die Maya Baumrinde gekaut?«
Sie hatte die Augen geschlossen, sie war in sich selbst, in ihrer eigenen Welt, versunken. Er hatte sie angetrieben auf ihrem Marsch durch den Dschungel, weiter, als sie es für möglich gehalten hätte. Er hatte ihr Hoffnung gemacht. Und mit dieser Hoffnung im Herzen hatte sie ihn hierher geführt. Jetzt lag sie im Sterben.
»In lak’ech«, war alles, was sie wisperte.
Stanton eilte zurück zu den Präparaten. Er erinnerte sich jetzt an eine Stelle in der Handschrift, wo beschrieben wurde, wie der Zwerg auf etwas herumkaute und es dann ausspie, und Stanton wäre jede Wette eingegangen, dass es sich dabei um Buchenrinde gehandelt hatte. Das war das Heilmittel gewesen, das sie vor Ansteckung geschützt hatte. In diesem Regenwald hatte sich offenbar eine neue Buchenart entwickelt, deren Wirkstoff in der Lage war, die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Der Verzehr der Rinde hatte die Maya geschützt – bis zu dem Tag, als sie auch den letzten Baum gefällt und verbrannt hatten.
Es gab nur eine Hoffnung, nämlich die, dass der Bestand sich erholt hatte. Falls die Maya nicht den gesamten Regenwald ringsum kahlgeschlagen hatten (was selbst in der heutigen Zeit nicht einfach wäre), mussten irgendwo dort draußen ein paar Buchen nachgewachsen sein. Die Natur erneuerte sich immer wieder selbst. Die Frage war nur, wie er diese Bäume in völliger Dunkelheit erkennen sollte. Das Laub würde er nicht sehen können. Er würde sie nur anhand ihrer Rinde erkennen können. Und sein Bauchgefühl sagte ihm, dass die guatemaltekischen Buchen genau wie ihre Verwandten anderswo eine vollkommen glatte silbergraue Rinde hatten.
***
Als Stanton aus der Pyramide trat, begann seine Taschenlampe zu flackern. Sie war stundenlang eingeschaltet gewesen. Er beschloss, Zweige zu sammeln und als Fackel zu benutzen, damit er die Taschenlampenbatterie schonen konnte.
Unweit des Eingangs zu der Grabanlage sah er Kiefern und Eichen, aber keine Buchen. Er ging zu den Zwillingstempeln, wo sich aus jeder Steinspalte irgendein Gewächs zwängte, und sammelte ein zweites Bündel Zweige, das er am ersten anzündete. Es war stiller geworden im Dschungel. Nur die Grillen spielten ihre nächtliche Sinfonie. Als Stanton sich nach Reisig bückte, wechselten plötzlich zwei Rehe vor ihm über den Weg, und er fuhr unwillkürlich zusammen.
Im Schein der Fackel stapfte er tiefer in den Wald hinein, vorbei an Baumstämmen, so massig wie der Rumpf eines Flugzeugs. Stanton konnte in der Dunkelheit unmöglich schätzen, wie hoch diese Baumriesen waren. Er hatte Mühe, die Richtung zu halten, und merkte bald, dass er im Kreis ging, weil er immer wieder an denselben Orientierungspunkten vorbeikam.
Als er aus dem Wald heraustrat und sich auf der Rückseite der Grabpyramide wiederfand, schlug seine Frustration um in Verzweiflung. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er es geschafft hatte, ungewollt an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren. Die Fackel erlosch. Stanton bückte sich und tastete den Boden blindlings nach Zweigen ab. Als er etwas Stacheliges durch seinen Handschuh hindurch spürte, riss er ein Streichholz an, um nachzusehen, was es war. Auf der Erde lag eine braune Kapsel mit winzigen spitzen Fortsätzen, die nicht größer war als seine Daumenkuppe.
Eine Buchecker.
Stanton richtete sich auf und hielt sie in die Höhe, als wollte er ihren Weg zur Erde umkehren. Und dann sah er den Baum mit der glatten grauen Rinde, von dem die Frucht heruntergefallen war. Im Licht seines Streichholzes konnte Stanton nicht erkennen, wie hoch die Buche war. Aber jetzt sah er, dass es nicht die einzige war: Etwa ein Dutzend standen in einer Reihe nebeneinander. Die Äste reckten sich der Pyramide entgegen, als wollten sie sie berühren.
***
Wie ein Vogel hoch am Himmel in böigem Wind trieb Chel zwischen Licht und Dunkelheit. In den lichten Momenten fühlte sich ihre Zunge an wie Sandpapier; jede Faser ihres Körpers schmerzte, so unerträglich heiß war ihr. Die Krankheit kroch durch ihre Gedanken wie eine Spinne. Aber sobald sich die Dunkelheit über sie senkte, tauchte sie dankbar ein in eine Flut von Erinnerungen.
