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Auf der abgewetzten Ledercouch in Chels Arbeitszimmer stapelten sich Zeitungsartikel und alte Ausgaben des Journal of Mayan Linguistics. Auf dem Schreibtisch stand ein kaputter PC, und sowohl der Schreibtisch als auch der Bürosessel waren begraben unter einer Flut von Einwanderungsformularen, Hypothekenanträgen und anderem Papierkram für die Mitglieder der Fraternidad. Die Regale quollen über von Büchern, und der Fußboden war übersät damit, bis auf einen kleinen Fleck auf dem Orientteppich. Dort saß Chel seit einer Stunde und starrte auf die kleine Kiste vor sich.

Sie dachte an die Kostbarkeit, die sich darin befand und auf die sie einen kurzen Blick hatte werfen dürfen – die Glyphen, die eine fantastische Geschichte über ihre Vorfahren erzählten, über die Kunstfertigkeit der Darstellung ihrer Götter. Chel hatte ihre berufliche Laufbahn dem Studium alter Maya-Inschriften gewidmet, und sie wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als die Plastikfolie zu entfernen und die Glyphen ein weiteres Mal zu betrachten, sie zu fotografieren und zu erforschen, welche Schätze noch in der Kiste waren außer jenen, die sie schon kannte.

Doch seit sie sich vor der Kirche von Gutierrez verabschiedet hatte, hatte sie ein Bild im Kopf, das sie nicht mehr loswurde. Sie sah ihre ehemalige Kollegin vor sich, die sich, im Blitzlicht von Fernsehkameras aus aller Welt, heute vor einem italienischen Gericht verantworten musste. Gegen die frühere Kuratorin des Getty Museums, die für den Bereich archäologische Funde zuständig gewesen war und die nur ein paar Meter von Chel entfernt ihr Büro gehabt hatte, war Anklage erhoben worden, als sich herausstellte, dass Artefakte, die sie für das Museum erworben hatte, aus Gräbern geraubt worden waren. Sie hatte nicht nur das Museum in eine äußerst peinliche Situation gebracht, sondern auch sich selbst großen Schaden zugefügt: Sie war geächtet in der Welt der Wissenschaft und hatte außerdem im Gefängnis gesessen.

Chel war sich im Klaren darüber, dass sowohl das Museum als auch die Einwanderungs- und Zollbehörde ein Exempel an ihr statuieren würden. Es war eine Sache, nach dem Erwerb eines Tongefäßes herauszufinden, dass dessen Herkunftspapiere gefälscht worden waren, so wie es ihr mit Gutierrez’ tönernem Schildkrötenpanzer passiert war. Aber ein Kodex war etwas ganz anderes. Kein Museumsdirektor auf der ganzen Welt würde auch nur eine Sekunde lang glauben, dass sie nicht genau gewusst hatte, was sie tat, als sie die Handschrift vor der Kirche angenommen hatte.

Chel hob die Kiste vorsichtig hoch. Sie wog höchstens fünf Pfund. Sie stellte sie auf den Schoß und hielt sie fest.

Wie war es möglich, dass diese Handschrift bis heute überdauert hatte? Mitte des 16. Jahrhunderts versuchten die Inquisitoren der katholischen Kirche, die den spanischen Eroberern nach Mittelamerika gefolgt waren, die heidnischen Einflüsse auszurotten. Sie verbrannten etliche Tausend Maya-Schriften und heilige Bücher, zerstörten Kunstwerke und Inschriften. Chel und andere Maya-Experten waren bis heute der Meinung gewesen, dass nur vier Handschriften erhalten waren.

Das Grolier-Fragment beschrieb die Phasen der Venus; der Madrider Kodex befasste sich mit den Vorzeichen, die auf eine gute oder eine schlechte Ernte hindeuteten; der Pariser Kodex schilderte rituelle Handlungen und Zeremonien zu Beginn des neuen Jahres. Der von Chel besonders geschätzte Dresdner Kodex – die älteste der Maya-Handschriften, entstanden etwa um 1200 v. Chr. – enthielt astronomische Berechnungen, Geschichten über Könige, Weissagungen über die Ernte. Doch auch dieser letzte Kodex stammte nicht aus der klassischen Periode der Maya-Kultur. Wie war es also möglich, dass diese Handschrift so lange unentdeckt geblieben war?

Es klingelte an der Tür.

