21
Chel raste Richtung Westen, ohne die Plünderer, die Brände, die verlassenen Fahrzeuge ringsherum wahrzunehmen.
»Er hätte einer von ihnen sein können.« Rolandos Stimme drang abgehackt aus ihrem Bluetooth. Er meinte damit, dass der Schreiber aus der versunkenen Stadt einer der drei Gründer von Kiaqix hätte sein können. Heute erschien ihr diese Idee schon nicht mehr ganz so absurd, wie es tags zuvor noch der Fall gewesen wäre.
Dennoch antwortete sie: »Wir wissen doch nicht einmal, ob diese Stadt tatsächlich existiert hat.«
»Sein Krafttier ist ein Ara. Tausende von diesen Vögeln an einem Ort würde er doch garantiert als gutes Omen deuten, meinst du nicht?«
Chel erwiderte nichts darauf. Im Geist modelte sie die überlieferte Legende zur historischen Tatsache um: Ein Adliger und seine beiden Ehefrauen fliehen aus einer Stadt, die ihrem Untergang entgegengeht, in den Urwald. Am dritten Tag ihrer Wanderung kommen sie zu einer Lichtung, wo sich auf den Bäumen ringsum hunderte scharlachrote Aras niedergelassen haben. Da sie wie alle Maya des Altertums an die große übernatürliche Macht von Vögeln glauben, sind sie überzeugt, dass dies ein vom Glück begünstigter Ort ist. Sie beschließen zu bleiben, und so wird Kiaqix gegründet.
»Wenn wir den Kodex vollständig dechiffriert haben, stellt sich vielleicht heraus, dass Paktul diese beiden jungen Mädchen geheiratet und mit ihnen dein Dorf gegründet hat«, fuhr Rolando fort.
Ein leises Knacken, und seine Stimme verlor sich wieder. Chel musste einem Auto ausweichen, das verlassen vor den La Brea Tar Pits stand, einem natürlichen Asphaltvorkommen mitten in der Stadt. Während der letzten Eiszeit waren Tausende von Tieren in der blubbernden Masse stecken geblieben und vom Mastodon bis zum Säbelzahntiger versteinert. Chel fragte sich, was in zehntausend Jahren wohl von den Menschen übrig sein würde.
Sie fuhr den Wilshire Boulevard hinunter. Jede freie Fläche war mit Graffiti vollgesprüht. Da die Polizei Wichtigeres zu tun hatte, nutzten die Sprayer die Gunst der Stunde. Chel erkannte die Tags genannten Signaturen der Crips, einer Gang in L.A., sowie von einigen anderen, die den Graffiti-Künstler Banksy nachahmten, und die Initialen von unbekannten Sprayern. Dann, westlich der La Brea Avenue, sah sie etwas an ein Gebäude geschmiert:
Der Maya-Gott Gukumatz, die gefiederte Schlange, wurde manchmal dargestellt als Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein Sinnbild für die Ernte, für den immer wiederkehrenden Zyklus der Zeit, für die Verwurzelung der Maya in ihrer Vergangenheit. Bei den alten Griechen hieß diese Schlange Uroboros und versinnbildlichte etwas ganz Ähnliches. Aber Chel wusste, dass derjenige, der dieses Zeichen an die Wand gesprüht hatte, etwas anderes im Sinn gehabt hatte. Die 2012er hatten sich Gukumatz zu eigen gemacht, nicht als Symbol der Erneuerung, sondern der Zerstörung, die das Ende der Langen Zählung mit sich bringen würde – als Warnung, dass alle nach dem Schöpfungsmythos der Maya bisher erschaffenen Menschenarten ausgelöscht, von der unerbittlichen Schlange Zeit verschlungen würden.
Endlich stoppelte sich das Signal wieder zusammen, und sie konnte Rolando wieder hören. »Hallo? Bist du noch da, Chel?«
»Ja, ich bin noch da. Tu mir einen Gefallen und hol Victor ans Telefon.«
»Versuch’s auf seinem Handy. Er ist nach Hause gegangen, um irgendeinen Artikel aus den 1970er-Jahren zu suchen, der uns bei der Dechiffrierung der Akabalam-Glyphe helfen könnte. Anscheinend hortet er alte Ausgaben jahrzehntelang.«
»Ja, ich weiß.«
»Wann bist du wieder zurück?«
»Ich komme so schnell ich kann.«
»Wo fährst du hin?«
»Es gibt nur einen Menschen, der mehr über Kiaqix weiß als ich, und zu dem will ich jetzt.«
***
Die massiven Bronzetüren der Kathedrale Our Lady of the Angels waren Chel noch vor wenigen Tagen als Inbegriff der Verschwendung vorgekommen. Jetzt war sie dankbar dafür. Sie hieb mit der flachen Hand ein paar Mal dagegen. Als die Tür endlich geöffnet wurde, blickte sie in den Lauf einer Waffe.