Paktul, der geistige Gründer von Kiaqix, ruhte neben ihr; was auch immer geschehen mochte, sie fühlte sich sicher und geborgen in seiner Gegenwart. Falls es ihr bestimmt war, ihm zu folgen, dorthin zu gehen, wohin Rolando und ihr Vater vorausgegangen waren, würde sie vielleicht den Ort sehen, von dem die Alten immer erzählten. Den Wohnsitz der Götter.
***
Als Stanton in die Grabkammer zurückkam, saß Chel so da, wie er sie verlassen hatte, zusammengesunken an der Wand. Doch dann sah er zu seinem Entsetzen, dass sie ihren Helm abgenommen und den Schutzanzug heruntergerissen hatte. Vermutlich hatte die unerträgliche Hitze sie fast wahnsinnig gemacht. Doch die ungefilterte Luft, die sie jetzt einatmete, würde alles nur noch schlimmer machen. Er überlegte, ob er versuchen sollte, ihr den Anzug wieder überzustreifen, aber er wusste, dass es sinnlos wäre.
Chels einzige Hoffnung lag jetzt woanders.
Im schwachen Schein der Taschenlampe machte er sich an die Arbeit. Er zerstampfte Stücke von Buchenblättern, Buchenrinde, Buchenholz und Bucheckern und vermischte den Brei mit Kochsalzlösung und Enzymen zur Aufspaltung der Stärke. Dann zog er die Flüssigkeit in eine Injektionsnadel auf und spritzte sie Chel in eine Armvene. Sie reagierte kaum auf den Einstich.
»Du schaffst es«, sagte er mit beschwörender Stimme. »Bleib bei mir.«
Er warf einen Blick auf seine Uhr. Er schätzte, bis in zwanzig Minuten sollten erste Anzeichen einer Reaktion zu erkennen sein. Es war 23 Uhr 15.
***
Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob der Wirkstoff tatsächlich die Blut-Hirn-Schranke passiert hatte: Stanton musste eine Liquorpunktion vornehmen. Falls der Wirkstoff aus der Buche sich in der Rückenmarksflüssigkeit befand, musste er über das Herz ins Hirn gelangt sein und von dort in die das Gehirn umgebende Flüssigkeit.
Als die zwanzig Minuten um waren, führte Stanton vorsichtig eine Hohlnadel zwischen zwei Wirbeln ein. Er hatte Männer erlebt, die bei einer Liquorpunktion vor Schmerzen laut geschrien hatten. Chel ging es so schlecht, dass sie keinen Laut von sich gab.
Stanton träufelte jeweils ein paar Tropfen Spinalflüssigkeit auf sechs Objektträger und wartete. Dann schloss er die Augen und flüsterte nur ein einziges Wort: »Bitte!«
Er legte den ersten Objektträger unter das Mikroskop und studierte das Präparat ganz genau. Dann prüfte er den zweiten, dann den dritten.
Als er auch den sechsten und letzten Objektträger unter dem Mikroskop betrachtet hatte, lehnte er sich zurück, ratlos und niedergeschlagen.
In keinem der Präparate hatte er Moleküle des Wirkstoffs gefunden. Die aus dieser Buchenart gewonnene Substanz konnte die Blut-Hirn-Schranke ebenso wenig passieren wie alle bisher getesteten.
Eine tiefe Verzweiflung übermannte ihn. Er war kurz davor, einfach aufzugeben, sich hinzulegen und sich der Dunkelheit zu überlassen. Dann vernahm er seltsame Geräusche von der anderen Seite der Grabkammer.
Er sprang auf und lief zu Chel hinüber. Ihre Beine zuckten heftig und unkontrolliert. Sie hatte einen Anfall. Die Hitze und die hohe Konzentration von Prionen in der Kammer hatten den Krankheitsverlauf beschleunigt. Falls das Fieber noch weiter anstieg, würde sie es nicht überleben. »Bleib bei mir«, flüsterte er inbrünstig. »Bleib bei mir!«
Stanton durchwühlte seinen Rucksack nach dem Hemd, das er eingepackt hatte. Er riss es in Streifen, die er mit dem letzten Rest Wasser aus ihren Trinkflaschen tränkte. Doch bevor er ihr die feuchten Tücher auflegen konnte, um ihre Körpertemperatur zu senken, spürte er, dass ihre Stirn kühler wurde. Ihr Körper gab auf. Als er ihr am Hals den Puls fühlen wollte, fand er ihn fast nicht, so schwach war er.
