30
Aschewolken von den Waldbränden in den Santa Monica Mountains lagen über der Schnellstraße. Drei F-15 im Formationsflug donnerten vorbei und hinterließen helle Kondensstreifen am dunkelgrauen Nachthimmel. Der Pacific Coast Highway glich einem heruntergekommenen Gebrauchtwagenhof: Hunderte Fahrzeuge standen kreuz und quer, sie waren von ihren Fahrern nach einem Unfall oder nachdem das Benzin ausgegangen war, einfach stehen gelassen worden. Es war fast kein Durchkommen.
Zwei Stunden nachdem Victor Shetter und seine Männer am Sicherheitsdienst vorbei vom Gelände des Museums geschleust hatte, saß Chel auf dem Beifahrersitz neben Stanton und starrte schweigend aus dem Fenster. Ihre verzweifelten Bemühungen, Rolando zu retten, waren umsonst gewesen. Er hatte zu viel Blut verloren, und als Stanton seine Wiederbelebungsversuche aufgegeben hatte, waren auch er und Chel voller Blut gewesen. Fast zwanzig Minuten hatte Chel ihren toten Freund in den Armen gehalten, ihn sanft gewiegt und ein Gebet in Qu’iche gesprochen, damit er sicher im Jenseits ankäme.
Sie und Stanton hatten bisher kein Wort über die Ereignisse verloren, aber sie wussten beide, was zu tun war. Stanton bog von der Schnellstraße ab in Richtung Santa Monica State Beach. Der Sandstrand war verlassen. Auf dem Parkplatz stand nur ein einziges Fahrzeug: Stanton hatte Davies angerufen und sich hier mit ihm verabredet.
Er war überrascht, als ein zweiter Mann aus dem Auto seines Partners stieg. »Hey, Doc, was geht?«, sagte Monster.
»Mann, ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht«, erwiderte Stanton. »Wo hast du denn gesteckt?«
»Die Bullen haben uns aus der Show geworfen, und da haben die kleine Electric Lady und ich uns in dem Tunnel unter dem Santa Monica Pier verkrochen. Du glaubst ja gar nicht, wie praktisch es ist, wenn man eine Freundin hat, die ihr eigenes Licht erzeugen kann.«
Falls Chel verblüfft war über diese Begegnung mit dem exotischsten Freak, den Venice zu bieten hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie schwieg. Sie war mit ihren Gedanken ganz offensichtlich woanders.
»Wie habt ihr zwei euch denn gefunden?«, fragte Stanton und nickte zu Davies hin, als sie seinen Wagen auszuladen begannen.
»Ich war bei dir zu Hause in Venice«, antwortete Monster. »Ich hab geklopft, und als niemand aufgemacht hat, bin ich rein. Mit den ganzen Mäusen überall sieht’s bei dir aus wie nach einem Experiment, das gründlich in die Hose gegangen ist, Bruder. Tja, und als du nicht zurückgekommen bist, hab ich mir gedacht, ich ruf bei dir im Labor an. Wollte nur mal hören, ob alles in Ordnung ist.«
»Zum Glück bin ich rangegangen und nicht einer von Cavanaghs Laufburschen«, sagte Davies. »Sie lässt jeden unserer Handgriffe im Forschungszentrum überwachen. Ich hätte nicht mal einen Objektträger dort hinausschmuggeln können, geschweige denn ein Mikroskop.«
Stanton sah Monster an. »Dann habt ihr das ganze Zeug aus meinem Haus geholt?«
»Klar. Electra hat mir dabei geholfen. Sie ist noch dort und kümmert sich um die Mäuse.«
»Ihr solltet dort bleiben, bis sich die Lage beruhigt hat.«
»Die Frage ist, wann das sein wird. Aber danke für das Angebot, Doc.«
Davies fand, dass es an der Zeit war, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Und ihr glaubt wirklich, ihr könnt diesen Ort ohne das Buch finden?«, fragte er.
