32
Stantons Hände zitterten, als er den Schlüssel ins Zündschloss steckte und den Motor anließ. Er hatte einen Mann getötet. Die Waffe, die er dazu benutzt hatte, lag griffbereit auf seinem Schoß. Da draußen in der Dunkelheit musste es noch mehr Infizierte geben, trotzdem schien es ihm sicherer zu sein, diesen Ort zu verlassen. Chel saß benommen und in sich zusammengesunken auf dem Beifahrersitz. Sie würden erst in ein paar Stunden wissen, ob der Mann sie infiziert hatte, bevor Stanton ihn erschossen hatte. Nicht einmal mit dem Schnelltest war ein rascheres Ergebnis möglich.
Die Scheinwerferkegel erfassten winzige Moskitoschwärme, als sie die Straße hinunter in das eigentliche Dorf fuhren. Stanton hatte das Fernlicht eingeschaltet, und jetzt sah er, woher die schwarze Rauchsäule gekommen war, die sie von der Landepiste aus gesehen hatten. Ein Gebäude, etwa so groß wie das Krankenhaus, war niedergebrannt. Wände und Dach waren eingestürzt, der Kalkstein durch die Hitze geborsten. Ein Haufen rauchende Trümmer.
»Das ist die Schule«, murmelte Chel tonlos.
Sie fuhren weiter. Auf beiden Seiten der Straße tauchten Hütten auf, oder besser gesagt, das, was davon übrig geblieben war. Alle paar Hundert Meter standen vier bis sechs solcher Hütten, kleine Häuschen ohne Fenster, mit nur einem einzigen Raum und mit einer einzigen Tür. Die lehmverputzten Holzwände waren eingerissen worden, die Palmwedel, mit denen die Dächer gedeckt waren, heruntergerissen. Mitten auf der Straße lagen Dutzende Hängematten; es sah aus, als wären sie aus einem der Häuser geschleift und dann einfach hier liegen gelassen worden. Achtlos zur Seite geworfene Stoffe in Rot und Gelb und Grün und Lila waren halb von Morast bedeckt, und die Räder des Jeeps rollten ruckelnd über diesen Friedhof der Farben.
Stanton wäre am liebsten aus dem Dorf hinausgefahren, um irgendwo auf freiem Feld zu übernachten. Sie durften nicht Gefahr laufen, noch einmal angegriffen zu werden. Andererseits würde der Jeep dann vielleicht mehr Aufmerksamkeit erregen, als wenn sie ihn irgendwo versteckten und für die Nacht in einer der verlassenen Hütten Unterschlupf suchten.
Er fuhr langsam an einem Haus vorbei, das noch unbeschädigt zu sein schien. »Weißt du, wer dort wohnt?«, fragte er und zeigte darauf.
Chel antwortete nicht. Sie wirkte völlig abwesend.
Stanton stellte den Jeep kurzerhand ab, stieg aus, öffnete die Beifahrertür und führte Chel zu dem Haus. In der freien Hand hielt er die Smith & Wesson. Er klopfte. Als niemand antwortete, stieß er die Tür mit dem Fuß auf.
Das Erste, das der Strahl seiner Taschenlampe erfasste, waren zwei Leichen in einer Hängematte. Eine junge Frau und ein Kleinkind. Sie mussten seit mindestens einer Woche tot sein.
Stanton drehte sich um und versuchte, Chel den Blick auf die Leichen zu versperren, aber es war zu spät. Sie stand hinter ihm in der Tür und starrte die Frau und das Kind an.
»Wir müssen sie begraben«, sagte sie mit einer Stimme, die ihm völlig fremd war. »Ich brauche Weihrauch.« Sie war offenbar nicht bei klarem Verstand.
»Das geht nicht. Wir müssen hier weg.« Er packte sie an der Hand und zog sie hinter sich her zur nächsten Hütte. Drinnen fanden sie keine Leichen, nur auf dem Boden verstreute Kleidungsstücke, eine kaputte Hacke und einige Keramikschüsseln. Stanton kickte mit dem Fuß alles zur Tür hinaus.
»Glaubst du, hier sind wir sicher?«, brachte Chel hervor.
Er wusste es nicht, aber etwas Besseres würden sie vermutlich nicht finden. »Nimm deinen Augenschutz auf keinen Fall ab«, schärfte er ihr ein.