Der Krampfanfall ließ langsam nach. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit betete Stanton, auch wenn er nicht wusste, zu wem. Der Gott, den er verehrte, seit er erwachsen war – die Wissenschaft –, hatte ihn im Stich gelassen. Und er selbst würde die vielen Tausend – wenn nicht gar Millionen – Menschen, die sich mit VFI infiziert hatten und daran sterben würden, im Stich lassen müssen, weil er kein Heilmittel gefunden hatte. Und so betete er für sie alle. Er betete für Davies und für Cavanagh und für alle anderen vom Seuchenzentrum. Er betete für Nina. Aber am inbrünstigsten betete er für Chel, für die er nichts mehr tun konnte, genauso wenig wie für alle anderen. Falls sie starb – wenn sie starb –, blieb ihm nur die Erkenntnis, dass er nicht genug getan hatte.
Er schaute auf die Uhr. 23 Uhr 46.
Die Totenschädel schienen ihn höhnisch anzugrinsen, schienen ihn zu verspotten, weil er nicht hinter ihr Geheimnis gekommen war. Er würde Chel nicht hier zurücklassen, in dieser Gruft, mit diesen Skeletten und den Schädeln mit den leeren, starrenden Augenhöhlen.
In diesem Moment durchzuckte ihn ein furchtbarer Gedanke: Er würde Chel im Dschungel begraben müssen. Er dachte an ihre Worte in der Nacht zuvor, als sie am Rand von Kiaqix ebenfalls eng aneinandergeschmiegt an einer Mauer gesessen hatten. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Sie hatte ihn gefragt, ob er wisse, warum die Maya Weihrauch verbrannten für ihre Toten.
Ohne den Rauch kann die Seele eines Toten nicht in die Unterwelt gelangen. Wir alle hier sind in einer Zwischenwelt gefangen.
Was konnte er verbrennen, um diesem Brauch Genüge zu tun?
Ihm fiel ein, dass auch Paktul von Weihrauch und Kräutern gesprochen hatte, die verbrannt wurden. Stanton erinnerte sich an die Passage:
Als ich den Ara absetzte und mich hinkniete, um den widerlichen Kalksteinboden zu küssen, hatte sich der Geschmack verändert, ich konnte ihn nicht mehr auf der Zunge schmecken so wie früher.
Es gab doch sicher einen Grund dafür, dass sich der Geschmack verändert hatte. Und wenn Paktul diese Veränderung bemerkt hatte, dann vielleicht deshalb, weil das Bittere fehlte …
Stanton stand auf, schob seine Arme unter Chel und hob sie hoch. Er musste sie nach draußen bringen.
Er trug sie aus der Grabkammer und durch den Gang. Als er an der ersten Treppe angelangt war, hob er Chel auf seine Schulter und begann den schwierigen, mühsamen Aufstieg.
Einige Minuten später trat er aus der Pyramide in die Nacht hinaus. Gut drei Meter von der Nordseite der Pyramide entfernt war eine kleine Lichtung, groß genug, um dort ein Feuer zu machen. Stanton vermutete, dass Volcy hier sein Lager aufgeschlagen hatte.
Er legte Chel in einer Vertiefung zwischen den Baumwurzeln ab und rannte auf die andere Seite der Pyramide, wo er hektisch alle Buchenzweige aufsammelte, die er finden konnte. Dann lief er zurück, warf den Haufen vor Chel hin und zündete ihn mithilfe von Reisig an. Es dauerte nicht lange, bis die Flammen zum Himmel züngelten. Der beißende Geruch des Buchenholzfeuers hing in der Luft.
Stanton setzte sich ganz nah ans Feuer und bettete Chels Kopf in seinen Schoß. Er nahm den Helm seines Schutzanzugs ab. Dann hielt er ihr mit Daumen und Zeigefingern die Augen so weit auf, wie es ging. Er zwang sich, auch selbst die Augen weit aufzureißen, obwohl sie bald vom Rauch zu tränen begannen. Wenn der VFI-Erreger durch die Netzhaut ins Gehirn gelangte, fand das Gegenmittel vielleicht auf die gleiche Weise den Weg dorthin.
Fünf endlose Minuten lang saß Stanton neben dem lodernden Feuer und starrte auf Chel hinunter, hoffend und bangend, in ihrem Gesicht forschend, ob sie eine Reaktion zeigte, irgendeine, und wenn sie auch noch so schwach wäre. Er strich ihr das Haar aus der Stirn, fühlte ihr den Puls. Er achtete nicht darauf, aber der Sekundenzeiger seiner Armbanduhr tickte auf die letzten zwei Sekunden der vierten Welt.
Es war Mitternacht.
Der 21. Dezember 2012.