12
Jeder, der mit den Opfern in Berührung gekommen war, musste ermittelt und unter Quarantäne gestellt werden. Die Öffentlichkeit musste informiert, die Verwendung von Schutzmasken dringend angeraten werden. Flüge mussten gestrichen, öffentliche Veranstaltungen abgesagt werden. Falls ihnen der Nachweis gelang, dass diese absolut tödlich verlaufende Krankheit wirklich ansteckend war, dann war nach Stantons Meinung keine Maßnahme zu extrem.
Innerhalb weniger Minuten hatte er von der Gesellschaft für Flugsicherheit die Bestätigung bekommen, dass Joseph Zarrow, der Pilot der in den Pazifik gestürzten Maschine, vier Tage zuvor auch die Maschine von Mexico City nach L.A. geflogen hatte. Der Begriff »menschliches Versagen« bekam plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Aber bevor sie die Öffentlichkeit alarmieren und in Panik versetzen würden, musste der wissenschaftliche Nachweis erbracht werden, dass VFI tatsächlich durch flüchtigen Kontakt von Mensch zu Mensch übertragen wurde.
Stanton hatte sein ganzes Team mitten in der Nacht geweckt und ins Labor des Zentrums für Prionenforschung zitiert. Es war kurz nach fünf Uhr morgens, als er in Schutzanzug, Handschuhen und Atemmaske mit seinen Kollegen unter der Schutzabdeckung stand, in der Hand die kurz zuvor hergestellte Lösung, die, wie er hoffte, mit dem Prion reagieren würde, wo immer es sich auch versteckte.
Krankheitserreger konnten sich bei flüchtigem Kontakt nur auf ein paar Wegen ausbreiten, nämlich durch Tröpfcheninfektion durch Körperflüssigkeit aus Nase oder Mund. Stanton musste herausfinden, ob die Krankheit durch Speichel, Nasenschleim oder Sputum aus der Lunge übertragen wurde – und wie VFI vom Gehirn in Mund, Nase oder Lunge wanderte.
Als Erstes gab er mit einer Pipette einen Tropfen der Körpersekrete beider Opfer auf Objektträger und fügte dann das Reagens hinzu. Zuerst begann er mit den Speichelproben. Nachdem er sie mit äußerster Gründlichkeit untersucht hatte, wandte er sich zu Davies um und schüttelte den Kopf.
»Negativ.«
Er wiederholte das Verfahren beim Sputum. Durch das Abhusten von Erregern aus Hals und Lunge wurde eine Reihe von Krankheiten übertragen, darunter so lebensbedrohliche wie Tuberkulose. Doch auch diese Proben waren alle negativ.
»Dann funktioniert die Ansteckung wie bei einer hundsgewöhnlichen Erkältung«, sagte Davies.
Doch nachdem Stanton die mit Nasensekret präparierten Objektträger drei Mal kontrolliert und wieder nichts gefunden hatte, war er ernsthaft beunruhigt.
»Wie zum Teufel wird das Zeug übertragen?«, fragte Davies fassungslos.
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Jiao Chen. »Wir können uns doch nicht geirrt haben mit unserer Theorie.«
Stanton, der einen Moment verwirrt die Augen geschlossen hatte, stand auf. »Die Proben können sich aber auch nicht geirrt haben.«
Wenn sie den Infektionsweg der Prionen nicht nachweisen konnten, würde es ihm nicht gelingen, Atlanta davon zu überzeugen, entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Stanton ging im Geist noch einmal alles von vorn durch. Hatte seine Gedankenkette eine Schwachstelle? Aber wenn das Prion durch flüchtigen Kontakt übertragen wurde, dann nur durch ein Körpersekret. Dennoch hatte sich in keiner einzigen untersuchten Probe das Prionen-Protein nachweisen lassen.
Das Telefon klingelte.
»Das ist Cavanagh«, sagte Davies. »Was soll ich ihr sagen?«
Im Labor herrschte angespanntes Schweigen, während das Team auf Stantons Antwort wartete. Alle trugen Schutzmasken, die die untere Gesichtshälfte verdeckten, aber aus ihren Augen sprachen Sorge und Erschöpfung. Seit Volcy obduziert worden war und die Diagnose feststand, hatten sie kaum noch geschlafen.
