33

Es war kurz nach Mitternacht. Chel wiegte Sama in ihren Armen und schaute zu, wie Initia Teig zu Fladen flach drückte. Stanton war bei den Kindern und untersuchte sie, um ganz sicherzugehen, dass keines irgendwelche Krankheitssymptome zeigte. Als Yanala kam und Sama holte, damit auch sie untersucht werden konnte, gab Chel ihr die Kleine nur widerstrebend.

Als sie mit Initia allein war, erzählte sie ihr von dem Überfall im Krankenhaus. »Ein ladino hat mich angegriffen, ich glaube, er war infiziert. Meine Mutter hat mich gewarnt. Sie hat gesagt, sie würden hier sein, aber ich habe ihr nicht geglaubt. Jetzt weiß ich, dass sie recht hatte.«

»Nein, Chel, dieser Mann war hier, weil er uns helfen wollte.«

»Was?« Chel starrte sie ungläubig an.

»Die Gruppe einer Kirchengemeinde der ladinos hat uns Lebensmittel und andere Vorräte gebracht, als sie erfahren haben, dass die Menschen hier krank sind. Sogar ein Arzt ist mitgekommen. Diese ladinos wollten uns helfen. Sie trifft keine Schuld. Sie nicht und auch nicht die indígenas, die verflucht waren. Ein Mensch, der nicht mehr schlafen kann und deshalb keine Verbindung mehr zu den Göttern hat, verliert sich selbst, egal, wer er einmal war. Das würde jedem von uns genauso gehen. Es tut mir leid, dass der Fluch diesen Mann dazu gebracht hat, dich anzugreifen, aber ich weiß, er ist mit den besten Absichten hierhergekommen.«

Chel dachte an Rolando, und eine ungeheure Traurigkeit erfasste sie.

»Ich kann es dir oder deiner Mutter nicht verdenken, dass ihr so schlecht über die ladinos denkt«, fuhr Initia fort. »Deine Mutter musste ihretwegen sehr viel durchmachen. So etwas kann man nicht vergessen.«

Chel sah im Geist den missbilligenden Gesichtsausdruck ihrer Mutter vor sich. »Sie versucht schon lange, jede Erinnerung an Kiaqix zu verdrängen. Sie wollte nicht, dass ich hierher fahre. Und sie glaubt auch nicht, dass wir die versunkene Stadt jemals finden. Chiam, Vaters Cousin, hätte das alles nur erfunden, sagt sie. Es gäbe überhaupt keine versunkene Stadt.«

Initia seufzte. »Wer weiß das schon so genau. Ich habe viele Jahre nicht mehr an Chiam gedacht.«

Chel fragte sich, woran ihre Tante sich wohl noch erinnerte. »Warst du dabei, als Chiam den anderen die Briefe meines Vaters vorgelesen hat?«

»Die Briefe deines Vaters?« Initia machte ein verwirrtes Gesicht.

»Die, die er aus dem Gefängnis geschrieben hat.«

»Ach so. Ja. Ja, ich war dabei, als sie vorgelesen wurden.«

Chel hörte das Zögern in ihrer Stimme. »Was ist?«

»Nichts. Ich bin alt, weißt du, ich kann mich nicht mehr so genau erinnern.«

»Du erinnerst dich ganz genau.« Chel berührte sie am Arm. »Was ist? Was verschweigst du mir?«

»Ich bin sicher, es gibt einen Grund dafür«, murmelte Initia mehr zu sich selbst.

Chel ließ nicht locker. »Einen Grund wofür? Sag mir, was du denkst.«

»Die Geschichte von den Briefen hat dir Kraft gegeben und dir Mut gemacht«, sagte Initia. »Und genau das wollte sie erreichen.«

»Die Briefe sind nicht nur irgendeine Geschichte«, widersprach Chel. »Es gibt sie tatsächlich. Ich habe mit Leuten gesprochen, die dabei waren, als sie vorgelesen wurden, und die haben mir erzählt, sie hätten die anderen zum Widerstand ermutigt.«