Es war schon nach acht. Wer konnte das sein? Gutierrez etwa? Warum nur hatte sie die Kiste nicht aufgemacht und den Inhalt genauer untersucht? Oder war das die Polizei? War Gutierrez vielleicht schon verhaftet worden? Hatte die Einwanderungs- und Zollbehörde ihn vielleicht beschattet, als er zur Kirche gekommen war?

Chel packte die Kiste, sprang auf und eilte zum Wandschrank in ihrem Arbeitszimmer. Kein Mensch wusste von dem Versteck, das sie dort entdeckt hatte. Einer ihrer Vormieter hatte alle möglichen Erinnerungsstücke an das Los Angeles der 1920er-Jahre dort aufbewahrt. Sie versteckte die Handschrift unter einem Stapel uralter Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Wolfskill Farm, dem heutigen Westwood.

Sie war schon auf dem Weg zur Tür, als es ein zweites Mal klingelte.

Sie spähte durch das Fenster und atmete erleichtert auf. Draußen stand ihre Mutter. Doch Chels Erleichterung schlug rasch um in Gereiztheit.

»Willst du mich die ganze Nacht hier draußen stehen lassen?«, brummte Ha’ana, als ihre Tochter ihr öffnete. Sie war nur knapp über eins fünfzig groß und trug ein knielanges marineblaues Baumwollkleid, eines von vielen, die sie von dem Hersteller erworben hatte, bei dem sie als Näherin arbeitete, seit sie in Amerika waren. Auch mit ihren silbergrauen Haaren und einigen überflüssigen Pfunden strahlte Ha’ana immer noch große Ruhe aus.

»Mom, was machst du denn hier?«

Ha’ana hielt ein paar Stofftaschen in die Höhe. »Dir das Abendessen kochen, weißt du nicht mehr? Willst du mich nicht endlich hereinbitten oder soll ich noch länger in dieser Kälte herumstehen?«

Über den aufwühlenden Ereignissen des Tages hatte Chel ihre Verabredung zum Abendessen vollkommen vergessen.

»Früher war es ordentlicher hier«, bemerkte Ha’ana, als sie eintrat und sah, in was für einem Zustand das Haus war. »Als Patrick noch da war.«

Patrick. Natürlich. Das musste ja kommen. Chel war fast ein Jahr mit Patrick zusammen gewesen. Dann hatten sie sich getrennt, aus Gründen, die so kompliziert waren, dass Chel nie mit ihrer Mutter darüber gesprochen hatte. Aber Ha’ana hatte recht: Seit er vor vier Monaten ausgezogen war, hatte Chel ihr Haus unweit des Campus der University of California praktisch nur noch als Zwischenstation benutzt auf dem Weg von ihrem Büro in der Universität zum Getty Museum. Wenn sie nach einem anstrengenden Tag abends nach Hause kam, zog sie sich oft einfach nur aus und ließ sich vor den Fernseher fallen, wo eine Sendung des Discovery Channel lief, und schlief ein.

»Willst du mir nicht helfen?«, rief Ha’ana aus der Küche.

Chel ging zu ihr und packte die Einkaufstaschen aus. Seit einiger Zeit hatte Ha’ana Rückenschmerzen, die sie in ihrer Beweglichkeit einschränkten. Und obwohl Chel nicht die geringste Lust hatte, sich zum Essen hinzusetzen, schaffte sie es nicht, Nein zu sagen zu ihrer Mutter. Das konnte sie noch nie.

Das Abendessen war eine aus vier verschiedenen Käsesorten und Spinat und viel Knoblauch zusammengemischte Lasagne. Als Kind hatte Chel ihre Mutter kaum je einmal dazu bewegen können, Speisen aus der Heimat ihrer Vorfahren zu kochen. Stattdessen war sie mit Makkaroni und Weißbrotsandwiches vollgestopft worden. Mittlerweile sah sich Ha’ana fast ununterbrochen irgendwelche Kochsendungen an, und ihre Kochkünste hatten Fortschritte gemacht. Während sie aßen, starrte Chel abwesend auf ihren Teller. Ihre Mutter erzählte von ihrer Arbeit in der Fabrik. Chel hörte kaum hin. Sie war mit den Gedanken ganz woanders: bei der Handschrift im Zimmer nebenan.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Sie blickte auf und sah, dass Ha’ana sie prüfend betrachtete.