Jiao Chen nahm ihre Brille ab und rieb sich müde die Augen. »Vielleicht haben wir mit den Präparaten etwas falsch gemacht.«
Jiao hatte neben Stanton am wenigsten geschlafen. Stanton sah, wie sie mit den Fingerspitzen kleine kreisende Bewegungen auf den Lidern vollführte und dann die Handflächen auf ihr von Erschöpfung gezeichnetes Gesicht legte und langsam über die Wangen nach unten gleiten ließ.
Ein Gedanke durchzuckte ihn. Er schnappte das Telefon und rief aufgeregt hinein: »Emily, es sind die Augen!«
***
Krankheitserreger, die durch die Augen übertragen wurden, waren so selten, dass selbst Chirurgen bei Operationen oft auf Schutzbrillen verzichteten. Als Stanton und sein Team jetzt aber die Tränenflüssigkeit der beiden Opfer untersuchten, fanden sie Prionen in einer ähnlich hohen Konzentration wie im Hirngewebe.
Die Übertragung begann, wenn ein an VFI Erkrankter sich an die Augen fasste. Das Prion gelangte an seine Hände; dann schüttelte er jemandem die Hand oder berührte eine Oberfläche, die wiederum von jemandem angefasst wurde, und schon begann der Kreislauf. Ein Mensch fasste sich über hundert Mal am Tag ins Gesicht, und durch die Schlaflosigkeit wurde alles noch schlimmer: Je müder ein Infizierter wurde, desto öfter gähnte er und rieb sich die Augen. Bei jemandem, der rund um die Uhr wach war, hatte die Krankheit acht Stunden zusätzlich, um sich auszubreiten. So wie bei einer normalen Erkältung die Nase lief und die Erreger dann durch Schleim weiter übertragen wurden, so wie Malaria Müdigkeit verursachte und so noch mehr Moskitos über ihre schlafenden Opfer herfallen und deren Blut saugen konnten, so hatte sich auch VFI den idealen Krankheitsüberträger selbst geschaffen.
***
Das Seuchenzentrum setzte sich mit jedem in Verbindung, der Kontakt zu Volcy, Gutierrez oder Zarrow gehabt haben könnte, und das Ergebnis war beängstigend. Eine Stewardess, zwei Copiloten, zwei Passagiere der Aero Globale sowie der Besitzer des Super-8-Motels und drei Gäste waren die ersten Opfer der zweiten Welle.
Um die Mittagszeit fiel zum ersten Mal das Wort Epidemie.
Die schlimmste Nachricht erreichte sie aus dem Presbyterian Hospital. Sechs Schwestern, zwei Ärzte aus der Notaufnahme und drei Pfleger litten seit zwei Nächten an Schlaflosigkeit. Es stellte sich heraus, dass ein vor Jahren entwickelter Test zum Nachweis von Prionen im Blut von Schafen als grober Indikator von VFI dienen konnte noch vor dem Auftreten der ersten Symptome. Schon mehrere untersuchte Blutproben waren positiv.
Stanton wurde von Schuldgefühlen gequält, weil er erst so spät erkannt hatte, dass das Prion ansteckend war. Und er hatte Angst, dass er sich selbst infiziert hatte. Das Ergebnis seines Bluttests stand noch aus, aber man ließ ihn unter der Bedingung, dass er ständig einen Schutzanzug trug, weiter seine Arbeit machen. Seit der vergangenen Nacht hatte er keine Gelegenheit gehabt, sich überhaupt zum Schlafen hinzulegen.
Als Stanton zum Presbyterian zurückkam, musste er sich in seinem luftdichten gelben Schutzanzug schwitzend und schwerfällig durch die Massen verzweifelter Menschen kämpfen, die in die Notaufnahme drängten. Über hundert Personen wurden aufgrund ihrer Symptome bereits zu den möglicherweise Infizierten gerechnet, und die Panik, die Cavanagh prophezeit hatte, war nach der Pressekonferenz des Seuchenzentrums tatsächlich ausgebrochen. Normalerweise litt jeder dritte erwachsene Amerikaner an Schlaflosigkeit. Jetzt stürmten Tausende in Los Angeles sämtliche Krankenhäuser der Stadt, weil sie überzeugt waren, sie hätten sich angesteckt.
