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Der Sicherheitsdienst im Getty Museum wurde massiv verstärkt, als es in immer mehr Stadtteilen zu Plünderungen und Brandstiftung kam. Das Museum in Bagdad hatte während der Belagerung 2003 Kostbarkeiten von unschätzbarem Wert verloren, und das wollte man unbedingt verhindern, falls es in L.A. zum Äußersten kommen sollte. Das Museum, in das sich Chel und ihr Team vor zwei Tagen zurückgezogen hatten, glich einer Festung und war somit einer der sichersten Orte in der Stadt.
Chel sorgte sich mehr um die Sicherheit der in Los Angeles lebenden indígenas als um sich selbst. Sie hatte einen Fernseher ins Labor gekarrt, und in den Nachrichten wurde gemeldet, dass es trotz der Ausgangssperre überall in der Stadt zu Versammlungen von 2012ern kam. Vor dem Ausbruch von VFI war es bei diesen Treffen um die Erneuerung des Bewusstseins oder um die innere Vorbereitung auf die kommende Apokalypse gegangen. Doch laut CNN war angesichts der Quarantäne die Stimmung umgeschlagen. Die Menschen waren verzweifelt und suchten nach einem Sündenbock. Vielleicht, so sagten sie, sei es ja kein Zufall, dass ein Nachfahre der Maya nur wenige Tage vor dem 21. Dezember diese Krankheit in die USA eingeschleppt habe.
In Century City waren indígenas bedroht, ihre Häuser mit Graffiti beschmiert worden. In East L. A. war ein älterer Honduraner von seinem Nachbarn brutal zusammengeschlagen worden. Auslöser war eine hitzige Diskussion über das Ende des Langzeitkalenders gewesen. Jetzt lag der alte Mann im Koma. Da man sich bei Fraternidad ebenfalls um die Sicherheit der indígenas sorgte, hatte der Erzbischof ihnen großzügig Asyl in der Kathedrale Our Lady of the Angels gewährt. Mehr als einhundertsechzig Maya wohnten jetzt auf unbestimmte Zeit in dem Gotteshaus.
Chels Mutter war nicht unter ihnen. Als Chel sie angerufen und ihr dringend geraten hatte, mit den anderen mitzugehen, hatte Ha’ana erwidert, sie denke gar nicht daran und sie werde in ihrem Bungalow in West Hollywood bleiben. »Es hat geheißen, wir sollen das Haus nicht verlassen, damit wir uns nicht anstecken.«
»Jeder wird von einem Arzt auf VFI untersucht, bevor er hereingelassen wird. Es gibt keinen sichereren Ort als die Kirche, Mom.«
»Ich wohne seit dreiunddreißig Jahren in diesem Haus, und ich bin noch nie von irgendjemandem belästigt worden.«
»Dann tu’s für mich«, bat Chel.
»Und was ist mit dir?«
»Ich muss arbeiten, es geht nicht anders. Ich bin an einem Projekt, bei dem die Zeit extrem drängt. Hier im Museum ist es absolut sicher, es ist ja alles zu.«
»Das bringst auch nur du fertig, in so einer Situation zu arbeiten. Wie lange wirst du noch brauchen?«
Chel war nach Hause gefahren, hatte ein paar Sachen in einen Koffer geworfen und war dann sofort wieder ins Museum zurückgekehrt. Sie würde hierbleiben, solange es nötig war. Statt die Frage zu beantworten, sagte sie: »Mir wäre wirklich wohler, wenn ich wüsste, dass du in der Kirche bist, Mom.«
Das Telefonat war für beide Frauen gleichermaßen frustrierend. Als sie aufgelegt hatte, genehmigte Chel sich eine Zigarettenpause am Teich auf dem Museumsgelände. Ein Signalton auf ihrem Handy kündigte den Eingang einer E-Mail an. Sie war von Stanton und lautete kurz und bündig: Irgendwas Neues? Wie sie vermutet hatte, war er nicht der Typ für viele Worte.
Sie begann, einen langen, ungehaltenen Kommentar über den Stand der Dinge einzutippen, brach dann aber mittendrin ab. Wozu tausend überflüssige Einzelheiten aufzählen? Darauf konnte Stanton sicherlich verzichten. Er hatte selbst genug am Hals. Und so antwortete sie stattdessen:
Machen Fortschritte mit der Übersetzung. Noch keine Ortsangabe. Machen weiter, bis wir etwas finden.
Ohne nachzudenken, fügte sie hinzu: Wie geht es Ihnen? Sie schickte die Nachricht ab und kam sich im gleichen Moment dumm vor. Wie sollte es ihm schon gehen? Sie wusste ganz genau, wie es ihm ging.
