Lewis Skiba, Geschäftsführer von Lampe-Denison Pharmaceuticals, saß reglos an seinem Schreibtisch und blickte auf die graue Reihe von Wolkenkratzern, die sich mitten in Manhattan an der Avenue of the Americas entlangzog. Ein spätnachmittäglicher Regen verfinsterte die Stadt. Das einzige Geräusch in dem getäfelten Büro war das Knistern eines echten Holzfeuers in dem Siena-Marmorkamin aus dem 18. Jahrhundert: eine traurige Erinnerung an bessere Zeiten.
Es war kein kalter Tag, dennoch hatte Skiba die Klimaanlage eingeschaltet, um einen Grund zu haben, Feuer zu machen. Er fand Feuer beruhigend. Es erinnerte ihn irgendwie an seine Kindheit, an den alten Steinkamin in der Holzhütte am See, mit den gekreuzten Hufeisen über dem Kaminsims und den am Gewässer krächzenden Seetauchern. Gott, wenn er doch jetzt dort sein könnte ...
Seine Hand schloss fast gedankenlos die kleine Schublade des Schreibtisches auf und umfasste einen kühlen Kunst-stoffbehälter. Skiba schnippte den Verschluss mit dem Daumennagel auf und entnahm ihm eine trockene kleine eiförmige Pille, die er sich in den Mund steckte und zerkau-te. Sie schmeckte bitter, aber sie verkürzte die Wartezeit.
Und nun der Scotch zum Nachspülen. Skiba griff nach links, schob eine Wandplatte beiseite und nahm eine Flasche sechzig Jahre alten Macallan und ein Whisky-Glas an sich. Er schenkte sich eine ordentliche Lage ein. Der Whisky hatte eine satte Mahagonifarbe.
Ein kühler Spritzer Evian setzte das Aroma frei. Er hob das Glas an die Lippen, kippte einen ordentlichen Schluck in sich hinein und genoss den Geschmack von Torf, Hop-fen, kalter See, Hochlandmoor und feinem spanischem Amontillado.
Als das friedliche Gefühl über ihn hinwegspülte, dachte er sehnsüchtig an den Großen Abflug, das Fortschweben über ein Lichtermeer. Wenn es so weit kam, brauchte er nur noch zwei Dutzend Tabletten einzuwerfen und den Rest des Macallan zu kippen, dann würde er auf ewig in der blauen Tiefe versinken. Dann brauchte er sich vor dem Kongress nicht mehr auf den Fünften zu berufen. Dann brauchte er auch nicht zu behaupten, er sei auch nur ein irregeleiteter inkompetenter Geschäftsführer, der vor der SEC stand. Dann konnte er sich diesen Kenneth-Lay-Scheiß sparen. Dann war er sein eigener Richter, seine eigenen Ge-schworenen, sein eigener Henker. Sein Vater, Sergeant beim Heer, hatte ihn gelehrt, was Ehre war.
Das Einzige, was die Firma hätte retten können, hatte ihr den Todesstoß verpasst. Der große Durchbruch auf dem Arzneimittelmarkt. Alle hatten geglaubt, sie hätten ihn schon in der Tasche. Phloxatan. Mit diesem Medikament, hatten die Erbsenzähler gemeint, könne man die langfristi-gen Kosten für Forschung und Entwicklung problemlos reduzieren, um die laufenden Gewinne hochzutreiben. Sie hatten gesagt, den Analysten würde es nie auffallen, und am Anfang hatten sie es wirklich nicht gemerkt. Es hatte traumhaft funktioniert. Der Preis ihrer Aktien war durch die Decke geschossen. Dann hatten sie angefangen, die laufenden Marketingkosten auf die abschreibbare Forschung und Entwicklung zu verlagern. Als die Aktienkurse weiter gestiegen waren, hatten die Analysten noch immer nichts bemerkt. Dann hatten sie Briefkastenfirmen auf den Cay-man-Inseln und den Niederländischen Antillen Verluste zugewiesen, Kredite als Gewinne verbucht und alles vorhandene Bargeld dazu verwendet, Firmenaktien zurückzukaufen, um den Preis noch weiter hinaufzutreiben und (natürlich) den Wert der ausführbaren Aktienoptionen aufzublähen. Die Aktien hatten einen wahren Höhenflug vollführt. Sie hatten Millionen gescheffelt. Gott, was für ein berauschendes Spiel! Sie hatten jedes Gesetz, jede Regel und sämtliche Strafgesetze gebrochen. Ihr schöpferisches Genie von einem Chefbuchhalter hatte sogar neue erfunden, um sie zu brechen. Und alle selbstherrlichen Aktienla-vierer hatten sich als ungefähr so wahrnehmungsfähig erwiesen wie Yogi Bär. He, ich mach jetzt jede Minute 'nen Dol-lah!
