31
Das Hochland der Maya wird von Norden nach Süden von einem Gürtel von Vulkanen durchzogen, die seit Jahrmillionen aktiv sind. Die frühen Hochlandbewohner verehrten die Vulkane als Gottheiten, aber nach vielen heftigen Ausbrüchen, die mit einem Schlag einen ganzen Stamm auslöschen konnten, zogen die Maya weiter nach Süden in das »Land der Bäume« oder, wie sie es in Qu’iche nannten, Guatemala.
Die C-2 Greyhound flog in einer Höhe von weniger als sechshundert Metern. Vier Stunden nach dem Start blickten Stanton und Chel auf das dichte grüne Blätterdach, das dem Land seinen Namen gab. Uranam, ihr Pilot, orientierte sich mithilfe eines Radarsystems, denn sehen konnte man nach allen Seiten hin nichts als bewaldete Hügel. Während sie über dem Gebiet kreisten, verdunkelten sich die Farben unter ihnen nach und nach, und Chel fürchtete schon, dass sie Kiaqix vor Einbruch der Dunkelheit vielleicht nicht finden würden.
Falls sie mit ihrer Annahme richtig lagen, musste Kanuataba sechzig bis hundert Meilen von ihrem Dorf entfernt liegen, und zwar in einer Position von 230 bis 235 Grad in südwestlicher Richtung. Volcy war zu Fuß drei Tage unterwegs gewesen, was bedeutete, das fragliche Gebiet konnte nicht größer als etwa dreihundert Quadratmeilen sein. Sie würden jeden Zentimeter durchkämmen.
Aber zuerst mussten sie Kiaqix finden.
»Bekommen wir auch Aras zu sehen?« Stanton musste schreien, um das Dröhnen des Flugzeugs zu übertönen.
»Um diese Jahreszeit nicht«, antwortete Chel und rückte ihren Augenschutz zurecht. »Das Dorf liegt zwar auf ihrem Zugweg, und im Herbst kommen sie zu Tausenden, aber jetzt sind sie schon weitergezogen.« Sie suchte mit den Augen den Regenwald nach der zypressenbewachsenen Anhöhe ab, in deren Nähe sich die Landepiste des Dorfes befand.
»Festhalten!«, brüllte Uranam.
Bei jedem Übergang von den Bergen zu den Tälern und wieder hinauf bockte das Flugzeug, und als jetzt die Backbordtragfläche zusätzlich von einer Strömung erfasst und nach oben gedrückt worden war, ging ein kräftiges Rütteln durch die Maschine. Eine Minute lang fühlte es sich so an, als ob das Flugzeug gleich in zwei Teile gerissen würde.
Dann hatte Uranam die Maschine abgefangen. Chel blickte wieder nach unten. Undurchdringliche Waldgebiete wechselten sich ab mit gerodeten Flächen, auf denen Ackerbau und Viehzucht betrieben wurde – der Appetit der Nordamerikaner auf Mais und Rindfleisch hatte seine verheerenden Spuren hinterlassen.
Eine Minute später sah sie endlich den gewaltigen zypressenbestandenen Höhenzug, der das Tal begrenzte, in dem fünfzig Generationen ihrer Familie gelebt, gebetet, ihre Kinder großgezogen hatten. Sie stieß Stanton an und zeigte auf das Tal, für das ihr Vater sein Leben geopfert hatte: Beya Kiaqix.
»Da drüben.«
Die Regenzeit war zwar ein Segen für die Vegetation, aber der Sturm hatte ein halbes Dutzend Mahagonibäume und Zedern und viele große Äste auf die Landepiste geweht. Die letzten Lichtstreifen zogen sich aus dem Wald zurück, was die Landung noch schwieriger machte. Es hatte den Anschein, als wäre seit Monaten kein Flugzeug mehr hier gelandet.
Als Chel das letzte Mal nach Kiaqix gekommen war, hatten sich Hunderte Dorfbewohner eingefunden, um Alvar Manus Tochter, der großen Gelehrten, zuzujubeln. Ein Dutzend Kinder mit runden Gesichtern hatten sie mit Kerzen und Räuchergefäßen empfangen. Aber an diesem Tag war niemand da, der sie erwartete; niemand wusste, dass sie kamen.
Die Maschine rollte über die Piste und kam zum Stehen.
Uranam sprang hinaus und riss die Türen zum Frachtraum auf. Augenblicklich strömte die feuchte, stickige Hitze des Dschungels herein.