»Es tut mir leid, dass Sie so lange warten müssen«, wandte sich ein Beamter des Seuchenzentrums an die achtzig Personen, die Primärkontakt hatten. »Die Ärzte arbeiten so schnell sie können; das Ergebnis der Blutuntersuchungen liegt in Kürze vor. Bitte behalten Sie bis dahin Ihre Masken und Ihren Augenschutz auf. Achten Sie darauf, dass Sie auf keinen Fall Ihre Augen oder Ihr Gesicht berühren.«
Während Stanton sich den Weg durch die Notaufnahme bahnte, nagte in einem fort der Gedanke an ihm, dass er, Thane und Chel Manu direkteren Kontakt zu den Infizierten gehabt hatten als irgendjemand sonst hier.
»Ich kann so gut wie nie schlafen«, rief ein älterer Mann. »Wie können die da herausfinden, ob ich es habe?«
»Erzählen Sie den Ärzten alles über Ihr normales Schlafverhalten«, erwiderte der Beamte vom CDC. »Und alles, was sonst noch wichtig sein könnte.«
»Hier wimmelt es doch nur so von Keimen«, sagte eine Latina mit einem Baby auf dem Arm. »Wenn wir bis jetzt noch nicht krank sind, dann werden wir es hier!«
»Nehmen Sie den Augenschutz auf keinen Fall ab«, riet der Mann vom CDC. »Berühren Sie Ihre Augen nicht und fassen Sie auch sonst nichts an, dann kann Ihnen nichts passieren.«
Die Schutzbrillen spielten eine wichtige Rolle bei der Eindämmung der Krankheit. Das CDC riet aber vorsichtshalber auch zu einem Mundschutz. Doch Stanton hielt beide Maßnahmen für unzureichend. Er hatte eine E-Mail an sämtliche Abteilungen des CDC geschickt, in der er sich dafür aussprach, die Öffentlichkeit lückenlos aufzuklären, eine achtundvierzigstündige Ausgangssperre zu verhängen und das Tragen von Schutzbrillen in allen Schulen der Stadt zur Pflicht zu machen, bis es ihnen gelungen wäre, die Ausbreitung des Erregers einzudämmen.
Stanton ging weiter zur provisorischen Koordinierungsstelle des CDC im hinteren Teil des Krankenhauses. Bestimmungen des Gesundheitsministeriums hingen an jeder Wand, wo sie die abblätternde Farbe überdeckten. Mehr als dreißig Beamte des Epidemic Intelligence Service, Verwaltungsangestellte und außerdem Krankenschwestern vom CDC hatten sich in dem kleinen Besprechungsraum versammelt, und alle trugen Mund- und Augenschutz. Stanton war der Einzige in einem luftdichten Schutzanzug, was ihm besorgte bis misstrauische Blicke eintrug – jeder wusste natürlich, was diese Kleidung möglicherweise zu bedeuten hatte.
Die ranghöchsten Ärzte saßen an einem Tisch in der Mitte des Raumes. Die stellvertretende Direktorin des Seuchenzentrums, Emily Cavanagh, leitete die Besprechung. Sie hatte ihre langen weißen Haare straff nach hinten gebunden, und ihre blauen Augen hinter der Schutzbrille strahlten. Obwohl sie schon über dreißig Jahre im Dienst des CDC stand, war ihre Stirn glatt und faltenlos. Stanton dachte manchmal bei sich, dass sie vielleicht schlichtweg befohlen hatte, ihre Stirn sollte keine Falten bekommen.
»Im Lauf des Vormittags werden zweihunderttausend Schutzbrillen eintreffen. Per Flugzeug und per Lkw«, sagte Cavanagh. Stanton, in seinem plumpen Schutzanzug ein fast schon komischer Anblick, zwängte sich auf den Stuhl neben ihr.
»Und bis übermorgen bekommen wir noch einmal fünfzigtausend«, warf jemand hinter ihnen ein.
»Wir brauchen vier Millionen«, sagte Stanton in das kleine Mikrofon in seinem Helm.