»Ja, ja, alles in Ordnung, Mom.« Sie streute Paprikapulver über ihre Lasagne. »Weißt du, ich bin schon ganz aufgeregt, dass du nächste Woche in meinen Unterricht kommst.«

»Oh, das habe ich dir ja noch gar nicht gesagt. Ich kann nicht kommen. Tut mir leid.«

»Und warum nicht?«

»Ich habe auch einen Job, Chel.«

Ha’ana hatte in dreißig Jahren kaum einen Tag gefehlt. »Wenn du deiner Chefin sagst, warum du nicht kommen kannst, hat sie bestimmt nichts dagegen. Im Gegenteil, sie wird wollen, dass du kommst. Ich kann mit ihr reden, wenn du willst.«

»Ich habe an dem Tag eine Doppelschicht.«

»Mom, ich habe meinen Studenten so viel über die Geschichte des Dorfes erzählt, sie wären sicher begeistert, wenn sie mit jemandem sprechen könnten, der tatsächlich in Kiaqix gelebt hat.«

Ha’ana nickte. »O ja, irgendjemand muss ihnen unbedingt alles über unser unglaubliches Gründertrio erzählen.« Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Viele Mythen und Legenden rankten sich um Beya Kiaqix, das winzige Dorf, in dem Ha’ana und Chel geboren worden waren. Der Sage nach war der Ort von einem Adligen und dessen beiden Ehefrauen gegründet worden, die vor der Herrschaft eines tyrannischen Königs geflohen waren. Seitdem hatten mehr als fünfzig Generationen von Chels Familie im Tal des scharlachroten Ara gelebt, im Bezirk Petén im nördlichen Guatemala.

Chel und ihre Mutter gehörten zu den wenigen, die von dort weggegangen waren. Als Chel zwei Jahre alt war, befand sich die revolutionäre Bewegung im vom Bürgerkrieg erschütterten Guatemala, dem längsten und blutigsten in der Geschichte Mittelamerikas, auf dem Höhepunkt. Aus Angst um ihre Tochter und um sich selbst war Ha’ana aus Kiaqix geflohen und in die Vereinigten Staaten emigriert. Das war dreiunddreißig Jahre her. Ha’ana hatte Arbeit gefunden und sich selbst Englisch beigebracht. Als ihre Tochter vier Jahre alt war, hatte Ha’ana ihre Arbeitserlaubnis in der Tasche, und es dauerte nicht lange, bis beide die amerikanische Staatsbürgerschaft bekamen.

»Na, dann kannst du ihnen ja alles darüber erzählen«, erwiderte Chel trocken.

»Du kennst die Sagen von Kiaqix genauso gut wie ich, Chel«, sagte Ha’ana und schob sich eine Gabel voll Lasagne in den Mund. »Du brauchst mich nicht.«

Ha’ana hatte es immer schon nach Kräften vermieden, über die Vergangenheit zu reden. Selbst wenn Chel einen Weg gefunden hätte, ihr zu beweisen, dass jedes Wort der überlieferten Geschichte ihres Dorfes stimmte, hätte sich Ha’ana darüber lustig gemacht. Chel hatte schon vor vielen Jahren begriffen, dass das Ha’anas Art war, die traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit zu bewältigen.

Am liebsten wäre sie aufgestanden, hätte die uralte Handschrift aus dem Versteck geholt und sie ihrer Mutter in den Schoß gelegt. Nicht einmal Ha’ana hätte sich ihrer Magie entziehen können.

»Wann hast du das letzte Mal ein Buch in der Sprache deiner Vorfahren gelesen?«, fragte Chel.

»Warum sollte ich das tun, wo ich doch so viel Zeit darauf verwendet habe, Englisch zu lernen?«, entgegnete ihre Mutter. »Außerdem sind in letzter Zeit keine guten Kriminalromane in Qu’iche veröffentlicht worden, soweit ich weiß«, fügte sie spöttisch hinzu.

»Mom, du weißt genau, was ich meine. Ich rede nicht von modernen Büchern. Ich rede von uralten Texten. Von Büchern wie dem Popol Vuh

Ha’ana verdrehte die Augen. »Ich habe neulich in einer Buchhandlung tatsächlich eine Ausgabe des Popol Vuh gesehen. Gleich neben diesem ganzen Unsinn vom Weltuntergang im Dezember 2012. Großmäulige Affen und blumengeschmückte Götter – das ist alles, was man in der Sprache der Maya bekommt.«

Chel schüttelte den Kopf. »Vater hat seine Briefe doch auch in Qu’iche geschrieben, Mom.«

1979, zwei Jahre, nachdem Chel auf die Welt gekommen war, war ihr Vater ins Gefängnis geworfen worden. Die Militärs warfen ihm vor, er sei Mitglied der revolutionären Bewegung und habe die Bewohner von Kiaqix gegen die Regierung aufgewiegelt. Alvar Manu gelang es, Briefe aus dem Gefängnis zu schmuggeln, in denen er sein Dorf beschwor, sich niemals zu ergeben. Ha’ana hatte seine Botschaften an ein paar Dutzend Dorfälteste in ganz Petén weitergeleitet und so dafür gesorgt, dass sich die Zahl der Freiwilligen, die sich den Aufständischen anschlossen, innerhalb weniger Wochen verdoppelte. Doch mit den Briefen hatte Chels Vater sein Todesurteil unterschrieben: Als die Wärter dahinterkamen, wurde er ohne Gerichtsverhandlung hingerichtet.