Doch zu ihrer Überraschung bekam sie Sekunden später eine Antwort:
Arbeiten hart, um voranzukommen. Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden. Passen Sie auf sich auf. Sie und Ihr Team müssen gesund bleiben. Rufen Sie an, wenn Sie irgendetwas brauchen. Gabe
Seine Worte hatten etwas Beruhigendes und Anspornendes zugleich. Betrachtete er sie inzwischen doch als jemanden, der dazu beitragen könnte, die Krise zu bewältigen? Vielleicht konnte sie das wirklich. Sie drückte ihre Zigarette aus und ging wieder hinein.
Rolando breitete mit einer Pinzette weitere winzige Fragmente der Handschrift auf dem Rekonstruktionstisch aus. Sie hatten den Kodex komplett aus der Kiste herausgenommen und jedes Blatt mehrmals fotografiert. Und nachdem das Vater-Sohn-Glyphenpaar entschlüsselt worden war, hatten sie die ersten acht Seiten rekonstruiert. Bereits jetzt stand fest, dass dieser Fund ein Meilenstein in der Geschichte der Maya-Forschung war – nicht nur wegen des Ich-Erzählers, sondern weil Paktuls Bericht ein politischer Protest war: Er äußerte Zweifel an seinem Herrscher und, was noch viel unerhörter war, an einer Gottheit.
Ganz egal, was mit ihr oder mit ihrer Karriere geschehen mochte, irgendwann würde die Welt von diesem sonderbaren Geschenk der Geschichte erfahren, und das tröstete Chel. Dieses Buch war das Werk eines moralischen, gebildeten Mannes, der sein Leben für seine Überzeugung aufs Spiel setzte – zweifellos ein Zeugnis für die Menschlichkeit ihrer Vorfahren. Doch das alles war im Moment zweitrangig. Viel wichtiger war es, herauszufinden, wo der Kodex entstanden war, damit der Infektionsherd der tödlichen Krankheit gefunden wurde. Weder Chel noch sonst jemand aus ihrem Team hatte den Namen Kanuataba je zuvor gehört. Der Schreiber sprach auch von der »Terrassenstadt«. Die Anlage von Terrassen zur Gewinnung von landwirtschaftlichen Flächen an steilen Hängen war im ganzen Maya-Reich bekannt gewesen, daher half ihnen diese Bezeichnung auch nicht weiter.
»Taucht in den Datenbanken etwas über Akabalam auf?«, fragte Rolando.
Chel schüttelte den Kopf. »Ich hab’s auch an Yasee in Berkeley und an Francis in Tulane geschickt, aber die konnten mir auch nicht weiterhelfen.«
Rolando fuhr sich durch die Haare. »Gegen Ende zu taucht die Glyphe fast in jedem Fragment auf. Ich hab immer noch keinen blassen Schimmer, was sie zu bedeuten hat.«
In keinem bisher bekannten Schriftstück waren Bildsymbole, die sich auf eine einzige Gottheit bezogen, in einer solchen Häufung aufgetreten. Solange sie nicht wussten, was diese Glyphe zu bedeuten hatte, würde die Übersetzung unvollständig bleiben.
»Das ist keine Frage der Syntax wie bei der Vater-Sohn-Kombination«, fuhr Rolando fort. »Es sieht eher so aus, als ob Paktul die letzten Seiten ganz dieser Gottheit widmen würde.«
Chel nickte zustimmend. »So wie adonai in der jüdischen Thora, was sowohl Gott als auch Lobet Gott bedeuten kann.«
»In manchen Fragmenten klingt es allerdings so, als würde der Schreiber sich negativ über Akabalam äußern«, bemerkte Rolando. »Seinem Zorn auf einen Gott offen Ausdruck zu verleihen grenzt an Ketzerei, oder?«
»Das ganze Buch ist Ketzerei. Im ersten Glyphenblock kritisiert er seinen König. Das allein hätte ihm die Todesstrafe einbringen können.«
»Schön, dann suchen wir eben weiter.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und was ist mit Seite sieben?«
»Was soll damit sein?«
Rolando wandte sich dem betreffenden Abschnitt zu. »Na ja, ich schätze, ich bin ganz einfach neugierig, wie du den Hinweis auf das Ende des dreizehnten Zyklus interpretieren willst«, sagte er ein wenig verlegen.
Und während der Scharfrichter in die geöffnete Brust griff, um dem Sterbenden das Herz herauszureißen, vernahmen wir trotz des Tumultes die Stimme des Opfers, und seine Worte waren Vorboten dessen, was kommen würde, so düster wie das Ende des dreizehnten Zyklus.