»Na ja, die zweihundertfünfzigtausend, die wir kriegen werden, müssen reichen«, erwiderte Cavanagh. »Das Pflegepersonal wird als Erstes ausgestattet, das versteht sich von selbst. Dann jeder, der irgendeine Verbindung mit einem Infizierten hat, und der Rest geht an die Verteilerzentren und wird nach dem Motto ausgegeben: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Das Letzte, was wir brauchen, ist eine Panik, die eine Massenflucht zur Folge hätte. Dann würde sich der Erreger bald im ganzen Land ausbreiten.«
»Wir müssen eine Quarantäne in Erwägung ziehen«, sagte Stanton.
»Was glauben Sie, was wir hier machen?«, versetzte Katherine Leeds von der Abteilung Virologie. Leeds war ein winziges Persönchen, aber eine knallharte Frau. Sie und Stanton waren im Lauf der Jahre viele Male aneinandergeraten. »Das Presbyterian steht bereits unter Quarantäne, und wir sind dabei, sie auf andere Krankenhäuser auszuweiten.«
»Ich rede nicht von den Krankenhäusern.« Stanton sah die Ärzte am Tisch nacheinander an. »Ich rede von der ganzen Stadt.«
Ein gedämpftes Raunen ging durch den Raum.
»Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, was passieren würde, wenn man zehn Millionen Menschen sagt, sie dürften die Stadt nicht verlassen?«, sagte Leeds. »Es hat schon seinen Grund, warum man das noch nie getan hat.«
»Die Zahl der Infizierten könnte morgen auf tausend steigen«, erwiderte Stanton ungerührt. »Und übermorgen auf fünftausend. Die Menschen werden aus der Stadt fliehen, und einige werden den Erreger schon in sich tragen. Wenn wir das nicht verhindern, wird sich VFI bis Ende der Woche im ganzen Land ausgebreitet haben.«
Leeds schüttelte den Kopf. »Selbst wenn es machbar wäre, es würde mit Sicherheit gegen die Verfassung verstoßen.«
»Hören Sie«, sagte Stanton beschwörend, »wir reden hier von einer Krankheit, die übertragen wird wie eine Erkältung, die aber so tödlich ist wie Ebola und die man von einem Krankheitsüberträger nicht mehr wegkriegt. Der Erreger stirbt nicht ab wie ein Bakterium und kann nicht zerstört werden wie ein Virus.«
Während die meisten Krankheitserreger nach höchstens vierundzwanzig Stunden auf einem »Krankheitsüberträger«, also auf harten oder weichen Oberflächen, nicht mehr ansteckend waren, war das Prion auf unbegrenzte Zeit infektiös. Und bis jetzt war noch kein wirksames Desinfektionsmittel bekannt. Als im Laufe des Tages mit dem ELISA-Test Flugzeuge auf dem Los Angeles International Airport, Volcys Krankenzimmer und Gutierrez’ Haus auf Prionen untersucht worden waren, war das Ergebnis ganz anders ausgefallen als auf Havermore Farms, wo jeder Test negativ gewesen war. Türgriffe, Möbeloberflächen sowie Schalter im Cockpit, Sitzpolster und die Verschlüsse der Sicherheitsgurte in den Maschinen, die Zarrow in der vergangenen Woche geflogen hatte, waren mit Prionen übersät gewesen.