Sie luden ihre Schutzanzüge, die Zelte, Prionenproben, Metallkäfige, Reagenzgläser und Glaskolben in den Jeep. Als die Laderampe am Heck sich hinuntergesenkt hatte, fuhr Stanton den Wagen in den Morast hinaus. Endlich waren sie so weit, dass sie aufbrechen konnten. Bis nach Kiaqix waren es noch fünf Meilen.
»Sie warten auf uns, nicht wahr?«, sagte sie zu Uranam. »Wir sind in vierundzwanzig Stunden zurück.«
Angst spiegelte sich auf dem Gesicht des Piloten. »Nein«, stammelte er und wich zum Flugzeug zurück. »Nein, hier bleibe ich nicht.«
»Es war vereinbart, dass er hier auf uns wartet«, sagte Stanton stirnrunzelnd, nachdem Chel für ihn übersetzt hatte. »Er kann nicht einfach abhauen.«
»Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.« Uranam schüttelte langsam den Kopf. »Und ich will es auch gar nicht wissen.« Er zeigte auf einen Punkt über den Baumwipfeln.
Als Chel sich umdrehte, sah sie eine dicke Rauchfahne himmelwärts wabern. Es sah fast so aus, als ob sich irgendwo ganz tief im Dschungel eine Fabrik befände.
»Das sind nur Bauern, die Land brandroden, damit sie es nächstes Jahr bestellen können«, sagte sie erst zu Uranam, dann zu Stanton. »Das ist alles.«
Uranam schien keineswegs überzeugt. Entschlossen kletterte er zurück ins Cockpit. »Nein. Das ist etwas anderes«, sagte er, den Blick auf die Rauchfahne geheftet. »Das ist ein Zeichen der Götter.«
Es dauerte keine Minute, bis er die Maschine startklar gemacht und die Motoren angeworfen hatte.
Als das Flugzeug in der Dunkelheit verschwunden war, versuchte Stanton, Chel zu beruhigen. Sie würden schon einen Weg finden, von hier wegzukommen, tröstete er sie. Aber Chel wusste, dass es unmöglich war, so schnell ein anderes Flugzeug aufzutreiben, das sie hier abholen würde, und falls das Wetter umschlug, würden sie womöglich einige Wochen hier festsitzen. Sie drehte sich um und starrte auf die Rauchsäule über den Bäumen. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Auch wenn der Pilot vielleicht sehr abergläubisch war, in einem Punkt musste sie ihm recht geben: Der Rauch kam nicht von einer Brandrodung – kein Bauer würde so spät in der Regenzeit seine Felder abbrennen.
Und so fuhren sie los, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie sie wieder von hier wegkommen sollten. Der Jeep war vollgetankt, aber Chel wusste, dass es bis zur nächsten Esso-Tankstelle mindestens hundert Meilen waren. Und in diesem Teil von Petén waren Straßen oft bloß Linien auf der Landkarte, weil sie durch Schlamm- oder Gerölllawinen einen Großteil des Jahres unpassierbar waren.
Doch zunächst einmal hatten sie vor, in Kiaqix zu übernachten und am anderen Morgen in aller Frühe aufzubrechen, vom Izabal-See aus in den Dschungel – auf den Spuren der Stadtgründer, nur in der entgegengesetzten Richtung.
Die Piste war so stark ausgefahren, dass Stanton praktisch nur im ersten Gang fahren konnte. Es hatte leicht zu regnen angefangen. Obwohl das Land zu beiden Seiten gerodet war, waren die Geräusche des Dschungels nie weit weg: Man konnte die schrillen Rufe der Tukane mit ihren gewaltigen Schnäbeln hören und gelegentlich Affen, deren Schreie dem Geheul von Wölfen ähnelten.
Stanton versuchte, trotz der Dunkelheit die Vegetation ringsum in Augenschein zu nehmen, auf der Suche nach irgendeiner Pflanze, die den König und dessen Getreue gegen die Krankheit immun gemacht haben könnte. Er hatte sich unterwegs mit der Flora im tropischen Regenwald vertraut gemacht und erkannte im Scheinwerferlicht einige Bäume und Pflanzen an ihrer Form: Spanische Zedern mit ihren paarig gefiederten Blättchen, die aussahen wie ausgestreckte Arme, oder die Ranken der Vanille, die an den kleinen dünnen Stämmen der Kopalbäume hinaufkletterten.