»Warum müssen wir immer wieder davon anfangen?« Ha’ana stand auf und begann den Tisch abzuräumen.

Chel seufzte frustriert. Sie liebte ihre Mutter, und sie würde ihr immer dankbar sein für alles, was sie für sie getan hatte. Aber ganz tief drinnen wurde sie das Gefühl nicht los, dass Ha’ana ihr Volk verraten hatte, als sie geflohen war, und dass sie deshalb auch nicht an die Vergangenheit erinnert werden wollte. Es wäre sinnlos, ihr die Handschrift zu zeigen. Solange Chel die Bedeutung der Zeichen nicht entziffert hatte, würde Ha’ana nur verrottende Baumrinde sehen und sonst gar nichts.

Chel erhob sich ebenfalls. »Lass das Geschirr stehen.«

»Wieso, das ist doch schnell gespült. Sonst türmt es sich am Ende noch so wie alles hier im Haus.«

Chel atmete tief durch. »Ich muss noch mal weg, Mom.«

Ha’ana drehte sich um. »Weg? Wohin?«

»Ins Museum.«

»Jetzt? Um neun Uhr abends? Was für ein Job ist das denn?«

»Danke für das Abendessen, Mom, aber ich muss jetzt wirklich los.«

»In Kiaqix wäre das eine Beleidigung«, erwiderte Ha’ana. »Wenn eine Frau für einen gekocht hat, schickt man sie danach nicht weg.«

Wenn es ihr gelegen kam, führte Ha’ana gern die alten Bräuche an, über die sie sich sonst nur lustig machte.

»Na, dann ist es ja gut, dass wir nicht mehr in Kiaqix sind«, versetzte Chel.

***

Im Lauf der vergangenen acht Jahre hatte Chel eine hochmoderne Forschungsabteilung für mesoamerikanische Kulturen im einstmals konservativsten Museum Kaliforniens eingerichtet. Wenn sie nach der Arbeit noch ein bisschen Zeit hatte, schlenderte sie gern durch die leeren Säle, vorbei an van Goghs Schwertlilien oder an Pontormos Der Hellebardier. Sie musste jedes Mal schmunzeln, wenn sie sich vorstellte, wie der Großindustrielle, Ölmagnat und Multimilliardär Paul Getty wohl reagiert hätte, wenn er die Tonfiguren von knienden, zu ihren Göttern betenden Mayas und die Darstellungen mesoamerikanischer Gottheiten neben seinen geliebten europäischen Kunstwerken gesehen hätte.

Doch an diesem Abend war ihr die Lust zu schmunzeln vergangen. Es war kurz nach zwei Uhr nachts, und sie stand, umgeben von hochauflösenden Kameras, Massenspektrometern und Instrumenten zur Konservierung antiker Gegenstände, neben Dr. Rolando Chacon, ihrem erfahrensten Experten für die Restaurierung von Antiquitäten, im Forschungslabor 214 A. Normalerweise lagen Jadeklumpen, Tonzeug, alte Masken auf den langen aneinandergereihten Holztischen, aber jetzt hatten sie im hinteren Teil des Raumes auf einigen davon Platz gemacht und die Handschrift darauf ausgebreitet. An den Wänden hingen Fotografien von Maya-Ruinen, die sie bei Ausgrabungen gemacht hatte – stille Erinnerungen an die emotionale Achterbahnfahrt, die stets mit der Rückkehr in die Heimat ihrer Familie verbunden war.

Chel und Rolando trennten die Blätter der alten Handschrift vorsichtig mithilfe von Spatellöffeln und hoben sie dann mit langen Pinzetten Stück für Stück behutsam aus der Holzkiste, um sie auf Glastische zu legen, die von unten beleuchtet wurden. Manche Fragmente waren nur so groß wie eine Briefmarke, aber auch diese waren aus dem festen Papier, das aus der Rinde von Feigenbäumen hergestellt wurde und das durch Schmutz und Feuchtigkeit noch schwerer geworden war.

