14

In einer halben Phase des großen Sterns ist kein Regen gefallen, der uns Nahrung gegeben hätte. Die Felder von Kanuataba sind abgeerntet und erniedrigt, und das Wild und die Vögel und die Jaguar-Wächter des Landes sind verjagt worden. Die Hügel sind öde und kahl, Insekten schwärmen, und keine fallenden Blätter nähren noch den Boden. Die Tiere und Schmetterlinge und Pflanzen, die der Heilige Lebensspender uns gegeben hat, haben keinen Ort mehr, an dem sie weiterleben könnten. Die Tiere haben kein Fleisch mehr, das Essen liefern könnte.

Ich bin nicht adlig von Geburt, und deshalb gibt es vieles, das mir verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das ich nicht höre von dem, was die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden. Aber ich weiß, dass früher nirgendwo sonst im Hochland so prächtige Kapokbäume wuchsen wie in Kanuataba, Kapokbäume, die den Weg in die Unterwelt säumen. Nirgendwo sonst auf der Welt standen die von den Göttern gesegneten Kapokbäume dichter als hier, die Stämme berührten sich fast. Jetzt gibt es in ganz Kanuataba nicht einmal mehr ein Dutzend davon! Unser heiliger See ist ausgetrocknet und nur noch Schlamm. Das Wasser, das dazu gemacht wurde, aus Stein emporzuschießen, ist versiegt im Palast und in den Tempeln. Auf den Plätzen betteln die Unberührbaren, damit wir ihre nutzlosen, gesprungenen Töpfe, ihr faulendes Gemüse und ihre verdünnten Gewürze für das Fleisch kaufen, das sich nur die Adligen leisten können. Es gibt keine Agutis, keine Kinkajus, kein Wild, keine Tapire mehr. Die Kinder von Kanuataba werden mit jeder großen Reise der Sonne über den Himmel hungriger.

Mögest du mir vergeben, Affen-Schreiber, dessen Ring ich trage als Symbol meines Standes und zur Erinnerung an die Schreiber der Vergangenheit. Hier in Kanuataba beginne ich meine Aufzeichnungen auf dem jungfräulichen Rindenpapier, das ich dem König gestohlen habe. Ich habe wenig beigetragen zu den Büchern von Kanuataba. Ich bin der Erzieher des Königssohnes, und ich habe zweiundvierzig Bücher im Auftrag des Herrscherhauses gemalt. Aber jetzt male ich für das Volk, für die Kinder unserer Kindeskinder, es soll dies ein aufrichtiger Bericht dessen sein, was in der Zeit von Jaguar Imix über uns kam!

Vor zwei Sonnen, nach einer Nacht, in der der Viertelmond tief am Himmel stand, rief König Jaguar Imix zwölf der dreizehn Ratsmitglieder zu sich. Jacomo, der königliche Zwerg, der gleichermaßen wollüstig und klein ist, war ebenfalls anwesend. Ich kenne Zwerge draußen auf den Feldern, die Kanuataba nicht weniger lieben als jeder Mann von normaler Körpergröße. Aber dieser königliche Zwerg ist anders, viel schrecklicher. Jacomo ist unersättlich, ich habe ihn beobachtet, wie er die Rinde eines großen Baumes kaute und widerliche Flüssigkeit aus seinem Mund in die Schale in seinem Schoß spie. Ich habe ihn vor Kurzem gesehen, wie er Frauen verführte, indem er ihnen Brosamen aus seinem Bart versprach, er nötigte sie, ihm zu Willen zu sein, und sie taten es, damit sie Essen für ihre hungrigen Kinder hatten.

Von den dreizehn Ratsmitgliedern war mein Freund Auxila, Verwalter der Vorräte und königlicher Aufseher über die Tiere und die Ackerflächen, als Einziger nicht anwesend. Vor fünf Sonnen, bei unserer letzten Zusammenkunft, brachte Auxila den König gegen sich auf, und jetzt schien er dafür zu büßen. Auxila ist ein guter Mann, und als Handelsratgeber des Königs weiß er gut Bescheid über die königlichen Finanzen. Ich würde diese Bürde niemals tragen wollen. Die Besitztümer eines Königs zu kennen heißt, die Grenzen von dessen Macht zu kennen.

Galam, der die Beschlüsse von König Jaguar Imix verkündet und für zehn Drehungen des Kalenderrades Hüter des Tages ist, eröffnete die Versammlung:

– Beim Worte von Jaguar Imix, bei seinem heiligen Worte, wir beginnen diese Versammlung zu Ehren des neuen geheiligten Gottes mit Namen Akabalam. Akabalam besitzt große Macht. Jaguar Imix verfügt hiermit, dass wir Akabalam bis ans Ende aller Tage verehren. –

Ich bin der Erzieher von Prinz Rauch Lied, dem nächsten Herrscher von Kanuataba, und ich kenne alle bedeutenden Bücher auswendig. Ein Gott namens Akabalam wird in keinem davon erwähnt. Ich fragte den Hüter des Tages:

– Welche Gestalt nimmt der Gott Akabalam an? –

– Wenn Jaguar Imix die Zeit für Erklärungen für gekommen hält, werde ich es den Rat wissen lassen, Paktul. Ich kann nicht so tun, als verstünde ich, was seine Heiligkeit von der Welt weiß. –

Und so beteten wir und verbrannten dem neuen Gott zu Ehren Weihrauch. Ich nahm mir vor, die großen Bücher von Kanuataba zu studieren und mich selbst auf die Suche nach der Gottheit Akabalam zu machen. Weil ich verstehen wollte, welcher Gott sich seiner Heiligkeit, dem König, geoffenbart hatte.