»Wo sollen wir über Nacht bleiben?«, fragte Stanton und wischte sich den Schweiß, der ihm in die Augen lief, von der Stirn. Er war noch nie so weit in den Süden gereist, und er konnte nicht fassen, wie unerträglich heiß es war. Als er aus dem Flugzeug gestiegen war, hatte er das Gefühl gehabt, gegen eine Wand zu laufen.
Die Hitze war nichts Neues für Chel, aber die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass es sogar ihr so vorkam, als würde sie die Welt unter Wasser sehen. »Vielleicht beim Cousin meiner Mutter, Doromi. Oder bei einer Schwester meines Vaters. Jeder wird uns bei sich aufnehmen. Sie kennen mich alle.«
Keiner von beiden sprach darüber, dass sie keine Ahnung hatten, was sie tatsächlich in Kiaqix erwarten würde. Trotz dieser leisen Furcht war Chel aufgeregt, so wie jedes Mal, wenn sie in ihr Heimatdorf zurückkehrte. In ihrer Erinnerung war Kiaqix so lebendig wie die Straßen von L.A.: die langen, erhöhten Wege, der Markt mit seinen vielen Gerüchen, die Reihen von Häusern aus Stroh, Holz und Beton, so wie jenes, in dem sie zur Welt gekommen war, und die modernen Steinbauten aus jüngster Zeit wie die Kirche mit ihren Buntglasfenstern, die geräumige Mehrzweckhalle, die Schule mit mehreren Klassenzimmern.
Sie würden zuerst in das kleine Krankenhaus an der Hauptstraße gehen, für dessen Bau Chel Spenden gesammelt hatte. Das Krankenhaus mit zwanzig Betten war vor zehn Jahren am Ortsrand errichtet worden. Ein Arzt kam ein Mal im Monat, um Antibiotika zu verteilen und Impfungen durchzuführen. Ansonsten wurde es von den alten Frauen des Dorfes und von einem Schamanen geleitet, die traditionelle Heilmittel ausgaben.
Die Straße führte durch einen kleinen Wald von Mahagonibäumen. Zwischen den Stämmen konnte man kümmerliche Maisstängel erkennen. In Petén hatte eine furchtbare Trockenheit geherrscht. Um auch das kleinste Fleckchen fruchtbaren Boden zu nutzen, hatten die Bauern dort, wo sie die Baumstümpfe nicht hatten ausgraben können, um die Stämme herum gepflanzt.
Dann kam das Krankenhaus in Sicht. Die Dorfbewohner nannten es ja akjun, was in Qu’iche »das Haus des Doktors«, bedeutete. Stanton fand, es ähnelte eher einer Kirche aus dem Mittelmeerraum als einem Krankenhaus. Holzsäulen stützten ein weißes Dach, und eine Wendeltreppe führte außen in den zweiten Stock hinauf – eine architektonische Spielerei, die man sich nur in einer Gegend erlauben konnte, wo es niemals kalt wurde.
Stanton hielt vor dem Gebäude. Bei ihrem letztem Besuch hier war Chel sofort von Krankenschwestern umringt worden, die darauf brannten, ihr zu zeigen, wie sie moderne und traditionelle Heilkunde vereinten, um Verletzungen durch Macheten zu behandeln, bei schwierigen Geburten zu helfen und die unzähligen Krankheiten und Schmerzen zu kurieren, die zum Leben in Kiaqix gehörten. Jetzt war kein Mensch zu sehen. Die rote Eingangstür stand offen, und die einzigen Geräusche, die zu hören waren, waren die des Dschungels, der sich der Nacht übergab: das Raunen der Bäume im Wind und die unheimlichen Schreie der Klammeraffen.
»Bist du so weit?«, fragte Stanton. Chel nickte. Er drückte zärtlich ihre Hand, dann stiegen sie aus. Stanton ging nach hinten, öffnete die Heckklappe, nahm zwei Taschenlampen aus einer Reisetasche und seine Smith & Wesson und steckte sie ganz lässig in den Hosenbund.
Er gab Chel einen neuen Augenschutz und wechselte auch seinen eigenen aus. Dann gingen sie zum Eingang des Krankenhauses.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Drinnen war es stockdunkel. Stanton schwenkte den Strahl seiner Taschenlampe durch den Raum. Vorhänge trennten die einzelnen Abteile, in denen die Patienten untersucht wurden, voneinander ab. Die Holzstühle in dem, was offenbar das Wartezimmer gewesen war, waren zertrümmert worden. Es herrschte eine gespenstische Stille. Kein Anzeichen von Leben, und es schien so, als hätte es hier schon sehr lange keines mehr gegeben.