Und jetzt waren sie ganz unten. Es gab keine Regeln mehr, die man beugen oder brechen konnte. Der Markt war endlich aufgewacht. Der Aktienkurs war in den Keller ge-kracht. Jetzt hatten sie keine Tricks mehr im Ärmel. Die Aasgeier kreisten schon über dem Lampe Building in der Avenue of the Americas Nr. 725 und krähten Skibas Namen.
Eine zitternde Hand schob den Schlüssel ins Schloss. Die Schublade glitt auf. Skiba schluckte noch eine bittere Pille und nahm einen weiteren Zug von seinem Scotch.
Dann ertönte ein Summen und kündigte Graff an.
Graff, das Buchhaltungsgenie, der sie in diese Lage gebracht hatte.
Skiba spülte sich den Mund mit einem Schluck Evian aus, dann nahm er noch einen Zug. Und noch einen. Er fuhr sich mit der Hand übers Haar, lehnte sich in den Sessel zurück und riss sich zusammen. Schon spürte er die schleichende Leichtigkeit des Seins, das in seinem Brustkorb anfing und bis in die Fingerspitzen verlief. Es hielt ihn aufrecht, erfüllte ihn mit einem goldenen Leuchten.
Skiba drehte sich in seinem Sessel. Sein Blick fiel kurz auf die Fotos seiner klugen Kleinen, die ihn aus silbernen Rahmen heraus anlächelten. Dann ließ sein Blick zögernd vom Schreibtisch ab und blieb auf dem Gesicht von Mike Graff haften, des Finanzchefs, der den Raum gerade betreten hatte. Graff blieb vor Skiba stehen. Er wirkte eigenartig fein-gliedrig und war von Kopf bis Fuß in makelloses Kamm-garn, in Seide und Baumwolle gekleidet. Graff war Skibas aufstrebender junger Protege gewesen. Man hatte ihn in Forbes porträtiert. Analysten und Investment-Banker hatten ihn hofiert. Bon Appetit hatte über seinen Weinkeller geschrieben; sein Haus hatte man im Architectural Digest vorgestellt. Nun strebte sein Protektionskind nicht mehr nach oben: Er hielt mit Skiba Händchen; sie machten gemeinsam einen Kopfsprung in die Tiefen des Grand Canyon.
»Was ist, Mike?«, fragte Skiba freundlich. »Was ist so wichtig, dass es nicht bis zur Nachmittagskonferenz Zeit hat?«
»Draußen wartet ein Bursche, den du kennen lernen musst. Er hat uns einen interessanten Vorschlag zu unter-breiten.«
Skiba schloss die Augen. Er fühlte sich plötzlich todmüde.
Das gute Gefühl war wie weggeblasen. »Findest du nicht, dass du uns schon genug Vorschläge gemacht hast, Mike?«
»Der hier ist anders. Vertrau mir.«
Vertrau mir. Skiba schwenkte in einer sinnlosen Geste die Hand. Er hörte, dass die Tür aufging, und hob den Kopf.
Der Mann, der gleich darauf vor ihm stand, war ein billiger kleiner Gauner in einem Anzug mit breiten Aufschlägen, ein Typ, der eindeutig zu viel Gold mit sich herumschlepp-te. Es gehörte zu jenen Männern, die ihre fünf Haare über einen kahlen Kontinent kämmten und glaubten, damit sei das Problem gelöst.