Galam, der Hüter des Tages, sprach:

– Ich verkünde hiermit den Beschluss des Königs, mit dem Bau einer großen neuen Pyramide nach Art der versunkenen Stadt von Teotihuacan zu beginnen, wo er dereinst bestattet werden wird. Das Fundament soll in zwanzig Tagen gelegt werden, weniger als tausend Schritt vom Palast entfernt. Der Turm für die Aufbahrung soll dergestalt errichtet werden, dass er zum höchsten Punkt des Sonnenstandes hin liegt und ein großes heiliges Dreieck mit dem Palast und der roten Zwillingspyramide bildet. –

Meine Brüder klatschten zwei Mal in die Hände, als Zeichen der Anerkennung für den ruhmreichen Jaguar Imix. Doch als die Reihe an mir war, zwei Mal in die Hände zu klatschen, fragte ich Galam, den heiligen Boten, ob der Bau einer Pyramide klug sei in einer Zeit, in der kein Regen fällt:

– Die Menschen von Kanuataba haben nichts zu essen, und auch jene, die man zur Arbeit heranziehen wird, um Steine zu schleppen, werden Hunger leiden. Für den Bau eines Tempels wird Gips benötigt, für dessen Herstellung unsere kostbarsten Bäume und Pflanzen verbrannt werden müssen, damit dem Gestein Wasser entzogen wird. Unsere Pflanzenwelt wird von Tag zu Tag spärlicher. Der See ist zu einer Pfütze geschrumpft, und unsere Wasserspeicher leeren sich. –

Jacomo, der wollüstige Zwerg, sprach voller Zorn zu mir:

– Du sollst wissen, Paktul, dass dem König Jaguar Imix vom Gott Akabalam geweissagt wurde, dass wir, geleitet vom Abendstern, einen Sternenkrieg gegen ferne Königreiche führen werden. Wir werden Sklaven und kostbare Dinge erobern. Unsere Soldaten haben einen neuen Weg gefunden, Lebensmittel haltbar zu machen, indem sie nämlich ihre Vorräte stärker salzen, und so werden wir selbst in weit entfernten Ländern Krieg führen können. Die große Dürre hat diese Städte geschwächt, sie sind nicht mehr imstande, sich gegen unser mächtiges Heer zur Wehr zu setzen. Jetzt wirst du verstehen, warum es dir nicht zusteht, den König infrage zu stellen! –

Es gab keinen Einwand mehr. Jaguar Imix’ Macht leitet sich von seiner Fähigkeit ab, sich mit den Göttern zu verständigen, und diese Fähigkeit, je nachdem, wie ausgeprägt sie ist, entscheidet auch über den Rang eines jeden Ratsmitglieds. Dies nennen wir die Hierarchie des Göttlichen. Vernimmt Jaguar Imix die Stimme einer Gottheit, die ihm sagt, dies oder jenes sei so und nicht anders, und einer seiner Günstlinge vernimmt jene Stimme nicht, so gilt dieser als jemand, der nicht mit den Göttern reden kann. Er wird in der Hierarchie des Göttlichen herabgestuft oder sein Rang wird ihm gar aberkannt.

Aber woher sollen das Wasser und das Holz und der Federschmuck für den Bau einer dreißig Mann hohen Pyramide kommen?

Seine Heiligkeit behauptet, in fünf Perioden zu dreizehn Tagen, wenn der Abendstern näher zum Mond sinkt, werde der Regen kommen. Aber wird das tatsächlich so sein?

Jaguar Imix würde unsere gesamten Wasserspeicher leer trinken, wenn Wasser in solcher Menge durch ihn hindurchfließen und ihn heiligen könnte; er glaubt nämlich, dass seine Heiligung der Weg zu unserer Rettung ist. Kein königlicher König von Kanuataba, Herrscher von der Götter Gnaden, kann böse sein – ich habe es selbst auf den steinernen Inschriften gesehen. Aber seine Heiligkeit ist unfähig, einen Fehler einzugestehen. Jaguar Imix glaubt, seine Macht ist so groß wie die Angst, die er den Menschen einzuflößen vermag.

Ich wünschte so sehr, ich könnte ihn noch mit der gleichen Inbrunst verehren, wie ich es als Kind tat!