»Wir haben eine digitale Kopie, die Übersetzung und eine Landkarte«, erwiderte Chel, die bisher kein Wort gesagt hatte.
»Ich würde dir ja sagen, du hast den Verstand verloren, aber ich schätze, das weißt du selbst«, sagte Davies zu seinem Partner.
»Hast du eine bessere Idee?«, entgegnete Stanton. »Im Radio haben sie gebracht, dass in New York die Fünftausendermarke überschritten worden ist.«
Sie luden die luftdichten Schutzanzüge, die Messgeräte, ein batteriebetriebenes Mikroskop und andere Gegenstände für ein mobiles Labor in Stantons Audi. Dann hievte Davies die letzte Tasche aus dem Kofferraum und sagte: »Dreiundzwanzigtausend in bar. Jeder im Labor hat zusammengekratzt, was er konnte. Und das da.« Er öffnete die Tasche noch ein Stück weiter. Ganz unten lag die Waffe aus Stantons Safe.
»Ich danke euch«, sagte Stanton leise. »Für alles.«
»Und wie willst du hier rauskommen, Doc?«, fragte Monster. »Die Grenzen sind mit zusätzlichen fünfzigtausend Mann verstärkt worden. Sie haben ihre Leute im Abstand von einer Meile postiert. Und ein Sportflugzeug oder einen Hubschrauber kriegst du jetzt nirgends mehr.«
Stanton streifte Chel mit einem flüchtigen Blick und sah dann auf den Pazifik hinaus.
***
Gleich südlich von Kanan Beach an der Küste von Malibu kam der Campus der Pepperdine University in Sicht. Stanton bog scharf nach links auf eine unbefestigte Straße ab und folgte ihr bis ganz ans Ende. Er stellte den Motor ab, und sie stiegen aus. Sie mussten ungefähr ein halbes Dutzend Mal die steinige Böschung hinunter- und wieder hinaufklettern, bis sie alles ausgeladen und an den Strand geschleppt hatten. Dann warteten sie. Dieser Küstenabschnitt zählte aufgrund seiner Untiefen und Klippen zu den gefährlichsten von Malibu, und nur wer bestens mit den geografischen Gegebenheiten vertraut war, konnte es wagen, bei Dunkelheit sein Boot hindurchzusteuern. Außerdem würde die Küstenwache nach wie vor auch diesen Abschnitt kontrollieren.
Endlich sahen sie ein paar Hundert Meter weiter draußen auf See eine Taschenlampe aufblitzen. Wenige Minuten später näherte sich ein kleines Beiboot. Ninas Haare waren zerzaust, und ihre Haut war salzverkrustet.
»Du hast es tatsächlich geschafft«, sagte Stanton, als sie ans Ufer sprang und das Boot an den Strand zog.
Sie umarmten sich. »Dein Glück, dass ich mich mein ganzes Leben lang vor den Hafenmeistern versteckt habe«, sagte Nina.
Selbst unter diesen Umständen kam es ihm merkwürdig vor, mit den beiden Frauen zusammen zu sein. »Chel, das ist Nina.«
Er hatte Nina nur gesagt, er werde jemanden mitbringen, der mit der Gegend dort unten vertraut war und ihm als Führer im Dschungel dienen würde. Er hatte nicht erwähnt, dass dieser Jemand eine Frau war.
Doch Chel und Nina schienen sich auf Anhieb sympathisch zu finden. »Danke, dass Sie das für uns tun«, sagte Chel.
Nina lächelte. »Ich kann mir doch die Chance nicht entgehen lassen, dass mein Exmann mir einen Gefallen schuldet.«
Sie luden die Ausrüstung in das Beiboot und fuhren zur Plan A hinaus, die etwa zweihundert Meter von der Küste entfernt vor Anker lag. Als sie das Fallreep hinaufkletterten und an Bord gingen, wurde Stanton von einem vertrauten heiseren Bellen begrüßt. Er bückte sich, drückte Dogma an sich und kraulte ihm das weiche, nasse Fell.