»Herrgott, Mike ...«
»Lewis«, sagte Graff nassforsch, »das ist Mr. Marcus Hauser, ein Privatdetektiv. Er war früher fürs Amt für Alkohol, Tabak und Schusswaffen tätig und möchte uns etwas zeigen.« Graff nahm Hauser ein Blatt Papier aus den Händen und reichte es Skiba.
Skiba stierte es an. Es war mit seltsamen Symbolen bedeckt, die Ränder mit Schlängellianen und Blättern bekrit-zelt. Das war Irrsinn. Graff hatte den Verstand verloren.
»Eine Seite aus einem Maya-Manuskript des neunten Jahrhunderts«, fuhr Graff fort. »Man nennt das einen Codex. Es ist ein zweitausend Seiten starker Katalog über Regenwald-
arzneien, ihre Zubereitung und ihren Einsatz.«
Als Skiba begriff, spürte er, wie die Oberfläche seiner Haut sich erhitzte. Es konnte einfach nicht wahr sein.
»Es stimmt. Es geht um viele tausend einheimische pharmazeutische Rezepturen. Sie identifizieren medizinisch aktive Substanzen, die man in Pflanzen, Tieren, Insekten, Spinnen, in Humus und in Schimmel findet. Was immer du willst. Die medizinische Weisheit der Mayas in einem einzigen Band.«
Skiba schaute auf. Zuerst musterte er Graff, dann Hauser.
»Wo haben Sie das her?«
Hauser stand vor ihm, die plumpen Hände gefaltet. Skiba war sich sicher, dass er irgendein Rasierwasser roch. Billig.
»Es hat einem alten Freund von mir gehört«, erwiderte Hauser. Seine Stimme war hoch und nervend. Er sprach mit einem Akzent, der nach Brooklyn klang. Ein frühreifer Al Pacino.
»Mr. Hauser«, sagte Skiba, »es wird zehn Jahre und eine halbe Milliarde für Forschung und Entwicklung kosten, bis eines dieser Medikamente auf den Markt kommt.«
»Stimmt. Aber überlegen Sie mal, was es jetzt für den Preis Ihrer Aktien bedeutet. Soweit ich weiß, schwimmt auf dem Fluss da unten eine Riesenladung Scheiße auf Sie zu.« Hausers feiste Hand deutete durch den Raum.
Skiba schaute ihn an. Was für ein unverschämter Dreck-sack. Er hätte ihn am liebsten sofort hinausgeworfen.
»Ihre Aktie hat heute Morgen mit vierzehn drei Achtel er-
öffnet«, fuhr Hauser fort. »Im letzten Dezember wurde sie um die fünfzig gehandelt. Sie persönlich haben zwei Millionen Optionen zum Schleuderpreis von dreißig bis fünfunddreißig, die Sie im Lauf der nächsten zwei Jahre loswerden müssen. Sie sind alle wertlos, wenn es Ihnen nicht gelingt, den Kurs wieder in die Höhe zu treiben. Und zu allem Übel hat sich Ihr grandioses neues Krebsmedikament Phloxatan als Blindgänger erwiesen und wird von der Federal Drug Administration aus dem Verkehr gezogen ...«
Skiba erhob sich mit rotem Gesicht aus seinem Sessel.
»Wie können Sie es wagen, in meinem Beisein solche Lügen zu verbreiten? Wo haben Sie diese Fehlinformationen her?«
»Mr. Skiba«, sagte Hauser gelassen, »lassen wir dieses Af-fentheater. Ich bin Privatdetektiv. Das besagte Manuskript wird in vier bis sechs Wochen in meinem Besitz sein. Ich möchte es Ihnen verkaufen. Ich weiß, dass Sie es brauchen.
Ich könnte es ebenso gut GeneDyne oder Cambridge Pharmaceuticals anbieten.«
Skiba schluckte schwer. Erstaunlich, wie schnell sein Kopf wieder klar wurde. »Woher soll ich wissen, dass dies kein ausgemachter Schwindel ist?«
»Ich hab's nachgeprüft«, warf Graff ein. »Es ist so gut wie Gold, Lewis.«
Skiba stierte den Hausierer in dem geschmacklosen Anzug an. »Machen Sie Ihren Vorschlag, Mr. Hauser.«
»Der Codex ist in Honduras«, sagte Hauser.