Die Ratsversammlung löste sich auf. Wir verließen die Galerie und traten auf die breiten Stufen oberhalb des Königspalastes. Dort stand ich und sah etwas, was meinen Glauben für alle Zeit erschüttern sollte.

Die Menschen vor dem Palast sangen, und ich sah Scharfrichter oben auf dem südlichen Zwillingsturm. Die blau bemalten Scharfrichter begannen mit ihrem Ritual. Der Lärm kam und ging, auf und ab, laut und leise. Die Stimmen der königlichen Scharfrichter steigerten sich zu einem schrillen, fast ohrenbetäubenden Kreischen, als der Platz in mein Blickfeld kam.

Am Fuße der weißen Zwillingspyramide, nach Norden hin, hatte sich eine kleine adlige Menge versammelt. Händeklatschen scholl über den Platz. Die Farben der großen Pyramide, das Gelb, Rot und Gold, schimmerten wie die Sonne über einem blauen Meer, das wogte, als ob die Bestie, die in der Tiefe wohnt, sich erhoben hätte. Die blau bemalten Männer standen ganz oben auf den dreihundertfünfundsechzig Stufen. Einige schwenkten Räuchergefäße, aus denen der Rauch sich kräuselte.

Der königliche Scharfrichter sprach:

– Der große Akabalam empfiehlt diese Seele dem Reich des Himmels! –

Akabalam. Wieder er! Der unbekannte Gott hat ein weiteres Opfer gefordert, dieses Mal in Gestalt einer Menschenseele.

Als der königliche Scharfrichter die Feuersteinklinge in den Oberkörper des Mannes stieß und den Brustkorb aufriss, stieß der Mann auf dem Altar ein Wehklagen aus, das mir für alle Zeit in den Ohren gellen wird. Und während der Scharfrichter in die geöffnete Brust griff, um dem Sterbenden das Herz herauszureißen, vernahmen wir trotz des Tumultes die Stimme des Opfers, und seine Worte waren Vorboten dessen, was kommen würde, so düster wie das Ende des dreizehnten Zyklus:

– Akabalam ist nichts als Lüge! –

Ich erkannte die Stimme sofort. Es war Auxila, mein Freund, dreitausend Sonnen lang ein Vertrauter und Ratgeber des Königs, der geopfert worden war. Ein Klingeln dröhnte in meinen Ohren. Ich sah, wie das Leben aus Auxila wich, und überall sah ich Vorzeichen in den Wolken.

Die Götter forderten nur ein einziges Mal binnen fünfzehntausend Sonnen, dass ihnen ein hoher Adliger geopfert wurde. Konnte es Zufall sein, dass die Götter nur fünf Tage, nachdem Auxila sich gegen die Pläne des Königs ausgesprochen hatte, ein Menschenopfer verlangten?

Gibt es solche Zufälle?

Hinter der lärmenden Menge sah ich Haniba, Auxilas Frau. Sie stand da wie versteinert und sah zu, wie die Scharfrichter ein weiteres Mal um den Leichnam herumschritten. Mein Herz war voller Kummer für sie und für ihre Kinder, Geflammte Feder und Schmetterling Ohnegleichen, die weinend neben ihr standen.

Die blutbesudelten Priester schafften Auxilas Leichnam zurück in den Tempel. Sie erwiesen ihm nicht einmal die Ehre, ihn die Stufen der großen Pyramide hinunterzuwerfen. Sie entzogen die Leiche den Blicken aller, und ich wusste, sie würden erst in der schwärzesten Nacht wieder herauskommen, dann, wenn der Abendstern im vollkommenen Winkel zum Tempel stand.

Wie ich so auf den Stufen des Königspalastes verharrte und Zeuge dieses Irrsinns wurde, fasste mich plötzlich jemand von hinten am Knie. Ich drehte mich um. Es war Jacomo, der Zwerg, der hinzugetreten war. Er kaute immer noch auf seinem Stück Rinde herum und lächelte.

Er sprach:

– Gelobt sei der Name von Jaguar Imix, dem heiligen Herrscher von Kanuataba, dessen Weisheit uns durchs Leben führt. So sei es, nicht wahr, Paktul? –

Ich hätte ihn am liebsten geschlagen, aber ich bin kein Mann der Gewalt. Und so antwortete ich nur:

– Gelobt sei der Name von Jaguar Imix, dem heiligen Herrscher von Kanuataba, dessen Weisheit uns durchs Leben führt. –

Erst als ich in dieser Höhle war, wo ich begann, das geheime Buch zu malen, ließ ich den Schrei entweichen, den ich in mir gefangen gehalten hatte.

Nur die Götter hörten ihn.

Was soll ich von einem Gott halten, der uns keine segensreichen Gaben gebracht hat, der den Bau eines Tempels befiehlt, den wir nicht errichten können, und der den Tod eines Mannes fordert, der dem König treu ergeben war? Wer ist dieser mächtige und geheimnisvolle neue Gott namens Akabalam?

Загрузка...