Ihr Ziel war Ensenada in Mexiko, zweihundertvierzig Meilen weiter südlich. Nina hatte mit dem Kapitän eines größeren Schiffes gesprochen und vereinbart, dass er dort auf sie warten und die beiden Passagiere an Bord nehmen würde. Von dort würde es, vorbei an der Halbinsel Baja California, weiter Richtung Süden gehen, wo sie eher eine Chance hätten, ein Flugzeug nach Guatemala zu chartern.
Die McGray erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von zweiundvierzig Knoten, was bedeutete, dass die Fahrt nach Ensenada inklusive Tankstopp etwa acht Stunden dauern würde. Als sie aus der Bucht hinausfuhren, auf die gewaltige nordpazifische Meeresströmung zu, suchte Stanton mit den Augen den Horizont nach Booten der Küstenwache ab. Bei der Herfahrt hatte Nina einen Umweg von mehreren Meilen gemacht, um den Patrouillenbooten auszuweichen, deren Route sie entschlüsselt hatte. Über Funk hörten sie ein paar andere, die in verschlüsselten Sätzen über ihre Fluchtpläne sprachen. Draußen auf offener See wechselten sich Nina und Stanton am Steuerrad ab, wobei Nina die schwierigeren Passagen übernahm. Chel war nach unten in die Kajüte gegangen und nicht wieder heraufgekommen. Stanton machte sich Sorgen um sie.
***
Kurz vor Sonnenaufgang gerieten sie in einen Ausläufer des nordpazifischen Müllteppichs, und als sich Teile der Plastik- und sonstigen Abfälle an den Schiffsbug hefteten und am Ruderblatt hängen blieben, schlingerte das Boot heftig hin und her. Aber Nina, eine erfahrene Schiffsführerin, meisterte die Situation und steuerte sie mit Umsicht und Gelassenheit in ruhigere Gewässer. Stanton bewunderte ihr im Laufe vieler Jahre erworbenes Können.
Obwohl sie unverkennbar ganz in ihrem Element war, musste es ein merkwürdiges Gefühl gewesen sein, diese letzte Woche ganz allein hier draußen auf See zu sein. Es war eine Sache, der Welt freiwillig den Rücken zu kehren, aber eine ganz andere, sich vorzustellen, dass es vielleicht keine Welt mehr gab, in die man zurückkehren konnte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Stanton, als sie den gewaltigen Wirbel hinter sich gelassen hatten.
Nina, die Hände fest am Ruder, streifte ihn mit einem flüchtigen Blick. »Hab nur nachgedacht.«
»Und worüber?«
»Wir waren drei Jahre verheiratet«, sagte sie. »Das heißt, wir haben ungefähr tausend Nächte miteinander verbracht, minus den dreißig Prozent, die du im Labor geblieben bist. Und den ungefähr fünfzehn, die du auf der Couch geschlafen hast, weil du mich genervt hast.«
»Ein Rundungsfehler, wenn du mich fragst.«
»Und da habe ich mir überlegt«, fuhr sie fort, ohne auf seinen Einwurf zu achten, »dass wir jede Nacht acht Stunden schlafen. Unter der Woche verbringen wir tagsüber nur ein paar Stunden zusammen, richtig? Das heißt, wir haben schlafend mehr Zeit miteinander verbracht als wach.«
»Könnte stimmen.«
Sie lauschten den sanften, rhythmischen Geräuschen des Meeres. Nina drehte das Ruder und änderte den Kurs ein klein wenig. Stanton sah ihr an, dass noch etwas anderes sie beschäftigte. »Was?«
Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Kajüte, wo Chel war. »Es ist schon komisch, wenn du jemand anderen so ansiehst«, flüsterte sie.