Die Arbeit dauerte Stunden. Danach begannen sie mit dem Entziffern des Textes. Obwohl sie bisher gerade einmal den obersten Teil der ersten Seite geschafft hatten, hatten der Ruhm und die Herrlichkeit ihrer Vorfahren Chel schon ganz in ihren Bann geschlagen. Die ersten Worte schienen den Regen und die Sterne zu beschwören, ein Gebet, das sie wie durch Zauberei in eine andere Welt versetzte.

»Das heißt also, dass wir nachts daran arbeiten müssen?«, fragte Rolando. Er war eine Bohnenstange, über eins achtzig groß und dünn, und er hatte sich seit mindestens einer Woche nicht mehr rasiert, wie man an den dunklen Stoppeln auf Gesicht und Hals erkennen konnte.

»Du kannst ja tagsüber schlafen«, versetzte Chel ungerührt. »Tut mir leid für deine Freundin.«

»Hoffentlich merkt sie überhaupt, dass ich nicht da bin. Na ja, vielleicht wird das Geheimnisvolle ein bisschen Schwung in unsere Beziehung bringen. Und du? Wann schläfst du?«

»Irgendwann. Ich habe niemanden, der bemerken würde, dass ich weg bin.«

Rolando legte ein weiteres Fragment behutsam auf der Glasplatte ab. Chel kannte niemanden, der so viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit zerbrechlichen Objekten hatte oder einen besseren Instinkt bei der Rekonstruktion antiker Gegenstände. Chel vertraute ihm. Er gehörte länger zu ihrem Team als irgendjemand sonst, und er war immer loyal gewesen. Es war ihr nicht recht, dass sie ihn in Gefahr brachte, aber sie brauchte seine Hilfe.

»Wär’s dir denn lieber, wenn ich jemand anderen hinzuziehen würde?«, fragte Chel.

»Verdammt, nein!«, antwortete Rolando. »Ich bin doch dein einzig wahrer ladino, und ich lasse nicht zu, dass du diese Bombe ohne mich hochgehen lässt.«

Mit ladino wurden in der Umgangssprache die sieben Millionen Nachkommen der Spanier in Guatemala bezeichnet. Chel hatte ihr Leben lang von ihrer Mutter zu hören bekommen, wie die ladinos den vom Militär begangenen Völkermord an den Indios unterstützt hatten und wie sie die indígenas für ihre wirtschaftliche Misere verantwortlich machten. Trotz der immer noch bestehenden Spannungen zwischen den beiden Gruppen hatte die langjährige enge Zusammenarbeit mit Rolando dazu geführt, dass Chel die Dinge ein wenig differenzierter sah. Während der Revolution hatte sich Rolandos Familie für die Indios eingesetzt. Sein Vater war einmal sogar verhaftet worden wegen seines Engagements. Nicht lange danach war er mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten ausgewandert.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Fund aus einer der größeren Ruinen stammt«, murmelte Rolando, während er das Fragment hin und her drehte, bis er das passende Anschlussstück gefunden hatte.

Die über sechzig bekannten Maya-Ruinen aus der klassischen Periode in Guatemala, Honduras, Mexiko, Belize und El Salvador waren das ganze Jahr über voller Archäologen, Touristen und Einheimischen. Keine idealen Bedingungen für Plünderer, auch wenn sie noch so gerissen waren. Daher vermutete Chel, dass die Handschrift aus einer bislang unentdeckten Stätte stammte. Jedes Jahr wurden rein zufällig vom Dschungel überwucherte Ruinen entdeckt: von Satelliten, Hubschraubertouristen, Holzfällern. Der Plünderer, wahrscheinlich ein professioneller Schatzsucher, musste die antike Stätte durch einen solchen Zufall gefunden haben und dann mit einem Team wiedergekommen sein.

»Glaubst du, der Plünderer könnte auf eine versunkene Stadt gestoßen sein?«, fragte Rolando.