»Mein Gott, Jinal, ich bin’s! Chel.«
»Entschuldige«, erwiderte er auf Qu’iche. Er steckte die Waffe ins Holster zurück. Chel schlüpfte an ihm vorbei, und er schloss die Tür sofort wieder. »Es hat Ärger gegeben. Da sind ein paar Typen aufgetaucht, Demonstranten, die uns über die Grenze zurückbringen wollen. Du kennst doch Karana Menchu? Ihre Medikamente sind ausgegangen, sie wollte neue kaufen, also ist sie durch den Hintereingang raus, aber diese Typen haben sie entdeckt und sie herumgeschubst.«
»Ist ihr etwas passiert?«
»Nein, nicht schlimm, aber sie hat geweint, weil sie Angst bekommen hat.«
»Hast du die Polizei gerufen?«
Jinal nickte. »Ja, aber wir stehen ziemlich weit unten auf ihrer Liste der vordringlichen Aufgaben.«
Chel sah den jungen Mann besorgt an. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sie kannte Jinal, seit er 2007 aus Honduras, wo er jahrelang auf den Tabakplantagen gearbeitet hatte, nach L.A. gekommen war. Sie berührte ihn sanft am Arm. »Danke, dass du auf die anderen achtgibst, Jinal.«
»Das ist doch selbstverständlich.«
»Hast du meine Mutter irgendwo gesehen?« Chel hatte es endlich geschafft, Ha’ana zu überreden, in der Kirche Zuflucht zu suchen.
Wieder nickte der junge Mann. »Ich glaube, sie ist bei den anderen im Hauptaltarraum.«
Chel eilte an den Büros der Geistlichen und an der Treppe vorbei, die zum Mausoleum hinunterführte, wo Gutierrez ihr das alte Buch gegeben hatte. In der Cafeteria waren einige Mitglieder der Fraternidad, alle mit Schutzbrillen, dabei, das Essen für die große Gruppe zu kochen. Als sie in den Altarraum kam, atmete sie den bittersüßen Duft aus den Rauchfässern ein, der ihr hier jedes Mal entgegenschlug. Früher war die süßliche Krotonpflanze verwendet worden, aber die heutigen Maya nahmen lieber Kopalharze. Deren herber Geruch schien besser zu passen, sollte er doch an all jene erinnern, die ihr Leben für die Ureinwohner geopfert hatten.
Luis, einer der jüngeren Hüter des Tages, sprach gerade ein Gebet: »Diese Geister müssen gereinigt werden, damit die Menschen träumen können. Bewahre die Menschen davor, sich selbst zu zerstören. Übergib sie der Mutter Erde, damit sie von Neuem eins werden mit ihren Krafttieren.«
Für die Maya war der Schlaf eine religiöse Erfahrung, eine Zeit, in der die Menschen mit den Göttern in Verbindung traten. Schlaflosigkeit galt als Zeichen mangelnder Frömmigkeit. Chel wusste, dass viele hier glaubten, VFI sei eine Strafe der Götter. In diesem Punkt hatten sie mehr mit den aufgebrachten Demonstranten draußen gemein, als sie ahnten.
Chel überschlug rasch, wie viel Schlaf sie in den vergangenen vier Tagen gehabt hatte. Hin und wieder hatte sie ein kurzes Nickerchen auf dem Sofa in ihrem Büro gemacht, aber alles in allem gab es da keinen großen Unterschied zwischen ihr und jemandem im Anfangsstadium von VFI. Sie glaubte zwar nicht an die Götter ihrer Vorfahren, aber sie hatte schon das Gefühl, dass sie bestraft wurde.
Ein älterer Mann in einer schwarzer Hose und einem grauen Hemd mit Button-down-Kragen kam durch den Mittelgang auf sie zu. Da jeder hier einen Augenschutz trug, war es schwierig, die Leute auseinanderzuhalten. Erst als der Mann näher kam, erkannte sie ihn an seinem weißen Bart. Es war Maraka. Chel hatte ihn nicht oft in westlicher Kleidung gesehen.