»Ja, das stimmt, das haben die Briefe tatsächlich getan.«

»Also was?«

Ihre Tante verschränkte die Hände ineinander wie zum Zeichen der Buße. »Ich weiß nicht, warum deine Mutter dir das nie erzählt hat, Kind. Ha’ana ist eine kluge Frau, Ati’t par Nim, der schlaue Graufuchs, ihr Krafttier. Aber du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.«

»Ich verstehe nicht, Tante. Was meinst du?«

Initia seufzte abermals. »Dein Vater war ein wunderbarer, liebevoller Mann. Er wollte immer nur das Beste für dich und deine Mutter und für seine Familie, er wollte euch beschützen. Aber sein wayob war der Tapir, und der Tapir ist zwar stark, aber nicht klug, so wie das Pferd. Er war ein einfacher Mann, er hat nicht die Worte gehabt, um diese Briefe zu schreiben.«

Chel zwang sich, ruhig zu bleiben. Ihre Tante war eine vergessliche alte Frau. »Mein Vater ist ins Gefängnis gekommen, weil er die Menschen zum Widerstand aufgerufen hat«, sagte sie und hoffte, dass sie sich nicht herablassend anhörte. »Er hat diese Briefe heimlich geschrieben und wurde hingerichtet, als seine Wärter dahinterkamen. Meine Mutter hat mir alles erzählt. Alles, was er für sein Dorf getan hat.«

Initia nickte. »Deine Mutter hat dir diese Geschichten erzählt«, sagte sie mit besonderer Betonung auf dem Wo r t Mutter.

»Willst du damit sagen, sie hat mich angelogen und jemand anders hat die Briefe geschrieben?«, sagte Chel fassungslos.

»Nicht nur dich«, erwiderte Initia. »Alle sollten glauben, dass die Briefe von deinem Vater waren. Aber ich war mit dem Bruder deines Vaters verheiratet, Kind. Mein Mann kannte die Wahrheit.«

Chel wusste nicht mehr, was sie denken sollte. »Wer hat sie denn dann geschrieben? Ein Mithäftling?«

Das Feuer im Herd knisterte und knackte. Initia schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Schon als junges Mädchen hat deine Mutter vor nichts und niemandem Angst gehabt. Auch nicht vor den Grundbesitzern oder den Soldaten. Sie war gerade einmal zehn Jahre alt, als sie sich auf dem Markt vor sie hingestellt und ihnen verächtlich auf die Schuhe gespuckt hat. Sie wollte nichts wissen von den Veränderungen, die sie uns aufzwingen wollten. Als die ladinos vorhatten, den Unterricht an unseren Schulen zu ändern, damit die Kinder nicht mehr die Geschichte unseres Volkes lernen würden, sondern die Geschichte der Weißen, gehörte sie zu denen, die das verhindert haben.«

Chel erstarrte. »Meine Mutter

»Als Ha’ana zwanzig Jahre alt war, hat sie heimlich an den Versammlungen der Dorfältesten teilgenommen«, fuhr Initia fort. »Eines Tages wurde ein junger Mann von den Soldaten ermordet. Sie haben ihn am Balkon des Gemeindehauses erhängt. Da bekamen viele im Dorf Angst. Aber deine Mutter nicht. Sie rief die Männer zum Kampf auf, sie sagte, wir müssten uns bewaffnen, wir dürften uns nicht einfach ergeben, wenn die Armee oder die Guerillas zurückkämen. Aber wer hörte schon auf eine Frau? Dann kam dein Vater ins Gefängnis, und kurz darauf fing die Sache mit den Briefen an.«

Chel war wie betäubt. Sie schaute sich um. Eine steinerne Feuerstelle, ein paar Hängematten, ein kleiner Holztisch und Stühle auf dem Boden aus Kalkmergel, die huipils, die zum Trocknen an der Leine hingen. An einem Ort wie diesem gingen die Frauen seit tausend Jahren ihrer Arbeit nach.

»Warum hat sie gelogen?«, sagte sie leise.