Chel zuckte die Achseln. »Jedenfalls werden die Leute das glauben wollen.«

Rolando lächelte. »Und überall in Guatemala werden die indígenas sie als ihre eigene beanspruchen.«

In vielen Indiodörfern wurden Geschichten überliefert, die von einer sagenhaften versunkenen Stadt erzählten, in der die jeweiligen Vorfahren einst gelebt hatten. Während der Revolution hatte ein Cousin von Chels Vater sogar einmal behauptet, er habe die versunkene Stadt von Kiaqix entdeckt, jene Stadt, aus der die drei ursprünglichen Gründer angeblich geflüchtet waren. Doch die Wirklichkeit war keineswegs so aufregend: Die Maya hatten zu einem großen Teil immer schon in kleinen Dörfern im Dschungel gelebt. Sich auf eine Verbindung zu einer versunkenen Stadt zu berufen war für die Menschen aus Chels Volk in etwa so, wie wenn ein weißer Amerikaner behaupten würde, einer seiner Vorfahren sei auf der Mayflower nach Amerika gekommen: Das konnte man zwar leicht sagen, aber nur schwer beweisen.

»Schön, ich frage dich also nicht noch mal, wo du das herhast«, sagte Rolando, während er ein weiteres Fragment anfügte, »aber wenn ich mir die Ikonografie ansehe, würde ich sagen, es ist Ende der klassischen Periode entstanden. So zwischen 800 und 925? Unglaublich.«

Chel nickte. »Ich bin gespannt, was die Karbondatierung ergibt.«

Rolando legte seine Pinzette weg. »Ich weiß, die Sache muss geheim bleiben, aber … die Syntax ist über weite Strecken verdammt kompliziert. Wir könnten Victor dringend brauchen. Keiner kennt sich damit besser aus als er.«

Der Gedanke war Chel auch schon gekommen. Als sie die Handschrift sah, hätte sie Victor Granning am liebsten sofort angerufen, aber sie fürchtete sich vor seiner Reaktion. Sie hatten seit Monaten keinen Kontakt gehabt, und Chel hatte allen Grund, ihm aus dem Weg zu gehen. »Wir schaffen das auch allein«, erwiderte sie.

»Wie du meinst.« Rolando drängte sie nicht weiter. Er wusste, dass Granning ein wunder Punkt war. Chel liebte ihren alten Mentor, aber er war ein Starrkopf. Und ein bisschen verrückt.

Chel versuchte, den Gedanken an Granning zu verscheuchen, und konzentrierte sich stattdessen auf die Glyphen, die Rolando bisher zusammengestellt hatte:

Wie alle Maya-Glyphen handelte es sich entweder um eine Kombination von aneinandergehängten Silben, die zusammen ein Wort ergaben (wie zum Beispiel die Buchstaben im Englischen), oder (ähnlich wie etwa im Chinesischen) um eine Kombination aus Silben und Bildern, die zusammengenommen eine Idee darstellten. Nachdem Chel die Zeichengruppen in einzelne Bausteine untergliedert hatte, entzifferte sie jedes Element mithilfe von Katalogen, die die einhundertfünfzig dekodierten Silben und die über achthundert bekannten Bilder-Glyphen auflisteten. Dann reihte sie sie zu Sätzen aneinander.

Einige Wörter wie jäb waren vertraut: Dasselbe Wort wurde im modernen Qu’iche für »Regen« verwendet. Für andere wie zum Beispiel wulij gab es keine wörtliche Übersetzung: »Vernichten« traf es noch am ehesten, auch wenn es keine religiöse Nebenbedeutung hatte wie in der Sprache der Maya. Etwa einhundertfünfzig Glyphen waren bisher identifiziert worden, aber noch nicht entziffert, und Chel entdeckte einige davon gleich auf der ersten Seite der Handschrift. Hinzu kamen weitere, die sie noch nie gesehen hatte. Sie nahm an, dass Dutzende neue Glyphen analysiert werden müssten, wenn der Text erst einmal vollständig rekonstruiert war.

Drei Stunden später hatte Chel Krämpfe in den Beinen vom langen Sitzen, und ihre Augen waren so trocken und gereizt, dass sie ihre Kontaktlinsen herausnehmen und die verhasste Brille aufsetzen musste. Aber sie hatten eine grobe Übersetzung der ersten Gruppe von Glyphen:

Fallen Regen ist nicht – Nahrung – halbe Sternenphase. Ernte, vernichten Felder von Kanuataba, Erdboden gleich – und Bäume, verjagen Wild, Vögel, Jaguar, Wächter des Landes. Neue Bestimmung –Ackerflächen. Öde und kahl die Hügel, Schwärme Insekten, nähren Blätter Böden nicht. Nicht haben, sicherer Ort, Tiere, Schmetterlinge, Pflanzen, gegeben vom Heiligen Lebensspender, für beseelte Leben. Ohne Fleisch, Tiere, uns kochen.