»Was meinst du?«
»Du weißt schon.«
»Wir haben doch nicht mal ein Dutzend Worte miteinander gewechselt, seit wir hier sind.«
»Ist auch nicht nötig«, erwiderte Nina trocken. »Ich kenne deinen Gesichtsausdruck, wenn du etwas willst, besser als irgendjemand sonst.«
Stanton tat die Bemerkung mit einem Achselzucken ab. »Ich kenne sie ja kaum.«
Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Chel an Deck kam, das erste Mal seit Stunden. Sie bewegte sich langsam und zog sich am Handlauf hoch. Die seltsame Unterhaltung, die Stanton und Nina geführt hatten, wirkte noch nach, und Chel glaubte eine leichte Veränderung im emotionalen Klima zu spüren.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Sie sollten was essen«, antwortete Nina ausweichend. »Ich hab Junkfood für mindestens ein Jahr da unten.«
»Ja, das werde ich, danke.« Chel wandte sich Stanton zu. »Wir sollten uns die Karten und den Routenverlauf zusammen ansehen. Ich habe schon mal angefangen, die verschiedenen Wege vom Izabal-See aus zu berechnen und anhand der Informationen, die wir haben, die Orte zu bestimmen, wo die Stadt möglicherweise gestanden haben könnte.«
Er nickte. »Ja, sicher. Ich komme sofort.«
»Ich müsste vorher noch telefonieren. Darf ich das Satellitentelefon benutzen?«
Stanton gab es ihr, und sie ging wieder nach unten.
Nina flüsterte: »Die Frau hat gerade ihren Freund verloren, sie wurde von ihrem Mentor aufs Kreuz gelegt, und man hat ihr dieses alte Buch gestohlen. Wenn mir das alles passiert wäre, würde ich Jahre brauchen, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen könnte. Und was tut sie? Arbeitet einfach weiter! Ich kenne nur einen einzigen Menschen auf der Welt, der das auch fertigbringen würde. Worauf wartest du also, verdammt noch mal? Kannst du nicht ein Mal deinen Verstand ausschalten?«
***
Chel las vom Display des Telefons ab, dass es kurz nach acht Uhr morgens war an diesem 18. Dezember. Noch drei Tage bis zum Ende der Langen Zählung. Noch drei Tage, bis Victor und alle anderen begreifen würden, dass sie Rolando wegen eines Scheißkalenders getötet hatten. Chel würde sich bis an ihr Lebensende Vorwürfe machen, weil sie den Kontakt zu ihrem Mentor wiederaufgenommen und ihn von Neuem in ihr Leben gelassen hatte. Wie konnte er so etwas tun? Das würde ihr für immer ein Rätsel bleiben. Im Geist ging sie wieder und wieder jede Einzelheit durch, angefangen bei ihrem Besuch im Museum of Jurassic Technology bis zu jenem schrecklichen Moment in ihrem Labor und bis zu Victors Verschwinden. Was hatte sie übersehen? Hatte es irgendeinen Hinweis darauf gegeben, wozu er wirklich fähig war, und sie hatte es nicht erkannt?
Sie wählte langsam die Nummer, die sie am besten kannte. Die Mobilfunknetze waren hoffnungslos überlastet, aber diese Verbindung kam schnell zustande. Nach dem dritten Läuten wurde abgenommen, und sie hörte die von atmosphärischen Störungen überlagerte Stimme ihrer Mutter.