»Ha’ana kannte die Menschen«, antwortete Initia. »Sie wusste, dass sie die Frauen um sich scharen konnte, aber kein Mann würde auf eine Frau hören, wenn es um Dinge wie Kriegführung und bewaffneten Widerstand ging. Sie brauchte die Stimme eines Mannes, um die Männer dazu zu bringen, dass sie handelten. Und als dann dein Vater ins Gefängnis kam, sah sie ihre Chance, so furchtbar seine Verhaftung auch für sie war.«

»Aber als er gestorben ist, ist sie von hier weggegangen«, wandte Chel ein. »Sie hat euch alle im Stich gelassen und ist nie wieder zurückgekehrt. Und so ein Mensch soll diese Briefe geschrieben haben?«

»So einfach war das nicht, Kind. Sie hatte Angst, dass früher oder später jemand dahinterkäme, dass sie die Briefschreiberin war. Sie hatte Angst um ihr Leben, vor allem aber um dich. Sie wollte dich schützen, deshalb ist sie von hier weggegangen.«

»Aber warum hat sie mir das nie gesagt?«, fragte Chel bestürzt.

Initia legte ihr zärtlich die Hand auf den Rücken. »Dein Vater musste sterben wegen dieser Briefe, obwohl er sie gar nicht geschrieben hatte. Deine Mutter hat sich schwere Vorwürfe gemacht deswegen. Sie hat sich die Schuld an seinem Tod gegeben.«

Chel hatte ihre Mutter für deren Teilnahmslosigkeit bestraft, dafür, dass sie sich von ihrem Volk abgewandt hatte, und Ha’ana hatte ihr nie widersprochen, hatte den Sachverhalt nie richtiggestellt. Es hatte ihr genügt zu wissen, wie hart sie gekämpft, wie viel sie geopfert hatte.

»Deine Mutter ist der Graufuchs«, fuhr Initia fort. »Ati’t par Nim ist sehr schlau.«

Chel hatte immer gefunden, Ati’t par Nim passe nicht zu Ha’ana. Jetzt wusste sie es besser. Ihre Vorfahren hatten geglaubt, die Macht des wayob sei allgegenwärtig; sie hatten geglaubt, das Krafttier und dessen menschliche Gestalt seien austauschbar; sie hatten geglaubt, das Krafttier beherrsche das Leben eines Menschen und übertrage seine Eigenschaften auf ihn. Der schlaue Fuchs machte die Leute glauben, was ihm dienlich war.

Das brachte Chel auf einen Gedanken. Sie sprang auf und lief um die Feuerstelle herum zu einem der Rucksäcke, die sie auf dem Boden abgestellt hatten. Sie durchwühlte ihn, bis sie die Übersetzung der alten Handschrift gefunden hatte.

»Was hast du denn, Kind?«, fragte Initia ganz erstaunt.

Chel war davon ausgegangen, dass Paktul die Kinder von Kanuataba aus in den Dschungel geführt hatte, und zwar an den Ort, an dem einst seine Vorfahren gelebt hatten.

Aber wenn er nun gar nicht von seinen menschlichen Vorfahren gesprochen hatte?

Seine menschliche und seine tierische Gestalt – sein Krafttier – waren für den Schreiber austauschbar gewesen. Und hatten sie sich nicht gewundert, warum in der mündlichen Überlieferung von drei Stadtgründern die Rede war und nicht von vier, nämlich Paktul, Rauch Lied und die beiden Mädchen?

Vielleicht lag es daran, dass der Mensch Paktul gar nicht mit ihnen aus der Stadt geflohen war.

***

Als Stanton zurückkam, stand Initia immer noch an der Feuerstelle und backte Tortillas, und Chel grübelte über ihren Aufzeichnungen.

Sie sprach so aufgeregt und lebhaft wie seit dem Tag nicht mehr, als sie im Innenhof des Museums gesessen hatten. »Ich glaube, wir haben nach dem falschen Ort gesucht. Der Izabal-See hat überhaupt nichts mit der Route zu tun, die die drei genommen haben.«

Stanton sah sie fragend an. »Wie kommst du darauf?«

»Paktul bezieht sich nicht auf seine menschlichen Vorfahren. Es steht alles hier in der Übersetzung. Wenn er von sich spricht, in der ersten Person, meint er sowohl sich als Menschen wie auch sein Krafttier. Die beiden sind austauschbar. Wir wissen aber, dass er tatsächlich einen Ara in seiner Höhle hatte, weil er von anderen erzählt, die ihn gesehen haben. Er zeigt ihn dem Prinzen und Auxilas Töchtern, und er schreibt, der Vogel würde zu seinem Schwarm zurückkehren, sobald seine Verletzung geheilt sei.«

Chel suchte eine andere Passage heraus. Mein Krafttier, so erzählte ich dem Prinzen, habe sich auf der weiten Reise, die jeder Ara mit seinem Schwarm zurücklegt, in Kanuataba niedergelassen. In ein paar Wochen würden wir weiterfliegen, dorthin, wohin unsere Vogelvorfahren seit Tausenden von Jahren zu jeder Erntezeit zurückkehren.