Aber das war natürlich keine vollständige Übersetzung, die den Sinn dessen wiedergab, was der Schreiber auszudrücken versuchte. Ein Kodex war immer aus der Sicht eines allwissenden Erzählers geschrieben und im Ton oft sehr nüchtern gehalten. Chel begann nun, anhand des Kontexts und aufgrund von typischen Wortpaarungen, wie sie sie aus den anderen Handschriften kannte, die fehlenden Wörter zu ergänzen, bis der Text einen einigermaßen annehmbaren Sinn ergab:

Kein Regen ist gefallen, der Nahrung gegeben hätte, in einer halben Phase des großen Sterns. Die Felder von Kanuataba sind abgeerntet und vernichtet, Bäume und Pflanzen dem Erdboden gleichgemacht worden, und das Wild und die Vögel und die Jaguar-Wächter des Landes sind verjagt worden. Ackerflächen können nicht neu bestellt werden. Die Hügel sind öde und kahl, Insekten schwärmen, und keine fallenden Blätter nähren den Boden. Die Tiere und Schmetterlinge und Pflanzen, die der Heilige Lebensspender gegeben hat, haben keinen Ort mehr, an dem sie weiterleben könnten. Die Tiere haben kein Fleisch mehr, das Essen liefern könnte.

»Da wird eine Dürre beschrieben«, staunte Rolando. »Wem wäre erlaubt worden, so etwas zu schreiben?«

Chel fragte sich genau das Gleiche. Die Aufzeichnungen der Maya waren im Allgemeinen »Presseverlautbarungen« für den jeweiligen Herrscher. Ein königlicher Schreiber – halb Pressesekretär, halb religiöser Führer – hätte es niemals gewagt, etwas zu berichten, was seinen Herrscher in ein schlechtes Licht gerückt hätte.

Chel hatte noch keinen Text gesehen, der von den Sorgen und Nöten des Alltags handelte. Man hatte zwar in Ruinen gemeißelte Voraussagen für Regen und ähnliche Weissagungen im Madrider und im Dresdner Kodex gefunden, aber man hatte noch nie ein Schriftstück entdeckt, in dem eine Dürrekatastrophe geschildert wurde. Es war die Aufgabe des Königs, für Regen zu sorgen, und eine solche Diskussion hätte jeden König, der den lebensnotwendigen Regen nicht liefern konnte, in größte Verlegenheit gebracht.

»Nur ein offizieller Schreiber kann so viel Kunstfertigkeit besessen haben.« Rolando deutete auf eine perfekt ausgeführte Darstellung des Maisgottes.

Chel studierte den Text abermals. Wer auch immer der Verfasser gewesen sein mochte – wenn er erwischt worden wäre, hätte ihm wahrscheinlich die Todesstrafe gedroht. Kein Regen ist gefallen, der Nahrung gegeben hätte, in einer halben Phase des großen Sterns. Der »große Stern« war die Venus, und eine »halbe Phase« umfasste beinah fünfzehn Monate. Der Text beschrieb die längste Dürreperiode in der bisher bekannten Geschichte der Maya.

»Was ist?«, fragte Rolando, der ihre nachdenkliche Miene bemerkt hatte.

»Es geht nicht nur um eine außergewöhnliche Trockenheit. Er erzählt auch von leeren Maisspeichern. Von Tieren, die gefährdet sind, und davon, dass die Anbauflächen immer knapper werden. Keinem wäre erlaubt worden, so etwas aufzuzeichnen. Er schildert praktisch das Ende seiner Kultur.«

Ein Lächeln zuckte um Rolandos Mundwinkel. »Du glaubst …«

Chel nickte. »Er schildert den Zusammenbruch.«

Die Frage, die Chel im Lauf der Jahre mehr beschäftigt hatte als jede andere Frage, war die nach den Gründen für den Untergang der Kultur ihrer Vorfahren gegen Ende des ersten Jahrtausends. Siebenhundert Jahre lang hatten die Maya Städte gebaut und auf den Gebieten Kunst, Architektur, Landwirtschaft, Mathematik, Astronomie und Handel zu den fortschrittlichsten Völkern ihrer Zeit gehört. Doch dann, sechshundert Jahre vor der Ankunft der spanischen Eroberer, hörten die Stadtstaaten auf, sich auszudehnen, die Bautätigkeit kam zum Erliegen, die Schreiber in den Tiefebenen des heutigen Guatemala und Honduras machten keine Aufzeichnungen mehr. Binnen eines halben Jahrhunderts nur wurden die Städte aufgegeben, die Institution des Königtums verschwand, und die klassische Periode der Maya-Kultur ging zu Ende.