»Chel!« Er umarmte sie. »Du bist wohlauf! Gott sei Dank.«
»Hüter des Tages«, flüsterte sie.
Maraka blickte zum Predigtpult hin. »Luis betet seit Stunden ununterbrochen.« Er machte sich nicht die Mühe, leise zu sprechen. »Meiner Meinung nach übertreibt er es. Die Götter sind allmächtig. Sie hören uns schon beim ersten Mal, glaub mir.«
Chel brachte ein Lächeln zustande.
»Aber ich nehme an, du bist nicht zum Beten hergekommen.«
»Ich muss mit meiner Mutter reden.«
Maraka zeigte ans andere Ende des Altarbereichs, wo ein paar Frauen in den Bänken saßen.
Als Chel näher kam, blickte Ha’ana von ihrer Zeitschrift auf. Ein Ausdruck der Erleichterung trat in ihr Gesicht, als sie ihre Tochter sah. Sie sprang auf und drückte Chel fest an sich. Dass Ha’ana in der Kirche eine Illustrierte las, wunderte Chel nicht, die herzliche Umarmung dagegen schon. Es war Jahre her, dass ihre Mutter sie so in die Arme geschlossen hatte. Ihr war, als bräche ein Damm in ihr, und plötzlich drohte die Müdigkeit sie zu übermannen.
»Du siehst aus, als hättest du überhaupt nicht geschlafen«, stellte Ha’ana besorgt fest.
»Ich habe gearbeitet.«
»Immer noch? Das ist doch lächerlich, Chel! Was kann denn so wichtig sein?«
***
Die beiden Frauen fanden ein kleines, leeres Klassenzimmer mit hufeisenförmig angeordneten Stühlen im westlichen Flügel der in Form eines Kreuzes erbauten Kathedrale. An jeder Wand hingen Aquarelle des heiligen Josef. Chel hatte es sich anders vorgestellt, wenn sie ihrer Mutter das alte Buch zeigen würde, aber sie hatte keine Wahl. Sie erzählte Ha’ana, was für eine Verbindung bestand zwischen dem Buch und dem Ausbruch der Krankheit und welche Rolle Kiaqix bei der Suche nach dem Infektionsherd spielte. Von ihren eigenen Problemen, dem Verfahren, das gegen sie eingeleitet werden würde, und von der drohenden Kündigung im Museum, sagte sie nichts. Dazu war jetzt keine Zeit. Außerdem wollte sie ihrer Mutter nicht gerade jetzt einen Grund geben, von ihr enttäuscht zu sein.
Chel scrollte schnell durch die Seiten der Bilderhandschrift auf ihrem Laptop. Ha’anas Miene blieb ausdruckslos. Sie ließ nicht erkennen, welche Gefühle der Anblick des alten Buches oder die Nachricht, dass der VFI-Erreger möglicherweise seinen Ursprung in ihrem Heimatdorf hatte, in ihr auslöste.
Schließlich sagte Chel: »Jetzt weißt du, Mom, warum es so wichtig ist, dass du versuchst, dich an alles zu erinnern, was damals passiert ist, als Cousin Chiam sich auf die Suche nach der versunkenen Stadt gemacht hat.«
Ha’ana legte ihre Hand auf Chels Arm. »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Das weißt du hoffentlich. Jetzt weiß ich, dass meine Sorgen begründet waren. Das alles muss dich schrecklich belasten.«
»Mir geht’s gut, Mom. Bitte, Mom, versuch dich zu erinnern.«
Ha’ana stand auf und trat langsam ans Fenster. Chel machte sich schon darauf gefasst, dass ihre Mutter sich wie sonst immer weigern würde, in der Vergangenheit zu wühlen, und legte sich im Geiste schon Argumente zurecht, um ihr die Dringlichkeit der Situation vor Augen zu führen.
Doch zu ihrer Überraschung war das gar nicht nötig.
»Der Cousin deines Vaters war der beste Fährtenleser in Kiaqix«, begann sie. »Er konnte ein Stück Wild meilenweit durch den Urwald verfolgen. Schon als wir noch Kinder waren, galt er als der beste Jäger im Dorf. Dann kamen die Soldaten nach Petén. Sie haben die indígenas auf offener Straße ermordet. Sie auf dem Kirchturm erhängt oder bei lebendigem Leib angezündet. Nachdem die Armee bis nach Kiaqix vorgerückt war und dein Vater verhaftet wurde, hat Chiam seinen Platz eingenommen. Er hat den Leuten im Dorf die Briefe deines Vaters aus dem Gefängnis vorgelesen.«
Chel wagte nicht, sie zu unterbrechen. So freimütig hatte ihre Mutter seit vielen Jahren nicht über die Vergangenheit oder über die Briefe aus dem Gefängnis gesprochen.