»Dann verkaufen Sie also 'ne Katze im Sack.«
»Um es zu kriegen, brauche ich Geld, Waffen und Ausrüstung. Ich gehe ein großes persönliches Risiko ein. Ich habe schon eine Menge Investitionen getätigt. Diese Sache wird keinesfalls billig.«
»Schwätzen Sie mir nichts auf, Mr. Hauser.«
»Wer schwätzt hier wem was auf? Wie die Dinge liegen, stecken Sie bis zum Hals in Unregelmäßigkeiten, was Ihre Buchhaltung angeht. Wenn die SEC wüsste, was Sie und unser Mr. Graff in den letzten eineinviertel Jahren an Marketingkosten als langfristig abschreibbare Forschungs- und Entwicklungskosten verbucht haben, würden Sie dieses Gebäude in Handschellen verlassen.«
Skiba schaute Hauser an, dann Graff. Der Finanzchef war blass geworden. Während des langen Schweigens barst im Kamin ein Stück Holz mit einem Knall. Skiba spürte, wie hinter seiner linken Kniescheibe ein Muskel zuckte.
»Wenn ich Ihnen den Codex liefere«, fuhr Hauser fort,
»und Sie seine Echtheit geprüft haben - darauf werden Sie natürlich bestehen -, werden Sie fünfzig Millionen Dollar auf ein ausländisches Konto meiner Wahl überweisen. Das ist das Geschäft, das ich Ihnen anbiete. Sonst gibt es keine Verhandlungen. Mir genügt ein Ja oder ein Nein.«
»Fünfzig Millionen? Sie sind vollkommen verrückt. Vergessen Sie's.«
Hauser stand auf und begab sich zur Tür.
»Warten Sie, Mr. Hauser«, rief Graff und sprang auf. »Das ist alles noch nicht in Stein gemeißelt.« Schweiß tröpfelte von seinem gepflegten Skalp, als er hinter dem Mann in dem billigen Anzug herhechtete.
Hauser ließ sich nicht aufhalten.
»Wir sind immer offen für ... Mr. Hauser!«
Die Tür fiel vor Graffs Gesicht ins Schloss. Hauser war weg.
Graff wandte sich zu Skiba um. Ihm zitterten die Hände.
»Wir müssen ihn aufhalten.«
Skiba schwieg eine Weile. Hauser hatte die Wahrheit gesagt. Wenn sie das Manuskript in die Hände bekamen, würde schon die Verbreitung der Nachricht den Preis ihrer Aktien in die Höhe schießen lassen. Aber fünfzig Millionen waren Erpressung. Außerdem war es Skiba nicht geheuer, mit einem solchen Mann Geschäfte zu machen. Aber manche Dinge waren eben unvermeidlich. »Es gibt nur eine Möglichkeit, seine Schulden zu begleichen, aber es gibt Millionen Möglichkeiten, es nicht zu tun. Das müsstest du eigentlich wissen, Mike.«
Es gelang Graff nicht ganz, ein Lächeln auf sein schweiß-glänzendes Gesicht zu zaubern.
Skiba betätigte die Gegensprechanlage. »Der Mann, der gerade hier war ... Er darf das Haus nicht verlassen. Sagen Sie ihm, wir sind mit seinen Bedingungen einverstanden.
Begleiten Sie ihn wieder nach oben.«
Er legte den Hörer auf und wandte sich zu Graff um. »Ich kann nur für uns beide hoffen, dass dieser Bursche kein schräger Vogel ist.«
»Er ist in Ordnung«, sagte Graff. »Glaub mir, ich habe mir alles überaus gründlich angesehen. Der Codex existiert, und die Musterseite ist echt.«
Kurz darauf stand Hauser wieder im Türrahmen.
»Sie kriegen Ihre fünfzig Millionen«, sagte Skiba schroff.
»Nehmen Sie jetzt Platz und erzählen Sie uns von Ihrem Plan.«