»Nu Bi’ Chel«, rief Chel, als sie in den dunklen Raum traten. Ihre Stimme hallte von den Wänden wider. »Mial Alvar Manu.« Ich bin Chel, die Tochter von Alvar Manu.
Keine Antwort.
Sie gingen langsam weiter, bogen um eine Ecke. Der Strahl der Taschenlampen erfasste Papierblätter, die über den ganzen Fußboden verteilt waren. Dann Stühle, die umgeworfen worden waren und in Pfützen von verschüttetem Antiseptikum lagen. Zwischen den Scherben eines zerbrochenen Keramikgefäßes lagen durchtränkte Wattebäusche und lange Wattestäbchen. Fliegen so groß wie ein Vierteldollar surrten herum. Es stank nach Ammoniak und vermutlich auch nach Exkrementen.
Stanton griff in seine Hosentasche und zog zwei Paar Latexhandschuhe heraus. »Nichts mit bloßen Händen anfassen!«, warnte er Chel und gab ihr das eine Paar Handschuhe.
Während sie ihre schwitzenden Hände mühsam in die Handschuhe zwängte, rief sie noch einmal laut in Qu’iche, dass sie die Tochter von Alvar Manu sei und dass sie gekommen war, um zu helfen. Ihre Stimme hörte sich dünn an in ihren Ohren, aber sie hallte laut in dem leeren Zimmer.
Sie gingen weiter durch das Gebäude. Chels Unruhe wuchs mit jedem Schritt. Die Räume waren nicht einfach verlassen worden – man hatte sie verwüstet. Betten waren umgekippt, die Matratzen aufgeschlitzt und die Polsterung herausgerissen worden. Überall lagen Glasscherben. Stanton öffnete Schränke und zog Schubladen auf. Alles war durchwühlt worden. Es gab fast keine medizinischen Hilfsmittel mehr.
Am Ende des Flurs stieß Chel die Tür zu der kleinen Kapelle auf. Sie schwenkte den Strahl ihrer Maglite über den Altarbereich und sah, dass das große Holzkreuz über dem Predigtpult abgenommen und zerschmettert worden war. Das wunderschöne Buntglasfenster war eingeworfen worden, der Boden war voller Glassplitter. Aus Bibeln und aus Kopien des Popol Vuh herausgerissene Seiten lagen im Mittelgang und auf den Kirchenbänken.
Dann fiel ihr Blick auf ein vertrautes Zeichen, und ihre letzte Hoffnung schwand:
Sie hörte, wie Stanton hinter ihr die Kapelle betrat. »Jetzt glauben es sogar die indı´genas«, flüsterte sie. »Vielleicht stimmt es ja doch.«
Er sagte nichts, aber sie spürte, wie er ihre Schulter drückte. Als sie den Arm hob und ihre Hand auf seine legte, merkte sie, dass die Hand auf ihrer Schulter keinen Handschuh trug.
Sie fuhr herum. »Wer sind Sie?«
Der Fremde antwortete nicht. Er war groß. Er trug ein Kapuzensweatshirt mit einem rostfarbenen Fleck auf der Vorderseite. Er war kein Maya.
»Qué está haciendo aquí?«, fragte sie auf Spanisch.
Sie hatte keine Ahnung, woher dieser ladino kam oder was er hier wollte. Sie dachte an die Warnung ihrer Mutter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie langsam zurückwich. »Estoy aquí con un médico. Gabe! Gabe!« Sie schrie, so laut sie konnte, aber ihre Stimme war nur ein Flüstern. Sie bekam keine Luft mehr.
Der ladino stürzte sich auf sie und warf sie zu Boden. Er riss ihr den Augenschutz herunter und hielt ihr mit einer Hand den Mund zu. Chel wehrte sich verzweifelt. Sie versuchte zu schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Sie schlug nach seinem Gesicht, doch er begrub sie förmlich unter sich mit seiner massigen Gestalt und drückte ihr mit der anderen Hand den Hals zu. Sie wusste, was er möglicherweise an den Händen hatte, daher kniff sie die Augen zusammen, so fest sie konnte. Es würde nur nichts mehr nützen: Sie wäre tot, bevor sie krank werden konnte.
Ich bin Chel Manu, Tochter von Alvar Manu. Töte mich, wie du meinen Vater getötet hast.
Das war ihr letzter Gedanke, bevor der Schuss fiel.