»Chiam war militanter als dein Vater«, fuhr Ha’ana fort. »Er hat uns harte Strafen angedroht, falls wir für einen ladino arbeiten würden, und er hat geschworen, so viele wie irgend möglich von ihnen zu töten. Er wollte sie abschlachten, so wie sie uns abgeschlachtet haben. Was dein Vater in seinen Briefen geschrieben hat, ging ihm nicht weit genug. Obwohl die beiden so manchen Streit ausgetragen haben, standen sie sich sehr nah. Als Alvar verhaftet wurde, wusste ich, dass Chiam alles versuchen würde, um ihn aus dem Gefängnis zu holen. Manchmal konnte man einen Gefangenen freikaufen, wenn der Preis stimmte. Chiam hat also Verbindung mit den Wärtern in Santa Cruz aufgenommen. Der Preis für deinen Vater war hunderttausend Quetzal.«
Jetzt stand auch Chel auf. »Das war also der Grund, warum sich Chiam auf die Suche nach der versunkenen Stadt gemacht hat. Warum hast du mir das nie erzählt?«
»Chiam wollte nicht, dass irgendjemand von seinen Geschäften mit den ladinos erfährt, auch wenn er es nur getan hat, um seinem Cousin zu helfen. Außerdem wäre er, falls er etwas finden sollte, nicht stolz darauf, die Gräber unserer Vorfahren zu plündern, um den Feind zu bestechen. Aber er hat sich trotzdem auf die Suche gemacht. Als er nach zwanzig Tagen zurückkam, hat er uns erzählt, was er entdeckt hat. Er sagte, er hätte so viel Gold und Jade gefunden, dass ganz Kiaqix fünfzig Jahre davon leben könnte.«
Chel wusste, wie die Geschichte weiterging. Chiam erzählte den Dorfbewohnern, dass die Seelen ihrer Vorfahren immer noch tief im Dschungel lebten; sie zu bestehlen hieße, die Götter zu erzürnen. Die versunkene Stadt sei ein spirituelles Tor zur anderen Welt und ein Beweis für die einstige Größe der Maya, die sie vielleicht eines Tages wiedererlangten. Nun da er die Ruinen mit eigenen Augen gesehen habe, bringe er es nicht über sich, auch nur einen einzigen Stein oder ein einziges Kunstwerk von dort wegzutragen.
Keiner glaubte ihm. Keiner nahm ihm ab, dass er kostbare Schätze gefunden und sie einfach dort gelassen hatte. Nachdem er tagelang verspottet worden war, erklärte Chiam, er werde eine Mannschaft zusammenstellen und in den Dschungel zurückkehren, um zu beweisen, dass er kein Lügner war. Doch dazu kam es nicht mehr. Er wurde zusammen mit einem Dutzend weiterer Männer aus ganz Petén festgenommen und wegen umstürzlerischer Aktivitäten gehängt.
»Chiam hat viele Einzelheiten erwähnt«, fuhr Ha’ana fort. »Er hat von einander gegenüberliegenden Zwillingstempeln geredet und von einem großen Innenhof mit riesigen Säulen ringsherum, wo sich unsere Vorfahren getroffen hätten, um über Politik zu diskutieren. Kaum zu fassen, nicht wahr? Er dachte, er würde uns mit seinen Geschichten klarmachen, dass wir genauso klug sind wie die ladinos. Aber er hat es nicht schlau genug angefangen; alle wussten, dass er gelogen hat. Er war ein guter, warmherziger Mann, aber seine Geschichte war von Anfang bis Ende erfunden.«
»Ein Innenhof, sagst du? Mit riesigen Säulen?«
»Ja, so was Ähnliches«, erwiderte Ha’ana achselzuckend.
»Wie hoch waren die Säulen? Hat er das auch gesagt? Neun Meter? Zehn?«
»Er hätte auch hundert Meter sagen können. Kein Mensch hat hingehört.«
Paktul hatte einen Innenhof beschrieben, der von einem Säulengang umgeben war, und jede Säule war sechs oder sieben Mann hoch. Während es Zwillingstempel in Dutzenden antiker Maya-Städte gab, kamen so hohe Säulen nur an einem oder zwei Orten in Mexiko vor. In Guatemala waren sie höchstens halb so hoch.