Chel setzte sich. Der fünftausendjährige Langzeitkalender – die Lange Zählung – war in Perioden von jeweils ungefähr 395 Jahren unterteilt, und am 21. Dezember 2012 endete der bedeutsame dreizehnte Zyklus – das Ende der Langen Zählung. Eine in Stein gemeißelte kleine Inschrift in den Ruinen von Tortuguero in Mexiko – Der dreizehnte Zyklus wird das Ende bringen – hatte die Entstehung einer ganzen heimischen Industrie befördert und zu einer kultischen Verehrung des Maya-Kalenders geführt. Wenn die 2012er, die sich durch den Ausbruch von VFI ohnehin schon in ihren Theorien bestätigt sahen, erfuhren, dass in dem Buch vom Ende des dreizehnten Zyklus die Rede war, würden sie vollends ausflippen, zumal das Auftauchen des Buches mit dem Ausbruch der Epidemie verknüpft war.
Chel spähte unbehaglich zu der Gegensprechanlage neben der Labortür. Im Notfall könnte sie damit den am Fuß des Hügels postierten Sicherheitsdienst alarmieren. Sie hoffte nur, dass sie das nie tun musste.
»Er könnte genauso gut einen Tzolk’in-Zyklus von dreizehn Tagen meinen«, erwiderte sie achselzuckend. »Vielleicht hat der Hinweis gar nichts mit der Langen Zählung zu tun.« Sie wusste nicht, ob sie das selbst glaubte, aber sie wollte sich jetzt weder von den 2012ern ablenken lassen noch ihnen irgendetwas an die Hand geben, das Wasser auf ihre Mühlen war.
Einer dieser 2012er betrat in diesem Moment das Labor und schnappte Chels letzte Sätze auf. Victors kurze weiße Haare waren nass und nach hinten gekämmt, als käme er gerade aus der Dusche, und diesmal war sein unvermeidliches Polohemd grün.
»Lasst euch nicht stören«, sagte er.
Chel hatte die Tatkraft dieses Mannes, der inzwischen Mitte siebzig war, schon immer bewundert. Sie erinnerte sich, wie er früher zwölf Stunden ununterbrochen an der Dechiffrierung von Glyphen gearbeitet hatte, ohne ein einziges Mal Pause zu machen, um etwas zu essen oder auf die Toilette zu gehen. Und an der Übersetzung dieser Handschrift war er maßgeblich beteiligt gewesen. Ohne ihn wären sie nie so weit gekommen.
Aber bei aller Dankbarkeit wollte sie das Thema 2012 in seiner Gegenwart lieber nicht anschneiden.
»Der Hinweis auf den dreizehnten Zyklus kann beliebig interpretiert werden«, fuhr er fort und sah dabei erst Chel, dann Rolando an.
»Ja, das sehe ich auch so«, erwiderte Chel vorsichtig.
»Ich schau mal in den Computern nach«, sagte Rolando. Er verließ das Labor.
Victor hüstelte. »Es gibt vieles, was beliebig interpretiert werden kann; das hängt von der persönlichen Anschauung der Leute ab. Ich glaube, wir sollten uns im Moment auf wichtigere Dinge konzentrieren, meinst du nicht auch?«
Chel atmete auf. »Doch, das meine ich auch. Danke, Victor.«
Er hielt seine Kopie der Übersetzung hoch. »Gut. Dann wollen wir mal.« Er legte die Hand auf Chels Schulter, und sie legte ihre Hand einen Augenblick auf seine. »Als Erstes sollten wir über die Begleitumstände des Zusammenbruchs diskutieren.«
»Was für Begleitumstände?«
»Nun, es ist denkbar, dass dieses Buch uns etwas über den Untergang des Herrscherreichs erzählt, auf das wir nicht vorbereitet sind. Was entnimmst du Paktuls Schilderung von seiner untergehenden Stadt?«
»Eine extreme Dürre hat sie heimgesucht, die Menschen kämpfen verzweifelt ums Überleben. Auf den Märkten gibt es nichts mehr zu kaufen, die Kinder hungern. Wenn wir von der Kapazität der damaligen Wasserspeicher ausgehen, muss die Trockenheit also seit mindestens achtzehn Monaten andauern.«
»Wir wissen, dass es Dürreperioden gab. Aber was ist mit der Anspielung auf die Haltbarmachung von Lebensmitteln?«
Unsere Soldaten haben einen neuen Weg gefunden, Lebensmittel haltbar zu machen, indem sie nämlich ihre Vorräte stärker salzen, und so werden wir selbst in weit entfernten Ländern Krieg führen können.
»Was soll damit sein?«, fragte Chel verständnislos.