»Jede Maschine, die den Flughafen von L.A. verlässt«, fuhr Stanton fort, »könnte infizierte Passagiere an Bord haben, die den Erreger in alle Welt tragen.«
»Was ist mit den Schnellstraßen?«, wandte einer der anderen Ärzte ein. »Wollen Sie die auch sperren lassen?«
Stanton zuckte mit den Schultern in seinem schweren Schutzanzug. Die Stimmen der anderen drangen durch den Helm zu ihm wie aus weiter Ferne, und er konnte sich gut vorstellen, dass seiner eigenen gedämpften Stimme der nötige Nachdruck fehlte. »Wir müssen verhindern, dass der Erreger sich über die Verkehrswege ausbreitet. Wenn es sein muss, rufen wir die Nationalgarde und die Armee zu Hilfe. Ich sage nicht, dass es leicht ist, aber wenn wir nicht schnell und entschlossen handeln, werden wir einen hohen Preis zahlen.«
»Es würde zu Hamsterkäufen und zu Ausschreitungen kommen«, wandte Leeds ein. »In ein paar Tagen hätten wir hier Zustände wie in Port-au-Prince.«
»Wir werden den Leuten erklären, dass es sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme handelt und dass sie die Stadt wieder verlassen können, sobald wir einen Weg gefunden haben, die Ausbreitung des Erregers einzudämmen und –«
»Wir müssen uns sehr gut überlegen, was wir den Leuten sagen«, fiel Cavanagh ihm ins Wort, »damit es nicht zu einer Massenpanik kommt. Wir tragen hier eine ungeheuere Verantwortung, aber die tragen wir auch, wenn wir zulassen, dass sich die Erkrankung massenhaft in jeder Stadt ausbreitet.« Sie stand auf. »Eine Quarantäne ist die ultima ratio, aber wir müssen sie auf jeden Fall in Betracht ziehen.«
Stanton war genauso überrascht wie alle anderen im Raum, dass sie sich hinter ihn stellte. Obwohl sie im Seuchenzentrum seit vielen Jahren ihre schützende Hand über ihn hielt, war Cavanagh normalerweise niemand, der so schnell drastische Maßnahmen erwog. Ihr war ganz offensichtlich klar, was auf dem Spiel stand.
Die Besprechung wurde vertagt. Während Cavanagh den Leitern der einzelnen Abteilungen abschließend noch Anweisungen gab, betrachtete Stanton die auf einer großen Tafel schematisch dargestellten Verbindungen zwischen den Infizierten. Der Name Volcy stand in der Mitte. Er war ebenso rot eingekreist wie die Namen Gutierrez und Zarrow – die ersten drei Todesopfer. Die anderen einhundertvierundzwanzig Namen waren in vier konzentrischen Kreisen angeordnet.
Als Cavanagh neben ihn trat, sagte Stanton beschwörend: »Wir dürfen nicht warten, Emily. Keine Sekunde. Sonst breitet der Erreger sich aus.«
»Ich habe schon verstanden, Gabe.«
»Gut. Nachdem das geklärt ist, stellt sich die Frage nach der Therapie. Das muss nach der Verhängung der Quarantäne unsere oberste Priorität sein.«
Sie verließen den Besprechungsraum und blieben im Flur vor dem geschlossenen Kiosk stehen. Stanton konnte hinter den Glasscheiben Schachteln mit Süßigkeiten, Schokoriegeln und Kaugummi auf der Verkaufstheke und erschlaffende Heliumballons an Schnüren sehen.
»Wie lange suchen Sie jetzt schon nach einem Heilmittel für Prionenerkrankungen?«, fragte Cavanagh.
»Wir machen Fortschritte.«
»Und wie viele Patienten konnten Sie erfolgreich therapieren?«
»Emily, da oben sterben Menschen!«
»Sie versuchen schon, mir die Idee zu verkaufen, eine ganze verdammte Stadt unter Quarantäne zu stellen, Gabe. Kommen Sie mir jetzt nicht auch noch mit der selbstgerechten Tour.«
Stanton machte eine beschwichtigende Geste. »Die Ausbreitung einzudämmen ist das Eine«, sagte er. »Aber wir müssen gleichzeitig neue Therapien erproben, und dafür müssen wir das FDA dazu bringen, die Vorschriften für die Zulassung von Medikamenten aufzuheben. Die Mittel müssen sofort am Patienten getestet werden dürfen.«
»Meinen Sie Quinacrine und Pentosan-Polysulfat? Sie wissen doch besser als jeder andere, was für Probleme es damit gibt.«
Quinacrine war nicht neu, doch es hatte sich bei Prionenerkrankungen praktisch als wirkungslos erwiesen. In Pentosan-Polysulfat, das aus dem Holz von Buchen gewonnen wurde, hatte Stanton große Hoffnungen gesetzt. Das Problem war, dass der Wirkstoff die Blut-Hirn-Schranke, die das Zentralnervensystem vor gefährlichen Substanzen aus dem Blutkreislauf schützt, nicht überwinden konnte. Stanton und sein Team hatten alles versucht: von der Veränderung der molekularen Struktur der Substanz bis hin zur Infusion über einen Shunt, aber es war ihnen nicht gelungen, den Wirkstoff ins Gehirn einzubringen, ohne dort noch mehr Schaden anzurichten.