»Er hat sie vielleicht doch gefunden«, murmelte Chel vor sich hin.
»Ach, Chel!«
Chel setzte zu einer Erklärung an, aber ihre Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die versunkene Stadt ist ein Mythos. Wie alle versunkenen Städte.«
»Wir haben schon versunkene Städte entdeckt, Mom. Es gibt sie tatsächlich.«
Ha’ana holte tief Luft. »Ich weiß, dass du das gern glauben willst, Chel.«
»Es geht nicht um mich«, erwiderte sie mit Nachdruck.
»Alle in Kiaqix wollen das glauben«, fuhr ihre Mutter ungerührt fort. »Sie belügen sich selbst, weil sie damit etwas haben, an dem sie sich festklammern können, etwas, was ihnen Hoffnung gibt. Aber deshalb bleibt die Geschichte von der versunkenen Stadt doch das, was sie ist – eine alberne Geschichte, erfunden von Menschen, die es nicht besser wissen. Ich habe dich nicht hierher gebracht und dich großgezogen, damit du genauso wirst wie sie!«
Ha’anas Bereitschaft, über Chiam zu sprechen, hatte Chel erstaunt, aber jetzt begriff sie, dass sich nichts geändert hatte. Ha’ana war immer noch dieselbe Frau, die ihre Heimat verlassen und alles aufgegeben hatte, woran ihr Mann geglaubt hatte. Dieselbe Frau, die seit dreiunddreißig Jahren versuchte zu vergessen, was geschehen war, und die die Bedeutung ihrer Kultur und ihrer Tradition leugnete.
»Vielleicht glaubst du nicht an die versunkene Stadt, weil du Angst davor hast, was es für dich bedeuten würde, Mom.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ach, vergiss es.« Es hatte ja doch keinen Sinn. »Ich muss los. Ich habe noch eine Menge zu erledigen.«
Wie spät war es eigentlich?
Chel blickte auf ihr Handy und sah, dass eine E-Mail von Stanton gekommen war:
Ich weiß, dass Sie sich melden, wenn es etwas Neues gibt; wollte mich nur vergewissern, dass es Ihnen gut geht. G.
Sie las die Nachricht ein zweites Mal. Irgendwie gefiel ihr der Gedanke, dass er sich offenbar um sie sorgte.
»Hast du allen Ernstes vor, nach diesen Ruinen zu suchen?«, fragte Ha’ana. »Ausgerechnet jetzt, wo diese Seuche ausgebrochen ist?«
»Genau deswegen müssen wir sie ja suchen, Mom.«
»Und wie?« Ihre Mutter runzelte die Stirn.
»Zum Beispiel per Satellit«, sagte Chel nachdenklich. »Oder vom Boden aus, wenn es nicht anders geht.«
»Sag mir bitte, dass du nicht vorhast, selber in den Dschungel zu gehen, Chel.«
»Wenn die Ärzte mich dort brauchen, fahre ich hin.«
»Das ist zu gefährlich! Du weißt, dass das zu gefährlich ist!«, sagte ihre Mutter beschwörend.
»Vater hatte auch keine Angst, als er getan hat, was er tun musste.«
»Dein Vater war ein Tapir. Ein Tapir kämpft, aber er läuft nicht blindlings in das Reich des Jaguars, damit er dann von dem zerfleischt wird.«
»Und du warst ein Fuchs«, entgegnete Chel hitzig. »Ein Graufuchs, der keine Angst hat vor den Menschen, nicht einmal vor denen, die ihn jagen. Aber du hast den Geist deines wayob verraten, als du Kiaqix verlassen hast.«
Ha’ana wandte sich ab. Es war eine schwere Beleidigung, einem Maya vorzuhalten, er sei seines wayob nicht würdig. Chel bereute ihre Worte, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Auch wenn ihre Mutter eine angespannte Beziehung zum Land ihrer Vorfahren haben mochte, so war ihr wayob nach wie vor ein Teil von ihr.
»Du hilfst vielen Menschen hier«, sagte Ha’ana nach einer Weile. »Aber wie ich höre, kommst du jedes Mal erst wenn die Zeremonie schon vorbei ist. Tief drin glaubst du genauso wenig an die Götter wie ich. Vielleicht sind wir uns ähnlicher, als du denkst.«