Es gab zahlreiche Spekulationen über die Gründe für diesen Zusammenbruch. Einige von Chels Kollegen sahen die Ursache in einer extremen wirtschaftlichen Nutzung, im rücksichtslosen Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen wie Ackerland und Waldflächen. Andere vertraten die Auffassung, dass die Maya durch ihren Hang zu gewaltsamen Eroberungen, durch übertriebene Religiosität, durch blutrünstige Opferrituale ihren Untergang selbst herbeigeführt hatten.

Chel stand diesen Mutmaßungen skeptisch gegenüber, weil sie ihrer Meinung nach geprägt waren von der westlichen Arroganz den Eingeborenen gegenüber. Erst seit die Spanier nach Mittelamerika gekommen waren, haftete den Maya der Ruf an, sie hätten rituelle Menschenopfer gebracht, und der Untergang ihrer Kultur war jahrhundertelang als Beweis dafür angeführt worden, dass die spanischen Eroberer sehr viel weiter entwickelt waren als die Wilden, die sie unterworfen hatten, und dass die Maya nicht imstande waren, sich selbst zu regieren.

Chel hingegen sah die Ursachen für den Zusammenbruch des Maya-Reiches in natürlichen Dürreperioden, die Jahrzehnte andauerten und eine Landwirtschaft in größerem Umfang unmöglich machten. Man hatte die Flussbetten in dem einst von den Maya besiedelten Gebiet untersucht und festgestellt, dass das Ende der klassischen Ära mit einer der trockensten Perioden in siebentausend Jahren zusammenfiel. In solchen Dürrezeiten passten sich die Maya an, indem sie die Städte verließen und sich in kleinen Dörfern wie Kiaqix ansiedelten, wo sie dem kargen Boden gerade so viel abtrotzten, dass sie ihre Familien ernähren konnten.

»Wenn wir beweisen könnten, dass das tatsächlich die Schilderung des Weltuntergangs ist, dann wäre das ein Meilenstein in der Geschichte«, sagte Rolando aufgeregt.

Chel nickte zerstreut. Sie versuchte sich vorzustellen, was sie noch auf diesen Blättern finden würden. Inwieweit die Handschrift Fragen beantworten würde, auf die sie bisher keine Antwort gefunden hatten. Sie malte sich schon aus, wie sie der Welt eines Tages diesen Kodex präsentieren würde.

»Wenn wir beweisen könnten, dass der Untergang eine Folge von Dürreperioden gigantischen Ausmaßes war, könnten wir auch diesen Generälen endlich das Maul stopfen«, fügte Rolando hinzu.

Der Gedanke jagte einen Adrenalinstoß durch Chels Adern. Seit drei Jahren gab es wieder Spannungen zwischen ladinos und indígenas. Bürgerrechtler waren ermordet worden, und dieselben, die für den Tod von Chels Vater verantwortlich waren, hatten weitere Verbrechen begangen. Sogar auf der politischen Bühne war der Untergang der Maya als Argument gegen die Indios angeführt worden: Die Maya seien Wilde, die schon einmal ihre Umwelt zerstört hätten und die das wieder tun würden, wenn man ihnen ihr kostbares Land überließe.

Konnte diese Handschrift ein für alle Mal beweisen, dass dem nicht so war?

In Chels Büro im rückwärtigen Teil des Labors klingelte das Telefon. Sie schaute auf die Uhr. Kurz nach acht Uhr morgens. Höchste Zeit, den Kodex zusammenzupacken und in der Stahlkammer einzuschließen. Bald würden die ersten Angestellten kommen, und sie konnten nicht riskieren, dass irgendjemand Fragen stellte.

»Ich geh schon«, sagte Rolando.

»Ich bin nicht da«, rief Chel ihm nach. »Du hast keine Ahnung, wann ich wieder da bin.«

Als Rolando eine Minute später zurückkam, lag ein seltsamer Ausdruck auf seinem Gesicht. »Das war ein Dolmetscherdienst von einem Krankenhaus.«

»Und?«

»Die haben dort einen Patienten, der vor drei Tagen eingeliefert wurde, und kein Mensch kann ihn verstehen. Jetzt haben sie irgendwie rausgekriegt, dass er Qu’iche spricht.«

»Sag ihnen, sie sollen später in der Kirche anrufen«, erwiderte Chel. »Dort findet sich bestimmt jemand, der dolmetschen kann.«

»Das wollte ich ja. Aber dann meinten sie noch, der Patient wiederholt immer wieder ein Wort, wie eine Art Mantra.«

»Was für ein Wort?«

»Wuj.«

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