»Ich dachte, er spricht von seinen menschlichen Vorfahren«, fuhr sie fort, »aber was, wenn Paktul die Stadt überhaupt nicht verlassen hat? Wenn er von den Wachen getötet wurde, so wie er es vorausgesagt hat, oder wenn er geblieben ist, um den Kindern die Flucht zu ermöglichen?«

»Aber wer hat die Kinder dann nach Kiaqix geführt?«, fragte Stanton. Dann dämmerte es ihm. »Du glaubst, sie sind einem Vogel gefolgt?«

»Der Prinz hat mit Sicherheit gelernt, Fährten zu lesen und ein Stück Wild über hundert Meilen zu verfolgen. Und der Ara wird instinktiv zu seinem Schwarm zurückgekehrt sein. Kiaqix bedeutet so viel wie ›Tal des scharlachroten Ara‹. Das Dorf liegt auf ihrem Zugweg. Die mündliche Überlieferung berichtet, die drei Stadtgründer hätten die vielen Aras hier als gutes Vorzeichen betrachtet. Wenn sie nun einem der Vögel gefolgt sind, weil sie glaubten, er sei Paktuls Geist?«

Chel breitete die Karte aus, auf der die Breiten- und Längengrade angegeben waren. Sie hatte den Zugweg der Aras bereits darauf eingezeichnet. »Auf ihrer Wanderung kommen die Aras von Südwesten hierher, diese Zugziele bleiben immer gleich. Wir können den exakten Weg ermitteln und ihm folgen.«

Die Idee, dass drei Kinder einem Vogel über hundert Meilen hinweg gefolgt sind, hätte Stanton bis vor Kurzem noch als völlig absurd abgetan. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Es kam ihm immer noch unwahrscheinlich vor, aber er musste Chels Instinkt vertrauen. Er hatte keine andere Wahl.

»Und du bist sicher, dass das die exakte Route der Zugvögel ist?«

Chel kramte im Rucksack nach dem Satellitentelefon. »Ich habe im Internet drei verschiedene Websites gefunden, die alle die gleichen Koordinaten angeben. Da, überzeug dich selbst.«

Sie gab ihm das Telefon, aber als er es einschaltete, blieb das Display dunkel. Der Akku hatte endgültig den Geist aufgegeben. Jetzt waren sie ganz von der Welt abgeschnitten.

»Egal.« Chel tippte mit dem Finger auf die Landkarte. Eine fiebrige Erregung hatte sie erfasst. »Wir haben alles, was wir brauchen, um der Zugvogelroute folgen zu können.«

In diesem Moment bemerkte Stanton etwas in ihren Augen, das ihn erstarren ließ. Ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken.

»Schau mich an«, befahl er ihr.

Chel war verwirrt. »Das tu ich doch.«

Stanton zog seine Pupillenlampe heraus und untersuchte ihre Pupillen. Sie hätten sich im Licht zusammenziehen und im Dunkeln weiten müssen.

Als er die Lampe ausknipste, blieben ihre Pupillen unverändert klein.

»Was ist? Bin ich krank?« Chels Stimme zitterte.

Stanton drehte sich um, ging in die Hocke und kramte in seinem Rucksack nach einem Fieberthermometer. Bevor er sich wieder aufrichtete, zwang er sich zur Ruhe. Er wollte nicht, dass sie die Angst in seinen Augen sah. Er musste stark sein, stark für Chel. Sie glaubte so fest daran, dass sie die versunkene Stadt finden würden, und diesen Glauben durfte er ihr nicht nehmen. Die versunkene Stadt war jetzt ihre einzige Hoffnung. Er konzentrierte sich und tat sein Bestes, um sich seine Zweifel nicht anmerken zu lassen.

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