Erschöpft ließen sie sich auf die festgestampfte Erde fallen, wo sie sich, mit dem Rücken an einer Wand, eng aneinanderschmiegten. Stanton kramte einige Müsliriegel aus seinem Rucksack und zwang Chel, wenigstens ein paar Bissen zu essen. Schließlich knipste er die Taschenlampe aus. Er hoffte, Chel würde ein bisschen schlafen können. Er selbst würde versuchen, wach zu bleiben.
»Weißt du, warum wir Weihrauch für die Toten verbrennen?«, fragte sie leise.
»Nein. Warum?«
»Ohne den Rauch kann die Seele eines Toten nicht in die Unterwelt gelangen. Wir alle hier sind in einer Zwischenwelt gefangen.«
Chel hatte ihm in den letzten Tagen eine ganze Menge über die Sitten und Bräuche ihres Volkes erzählt, aber nicht mit diesem schwermütigen, bedrückten Unterton. Stanton hätte sie gern getröstet, aber er wusste nicht, wie. Nur Gläubige fanden in Momenten wie diesen die richtigen Worte. Und so wandte er sich lieber den Dingen zu, mit denen er sich auskannte. Er war immer noch überzeugt, dass irgendeine Substanz den König und dessen Gefolge vor VFI geschützt hatte, bevor es in Kanuataba zum Ausbruch der Krankheit gekommen war. Morgen würden sie diese Substanz finden. »Wir haben eine Landkarte und die Koordinaten für den Izabal-See, und sobald es draußen hell wird, brechen wir auf.«
Chel antwortete nicht. Sie bettete ihren Kopf in seine Armbeuge, und Stanton spürte, wie sie sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn lehnte und wie ihre Haut seine berührte.
»Vielleicht hat Victor recht gehabt«, flüsterte sie. »Vielleicht ist Flucht der einzige Ausweg, der uns noch bleibt.«
***
Stanton fuhr aus dem Schlaf hoch. Auf der anderen Seite der Mauer stapfte etwas über das nasse Laub. Chel kauerte bereits an der hinteren Wand und lauschte angestrengt. Man konnte ein schrilles, quiekendes Geräusch hören.
Stanton griff nach seiner Waffe.
Dann hörte Chel noch etwas anderes, eine Stimme, die in Qu’iche sagte: »Vertreib die bösen Winde, Hunab Ku!«
»Was ist da draußen los?«, fragte Stanton leise.
Chel bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Mein Name ist Chel Manu«, rief sie in Qu’iche. »Ich bin aus Kiaqix. Mein Vater war Alvar. Ich bin mit einem Doktor hier. Er kann dir helfen, wenn du krank bist.«
Eine sehr kleine alte Frau mit hüftlangen Haaren erschien im Türrahmen. Sie trug eine Brille mit dicken Gläsern auf der breiten Nase.
Stanton ließ die Waffe sinken. In der Ferne donnerte es. Die Frau kam langsam und mit schwankenden Schritten näher.
»Sind böse Winde in diesem Haus?«, fragte sie auf Qu’iche.
»Wir sind nicht krank. Wir sind hier, um herauszufinden, was die Krankheit ausgelöst hat. Ich bin Chel Manu, die Tochter von Alvar. Bist du krank?«
»Seid ihr über den Himmel gekommen?«, fragte die Greisin.
Chel nickte. »Ja. Ist deine Familie krank?«
»Ich bin nicht verflucht.«
Chel streifte Stanton mit einem flüchtigen Blick. Er zeigte auf seine Augen. Die Brille. Die Brille hatte sie wahrscheinlich vor Ansteckung geschützt, so wie ihn und Chel eine Woche zuvor in L.A.
»Wann seid ihr gekommen?«
Sie seien etwa fünf Stunden zuvor in Kiaqix angekommen, erwiderte Chel.
»Frag sie, ob es im Dorf noch andere Überlebende gibt«, sagte Stanton.
»Fünfzehn oder zwanzig«, antwortete die Frau, als Chel übersetzt hatte. »Die meisten sind in den Häusern am Rand des Dorfes. Ein paar verstecken sich im Dschungel und warten darauf, dass die bösen Winde weiterziehen. Hurakan, der Gott der Stürme, wird uns retten.«
»Wann hat es angefangen?«, fragte Chel.