»Chel?«
»Kannst du mich verstehen, Mom?«
»Chel, wo bist du? Kannst du in die Kirche kommen?«
»Geht es dir gut?«, fragte Chel. »Bist du in Sicherheit?«
»Ja, alles in Ordnung, wir sind hier sicher. Aber mir wäre wohler, wenn du herkommen könntest.«
»Hör zu, Mom, ich kann nicht lange reden. Ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht mehr in Los Angeles bin.«
»Wo willst du denn hin?«
»Nach Kiaqix. Und von dort werden wir uns auf die Suche nach der versunkenen Stadt machen.«
Ein kurzes Schweigen, dann sagte Ha’ana in resigniertem Ton: »Ich wollte nie, dass du das gleiche Risiko eingehst wie ich, Chel.«
»Was willst du damit sagen, Mom? Mom?«
Die Verbindung war unterbrochen. Chel wählte noch einmal, aber sie fuhren gerade unter einer Wolkenbank hindurch, und das Signal kam nicht zustande. Sie schaltete das Telefon aus, um die Batterie zu schonen. Im Grunde war ja auch alles gesagt. Ha’ana hatte wieder einmal auf das Risiko angespielt, das sie eingegangen war, um sich und ihre Tochter in Sicherheit zu bringen. Aber in Chels Augen hätte sie sehr viel mehr Mut bewiesen, wenn sie in Kiaqix geblieben wäre. Stanton kam herunter. Er sah Chel prüfend an. Er spürte, dass sie eine Ablenkung brauchte, daher fragte er: »Wollen Sie mir nicht erzählen, was uns in Kiaqix erwartet?«
Sie lächelte leicht, als sie antwortete: »Bäume, so hoch, dass sie in den Himmel zu wachsen scheinen, mit rosaroten Blüten und grünem Moos, das aussieht wie Rauschgold. Mehr Tiere auf einer Quadratmeile als auf der exklusivsten Safari in Afrika. Ganz zu schweigen von dem süßesten Honig, den Sie je gegessen haben.«
»Klingt, als wär’s das Paradies.«
Zum ersten Mal wurde Chel von der Erkenntnis übermannt, dass sie tatsächlich in ihre Heimat zurückkehrte. Stanton fasste nach ihrer Hand, beugte sich langsam zu Chel hinunter und küsste sie leicht auf den Mund. Sie war überrascht, aber es machte sie glücklich. Seine Lippen schmeckten salzig. Wie die Meeresluft.
Sie sah ihn unverwandt an. Aber als er sich von ihr löste, griff sie nach einer der bereitliegenden Karten, hielt sie hoch und meinte: »Wollen wir uns an die Arbeit machen?«
***
Ensenada lag an einer Bucht, die Bahía de Todos Santos hieß; Plan A kam kurz vor zwölf Uhr mittags dort an. Nina steuerte auf einen zwölf Meter langen Hatteras-Fischerkahn zu, der fünf Meilen vor der Küste dümpelte. Sie konnten es nicht riskieren, näher ans Ufer zu fahren, hatte Stanton gewarnt, weil die mexikanischen Behörden garantiert nach amerikanischen Booten Ausschau hielten, deren Passagiere auf der Flucht vor der Epidemie waren.
Nina fuhr längsseits an das Fischerboot heran. Dominguez, der Kapitän, war ein stämmiger Mann mit einem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht. Vor einigen Jahren hatte Nina einen Artikel für ein Magazin über ihn geschrieben, weil er an der Goldküste bekannt dafür war, dass er selbst in den am schwierigsten zu befahrenden Gebieten Makrelen fing. Er sprach nur ein paar Brocken Englisch, aber er hieß die Amerikaner mit einem angespannten Lächeln auf seinem Boot willkommen.
Sie luden die Ausrüstung um und bezahlten die vereinbarten viertausend Dollar. Dann konnte es losgehen.
»Vielen Dank noch mal«, rief Chel Nina von dem Fischerkahn aus zu.
»Viel Glück!« Mit Tränen in den Augen nickte Nina zu Stanton hin. »Passen Sie gut auf ihn auf!«
Stanton sprang noch einmal auf die Plan A hinüber. Eine kräftige Brise war aufgekommen. Er ging in die Hocke und strich Dogma ein paar Mal über den Kopf. Dann richtete er sich wieder auf und nahm Nina in die Arme.
»Ich schätze, es ist reine Zeitverschwendung, wenn ich dir sage, du sollst keine Dummheiten machen, oder?«, flüsterte sie.