»Das Einpökeln ist eine bedeutende Neuerung in der Kriegführung«, erklärte Victor. »Feldzüge scheiterten oft an der Versorgung mit Nachschub. Eine neue und bessere Methode der Lebensmittelkonservierung durch Einsalzen könnte zu einer effektiveren Kriegführung geführt haben.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit nur sagen, dass die Fähigkeit, häufiger Krieg führen zu können, die Stadt letztendlich anfälliger gemacht hat.«
»Anfälliger wofür?«
»Für alles.«
Jetzt begriff Chel. Victor hatte diesen Standpunkt schon lange vor seiner 2012-Hysterie vertreten. Er war der Ansicht, dass die Maya mit dem Bau großer Städte – auch wenn die noch so prunkvoll gewesen sein mochten – die selbstzerstörerischen Exzesse despotischer Herrscher gefördert hatten. »Die Könige des Altertums hätten tausend Jahre regieren können, wenn es nicht immer wieder so extreme Trockenzeiten gegeben hätte«, erwiderte sie kopfschüttelnd. »Sie verfügten über Technologien, die sie hervorragend zu nutzen verstanden.«
Victor war anderer Meinung. »Vergiss nicht, dass die Maya, solange sie in den Regenwäldern lebten, sehr viel längere Trockenzeiten überstanden haben als jemals in den Städten. Als sie nach der klassischen Periode in den Dschungel zurückgegangen sind und keine Tempel mehr errichtet und keine Kriege mehr geführt und ihr ganzes Holz nicht mehr für die Herstellung von Gips verbrannt haben, haben sie die Trockenheit ganz gut überstanden.«
»Du meinst also, die edlen Wilden konnten nur im Dschungel überleben? Weil sie dem Druck der Zivilisation nicht gewachsen waren?«
Bevor Victor antworten konnte, ging die Tür auf, und Rolando steckte den Kopf herein. »Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich hab da was, das müsst ihr beide euch unbedingt ansehen.«
***
Im hinteren Teil des Labors standen vier Computer, die mittels hochmoderner Bildprogramme Maya-Glyphen entzifferten und Textlücken mit den entsprechenden Symbolen füllten. Da jeder Schreiber seinen eigenen, unverwechselbaren Stil hatte, waren selbst bekannte Bildsymbole oft so gemalt, dass man sie nicht ohne Weiteres erkennen konnte. Das Computerprogramm berechnete nun die Abstände zwischen den Pinselstrichen und verglich die Glyphen anschließend mit bereits bekannten, ähnlich ausgeführten Glyphen, wobei es Details erkannte, die dem menschlichen Auge entgingen.
Rolando zeigte auf eine Abfolge von leicht verschnörkelten Linien aus der Handschrift. »Seht ihr das? Der Computer meint, das könnte eines der Symbole für Skorpion sein, so wie sie in Copal zu sehen sind. Ich glaube, das ist ein Hinweis auf ein Sternbild.«
Die Sonne und die Sterne hatten das Leben vieler Völker beeinflusst: Ihr Stand bestimmte, wann welcher Gott verehrt, wie ein Kind genannt, welche Rituale vollführt, welche Nahrungsmittel gegessen, welche Opfer dargebracht wurden. Die Maya hatten zum Teil die gleichen Konstellationen studiert und verehrt wie die alten Griechen und die alten Chinesen. Niemand wusste, ob die Maya ihre eigenen Sternbilder entwickelt oder jene übernommen hatten, die über die Beringstraße von Asien auf den amerikanischen Kontinent gebracht worden waren. Wie dem auch sei – es gab erstaunliche Parallelen.
»Wenn wir jetzt die entsprechende Ersetzung vornehmen«, fuhr Rolando fort, »würde dieser Satz hier folgendermaßen lauten: Als der große Morgenstern den rötesten Teil des großen Skorpions am Himmel durchwandert hatte.«
Chel begriff sofort, was das bedeutete. »Wir könnten versuchen, die Position der Venus zu dem Zeitpunkt zu bestimmen, als Paktul das Buch schrieb.«
»Ich gehe davon aus, dass sich noch mehr Hinweise auf Sternbilder im Text finden«, sagte Rolando. »Der Computer sucht schon danach.«
»Wir brauchen einen Experten für Archäoastronomie«, warf Victor ein. »Patrick arbeitet manchmal doch auch mit Sternbildern, oder?«
Chels Magen zog sich zusammen.
»Weiß vielleicht irgendwer, wo wir ihn finden können?«, fragte Rolando.
Chel wusste es natürlich. Patrick hatte ihr eine Mail geschickt, als die Quarantäne verhängt wurde, um sich zu erkundigen, ob es ihr gut ging. Um ihr zu sagen, dass er für sie da sei, falls sie irgendetwas brauchte. Sie hatte ihm nicht einmal geantwortet.