Stanton schüttelte den Kopf. »Quinacrine können wir vergessen, und an den bestehenden Problemen mit Pentosan hat sich nichts geändert.«
»Worauf wollen Sie dann hinaus?«, fragte Cavanagh.
»Wir könnten die Antikörpertherapie einsetzen.«
»Das hat Ihnen schon einmal eine Klage eingebracht, und deswegen wird Direktor Kanuth nichts davon hören wollen. Außerdem wissen Sie nicht, ob es in vivo tatsächlich funktioniert. Und wir werden VFI-Patienten nicht als Versuchskaninchen für die erste Testreihe benutzen.«
»Wollen Sie das etwa den Infizierten und ihren Familien sagen, und damit ist der Fall erledigt?«
»Sparen Sie sich das, Gabe«, erwiderte Cavanagh mit schneidender Stimme. »Ich war dabei, als HIV aufgetaucht ist und wir damals alle Schwimmbäder schließen wollten. Von Anfang an gab es Forscher, die lautstark weitere Gelder für die Entwicklung eines Heilmittels gefordert haben, was dazu geführt hat, dass wir die Eindämmung vernachlässigt haben und sich noch mehr Menschen infiziert haben. Und wie lange hat es dann gedauert, bis sie tatsächlich etwas gefunden haben, um HIV zu behandeln? Fünfzehn Jahre.«
Stanton sagte nichts.
»Unsere oberste Priorität im Augenblick ist die Eindämmung«, fuhr Cavanagh fort. »Und Ihre ist es, erstens die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, wie man sich vor Ansteckung schützen kann, und zweitens einen Weg zu finden, wie die Prionen auf Kontaktflächen vernichtet werden können. Sobald keine Neuerkrankungen mehr auftreten, können wir uns über eine Therapie unterhalten. Ist das klar?«
Stanton nickte. Er erkannte am Gesicht seiner Chefin, dass jede weitere Diskussion zwecklos war. »Ja, alles klar.«
»Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen, Gabe?«, fügte Cavanagh ruhig hinzu.
»Wir müssen unbedingt ein Team nach Guatemala schicken. Denken Sie an den Ausbruch von Ebola und Hanta in Afrika: Unsere Leute hatten den Infektionsherd innerhalb weniger Tage ausfindig gemacht und beseitigt. Eine Quarantäne hierzulande ist sinnlos, solange der Erreger dort unten nicht ausgemerzt wird. Er wird sich von dort über die ganze Welt ausbreiten.«
»Die Guatemalteken werden keine Amerikaner ins Land lassen, die den Krankheitserreger vielleicht schon in sich tragen. Und ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Schließlich haben wir keine handfesten Beweise dafür, dass der Erreger tatsächlich von dort stammt.«
»Wir wissen nichts darüber, Emily, wir wissen nicht einmal, was genau es ist. Denken Sie an das Marburg-Virus. Wir konnten es erst aufhalten, als wir den Infektionsherd gefunden hatten. Wenn wir herausfinden, aus welchem Dorf Volcy stammt, wenn wir diese Ruinen finden, wo er sein Lager aufgeschlagen hatte, dann erlauben sie uns vielleicht, ein Team hinzuschicken.«
»Möglich. Ich weiß es nicht.«
»Deputy Cavanagh?« Stanton und Cavanagh drehten sich um. Ein milchgesichtiger Verwaltungsangestellter hielt einen Schnellhefter mit dem Vermerk VERTRAULICH in der ausgestreckten Hand.
»Sind das die Ergebnisse der Blutuntersuchung?«, fragte Stanton.
Der junge Mann nickte. Cavanagh überflog die Tests aus dem ersten Kreis der Kontaktpersonen, auf die sie seit Stunden gewartet hatten.
»Wie viele sind positiv?«, fragte Stanton.
»Fast zweihundert«, antwortete der junge Mann. Das waren mehr als alle bekannten Fälle von FFI.
Mehr als alle Fälle von Rinderwahnsinn.
Cavanagh warf Stanton einen flüchtigen Blick zu und blätterte dann schnell zu den letzten Seiten. Sie suchte weiter hinten im Alphabet nach Stantons Namen.