»Vor zwanzig Sonnen. Bist du wirklich Chel Manu?«
»Ja.«
»Wie ist der Name deiner Mutter?«
»Meine Mutter ist Ha’ana. Kennst du sie?«
»Natürlich«, antwortete die alte Frau. »Ich bin Yanala. Du und ich, wir haben uns vor vielen Jahren kennengelernt.«
»Yanala Nenam? Die Tochter von Muram, dem großen Weber?«
»Das bin ich«, bestätigte die alte Frau.
Chel zögerte. »Ist von meiner Familie noch jemand am Leben?«, fragte sie besorgt.
»Eine von deinen Tanten ist unter den Überlebenden. Initia die Ältere. Sie wäre vielleicht selber hergekommen, aber das Gehen fällt ihr schwer. Kommt!« Yanala winkte ihnen, ihr zu folgen.
***
Die alte Frau führte Chel und Stanton durch Seitenstraßen und über Felder. Als sie auf eine Lichtung kamen und auf eine kleine Anhöhe mit ein paar Häusern zugingen, wurde Chel durchzuckt von der einzigen Kindheitserinnerung an diesen Ort: Sie sah sich als kleines Mädchen auf den Schultern ihres Vaters, der den erhöhten Weg entlangging.
Aber jetzt waren keine jungen Mädchen da, die Eimer voll Maismehl trugen, jetzt drang keine Musik aus den Häusern.
Über allem lag eine gespenstische Stille.
Yanala führte sie zu einem kleinen, aus Holzbalken errichteten Haus, dessen dickes Strohdach noch unversehrt war. Sie traten nacheinander ein. Der Raum war vollgestopft mit alten Holzmöbeln und mit Hängematten; eine Wäscheleine war von einer Wand zur anderen gespannt. Über einer Feuerstelle aus großen Steinen wurden Tortillas gebacken, und der Duft von Mais hing in der Luft.
Yanala ging in den hinteren Teil der Hütte. Kurz darauf öffnete sich die Hintertür, und eine noch ältere Frau kam herein. Sie hatte ihre langen silbergrauen Haare zu einem Zopf geflochten, den sie kranzförmig am Kopf festgesteckt hatte. Sie trug eine huipil in Lila und Grün, die mit einem Dutzend bunter Perlenschnüre geschmückt war. Chel erkannte Initia sofort.
Die Frau stützte sich an den Möbeln ab, als sie langsam auf die Besucher zuging. »Chel?«
»Ja, Tante«, antwortete sie auf Qu’iche. »Ich habe einen Doktor aus Amerika mitgebracht.«
Initia trat ins Licht. Jetzt erst konnte man sehen, dass die Iris in beiden Augen mit einem trüben, milchigen Film überzogen war. Grauer Star, dachte Chel. Das hatte ihr vermutlich das Leben gerettet.
»Ich kann nicht glauben, dass du wirklich hier bist, Kind.«
»Geht es dir gut, Tante?«, fragte Chel, als sie sich umarmten. »Bist du nicht krank? Kannst du schlafen?«
»Soweit man in meinem Alter noch schlafen kann«, antwortete Initia. Sie bat Chel und Stanton mit einer Handbewegung, an einem kleinen Holztisch Platz zu nehmen. »Du bist so lange nicht mehr hier gewesen, und ausgerechnet jetzt kommst du zurück. Wie ist das möglich?«
Chel erzählte ihr von den Ereignissen in L.A., und Initia hörte ungläubig zu.
Dann sagte sie: »Du bist durch das Dorf gegangen, du hast gesehen, was die bösen Winde auch hier angerichtet haben.«
»Frag sie, wer als Erster krank geworden ist«, warf Stanton ein.
»Malcin Hanoma«, antwortete die Greisin.
»Wer ist das?«, fragte Chel.