»Tja, dafür ist es jetzt wohl ein bisschen zu spät. Ich hoffe, du weißt, wie sehr ich dich liebe.«
Eine gute Minute lang hielten sie einander umschlungen. »Sieh zu, dass du deinen Arsch wieder heil nach Hause kriegst, okay?«
***
Die Fahrt auf dem mexikanischen Abschnitt des Kalifornienstroms verlief ohne Zwischenfälle. Am darauffolgenden Morgen fuhren sie kurz nach Tagesanbruch um die Spitze von Baja California herum und hielten dann Kurs Richtung Osten. Da ihr Kapitän ein Einheimischer war, konnten sie die wenigen Kontrollen der Küstenwache nahe Cabo problemlos passieren. Schließlich steuerten sie den Hafen von Mazatlán an. Der Duft von frittiertem Teig wehte von den Karren der Straßenhändler herüber. Das Leben hier schien seinen gewohnten Gang zu gehen, und falls irgendjemand sich wegen VFI sorgte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
Nachdem sie angelegt hatten, schmierte Dominguez einen Hafenmeister und sagte ihm, sie bräuchten einen Van oder einen Geländewagen. Eine halbe Stunde später hatten sie einen alten silberfarbenen Jeep für zweieinhalbtausend Dollar. Sie luden ihre Sachen vom Boot in den Wagen um und verabschiedeten sich von Dominguez.
Am Flughafen von Mazatlán waren mit Maschinengewehren bewaffnete Wachen am Eingang postiert. Die Leute musterten Stanton und Chel misstrauisch. Anders als im Hafen waren einige Passagiere an diesem bedeutenden Verkehrsknotenpunkt sichtlich beunruhigt beim Anblick von Stantons Gringogesicht. Im Charterterminal wartete eine schlechte Nachricht auf sie: Sämtliche Chartermaschinen waren ausgebucht – wer es sich leisten konnte, versuchte möglichst viel Abstand zwischen sich und die Epidemie zu bringen. Hinzu kam, dass sie eine Maschine brauchten, die groß genug war, um den neu erworbenen Jeep an Bord zu nehmen.
Nach einer halben Stunde vergeblicher Bemühungen belauschte Chel zufällig die Unterhaltung eines schmächtigen, zwergenhaft kleinen Maya Anfang, Mitte zwanzig. Er sprach Chor’ti, einen Maya-Dialekt, der im Süden Guatemalas und im Norden von Honduras gesprochen wurde. Chel beherrschte zwar die moderne Form dieser Regionalsprache nicht, aber diese war eng verwandt mit der Maya-Sprache des Altertums, und Chel glaubte zu verstehen, dass der Mann so etwas war wie ein Transportflugzeugpilot. Sie wandte sich an ihn. Er war so klein, dass sogar sie ihn überragte.
»Binik ulew ojer taq qa chuch qa qajaw«, sagte sie. »Chi’j. Majok k’istajik najtir etajbal q’ij.«
Wir möchten in das Land unserer Vorfahren, bitte, Sie müssen uns helfen. Bevor der Kalender zu Ende ist.
Nicht einmal ein Dutzend Menschen weltweit – allesamt Gelehrte – konnten die Maya-Sprache des Altertums so fließend sprechen wie Chel. Der Pilot, der sich als Uranam vorstellte, hatte bis dahin vermutlich noch nie jemanden in dieser Sprache sprechen hören, einmal abgesehen von den paar Wörtern, die sein Hüter des Tages beherrschte. Aber er verstand sie.
»Woher kennen Sie die alte Sprache?«, sagte er und starrte sie an, als wäre sie ein Geist.
Da es nur noch zwei Tage bis zum 21. Dezember waren und ihnen die Zeit davonlief, fackelte Chel nicht lange.
»Ich bin die Nachfahrin eines königlichen Schreibers«, sagte sie in herrischem Ton. »Er hat im Traum zu mir gesprochen und mir gesagt, dass, wenn wir Petén nicht rechtzeitig erreichen, die vierten Menschen von der Erde ausgelöscht werden.«
Einige Telefonate später hatte ihr neuer Freund in Guadalajara eine ausgemusterte Maschine der U.S. Navy aufgetrieben, die sie nach Süden bringen würde.
Zwei Tage nachdem sie L.A. verlassen hatten, näherten sie sich dem Ziel ihrer Reise – dem Dschungel.