»Volcy hatte keine leiblichen Brüder, deshalb hat er zusammen mit Malcin Hanoma, dem Sohn von Malam und Chela, das Land bestellt und bepflanzt. Sie sind auch zusammen weggegangen, um nach den Schätzen aus der versunkenen Stadt zu suchen. Volcy ist nie zurückgekommen, Malcin schon. Er war verletzt, und er brachte den Fluch über uns, den Zorn unserer Vorfahren.«
»Wie schnell hat es sich ausgebreitet?«
»Malcins Familie war als Erste betroffen. Ihre Kinder konnten nicht mehr schlafen; keiner von denen, die mit ihm unter einem Dach wohnten, konnte mehr schlafen. Das war die Strafe der Götter, und innerhalb von wenigen Tagen haben die bösen Winde immer schneller und schneller um sich gegriffen.«
Chel schloss die Augen, als sie sich die Katastrophe vorzustellen versuchte, die über das Dorf hereingebrochen war. Wie lange hatte es gedauert, bis die Menschen aufeinander losgingen? Bis sie durchdrehten? Und die Kirche verwüsteten, die Schule niederbrannten, das Krankenhaus plünderten?
»So viele schreckliche Dinge sind hier passiert, Tante«, flüsterte sie betroffen.
Initia erhob sich mühsam und winkte den beiden, ihr zu folgen. Sie schlurfte zur Hintertür. »Nicht nur schreckliche.«
Gleich hinter dem Haus stand eine Hütte, deren Eingang ganz mit Palmwedeln zugedeckt war. Sie schoben sie auseinander, und Initia schlüpfte als Erste hinein. »Lasst die Winde nicht herein«, rief sie Chel über die Schulter zu.
Eingepackt in bunte Tücher, die von der Decke hingen wie Hängematten, lagen mindestens ein Dutzend Babys. Einige weinten leise, andere lagen ganz still da, mit offenen Augen, manche schliefen friedlich.
Yanala kümmerte sich um mehrere Kinder gleichzeitig. Initia half ihr: Sie liebkoste ein kleines Mädchen, das unentwegt weinte, während sie ein anderes mit dünnem Maisbrei fütterte. Dann drückte sie Stanton einen kleinen Jungen in den Arm und Chel ein Mädchen. Es war noch sehr klein und hatte flaumige Haarbüschel auf dem Kopf, eine breite Nase und dunkelbraune Augen, die hin und her huschten, sich dabei aber nie auf Chel richteten.
»Ein Säugling braucht die Nähe seiner Mutter, er muss neben ihr in der Hängematte schlafen und an ihrer Brust trinken, wenn er Hunger hat«, sagte Initia. »Aber diese Kinder hier haben ihre Mütter verloren und mit ihnen alles, was sie so dringend brauchen.«
»Wo hast du sie gefunden, Tante?«
»Ich wusste, in welchem Haus erst vor Kurzem ein Kind geboren worden ist, weil alle zusammenkommen, um die Ankunft eines neuen Lebens zu feiern. Also haben Yanala und ich uns auf die Suche nach Überlebenden gemacht. Ein paar Kinder waren unter Palmwedeln versteckt gewesen, andere lagen einfach so da.«
Chel sah Stanton an. »Wie lange werden sie immun sein?«
»Ungefähr sechs Monate«, antwortete er und wiegte den kleinen Jungen auf dem Arm. »Bis die Sehnerven vollständig ausgebildet sind.«
»Das ist Sama«, sagte Yanala und deutete mit dem Kinn auf das kleine Mädchen auf Chels Arm.
Der Name kam ihr bekannt vor. »Sama?«
»Die Tochter von Volcy und Janotha.«
Fassungslos schaute Chel das Kind an, dessen geöffnete Augen nass waren. »Das ist ihre Tochter? Volcys Tochter?«
Yanala nickte. »Sie hat als Einzige aus der Familie überlebt.«
Volcys Tochter. Und er hatte sich so sehr gewünscht, sie wiederzusehen, als er in der Fremde im Sterben lag.
»Verstehst du jetzt, Kind?«, sagte Initia.
»Was meinst du, Tante?«
»Die Sonne wird noch ein Mal aufgehen und wieder untergehen, dann ist das Ende der Langen Zählung gekommen. Und wenn es so weit ist, wird nichts mehr so sein, wie es war. Vielleicht ist das, was wir jetzt erleben, schon der Anfang vom Ende. Aber Itzamnaaj, der allergnädigste Gott, hat in seiner Barmherzigkeit dafür gesorgt, dass unsere Jüngsten überlebt haben, und sie sind unsere Zukunft. Im Popol Vuh steht geschrieben, dass nach der Zerstörung, die mit dem Ende eines jeden Zyklus einhergeht, ein neues Menschengeschlecht die Erde bevölkern wird. Diese Kinder sind die fünften Menschen.«