Philip hatte seine Geschichte erzählt. Die Sonne war längst untergegangen, das Feuer zu einem zinnoberroten Haufen glühender Asche heruntergebrannt. Tom konnte kaum fassen, was sein Bruder ertragen hatte.
Sally ergriff als Erste das Wort: »Hauser begeht dort oben einen Völkermord.«
Eine unbehagliche Stille breitete sich aus.
»Wir müssen etwas unternehmen.«
»Zum Beispiel?«, fragte Vernon. Seine Stimme klang müde.
»Wir gehen zu den Bergindianern und bieten ihnen unsere Hilfe an. Wenn wir uns mit ihnen zusammentun, können wir Hauser schlagen.«
Don Alfonso breitete die Hände aus. »Sie werden uns töten, bevor wir auch nur ein Wort gesagt haben, Curandera.«
»Ich gehe unbewaffnet ins Dorf. Sie werden doch keine unbewaffnete Frau umbringen.«
»Und ob. Was können wir auch schon tun? Wir haben nur ein Gewehr. Hauser verfügt über ausgebildete Soldaten mit Automatikwaffen. Wir sind schwach. Wir sind hungrig.
Wir haben nicht mal Kleider zum Wechseln - und bei uns ist ein Mann, der nicht gehen kann.«
»Was also schlagen Sie vor?«
»Dass wir Schluss machen. Wir müssen umkehren.«
»Sie haben gesagt, dass wir nie durch den Sumpf kom-
men. «
»Jetzt wissen wir aber, dass Hauser seine Boote an den Macaturi-Wasserfällen gelassen hat. Wir könnten sie stehlen gehen.«
»Und dann?«, fragte Sally.
»Dann kehre ich nach Pito Solo zurück, und Sie fahren nach Hause.«
»Wir lassen Hauser dort oben, und er bringt alle Menschen um?«
»Ja.«
Sally war wütend. »Das nehme ich nicht hin. Er muss aufgehalten werden. Wir nehmen Verbindung mit der Regierung auf, damit sie Truppen schickt und ihn festnimmt.«
Don Alfonso wirkte nun sehr müde. »Die Regierung wird nichts tun, Curandera.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Weil Hauser längst Absprachen mit der Regierung getroffen hat. Wir müssen unsere Ohnmacht einsehen.«
»Und genau das tu ich nicht!«
Don Alfonsos traurige alte Augen musterten sie. Dann kratzte er sorgfältig seine Pfeife aus, klopfte die Tabakkru-men heraus, stopfte sie neu und zündete sie mit einem brennenden Holzscheit an. »Vor vielen Jahren«, sagte er, »als ich noch ein Junge war, kam der erste Weiße in unser Dorf. Ich erinnere mich noch gut daran. Es war ein kleiner Mann mit einem großen Hut und einem Spitzbart. Wir haben ihn für einen Geist gehalten. Er zog ein paar kackgelbe Metallklumpen aus der Tasche und fragte, ob wir so was schon mal gesehen hätten. Seine Hände zitterten, in seinen Augen war ein irres Flackern. Wir hatten Angst und sagten Nein. Einen Monat später, während der alljährlichen Über-schwemmung, trieb sein verschimmeltes Boot den Fluss hinab. Bis auf seinen Schädel und sein Haar befand sich nichts darin. Wir haben das Boot verbrannt und so getan, als hätten wir es nie gesehen.
Im Jahr darauf kam ein Mann mit schwarzem Anzug und Hut den Fluss herauf. Er war ein freundlicher Mensch. Er schenkte uns Kreuze und Nahrung. Er tauchte uns alle in den Fluss und sagte, er habe uns gerettet. Er blieb einige Monate bei uns und schwängerte eine Frau. Dann wollte er durch den Sumpf. Wir haben ihn nie wiedergesehen.
Danach kamen weitere Männer, die nach der gelben Scheiße suchten, die sie Oro nannten. Sie waren noch verrückter als der erste. Sie haben unsere Töchter belästigt, unsere Boote gestohlen und sind flussaufwärts gefahren. Einer kam zurück, allerdings ohne Zunge, deswegen haben wir nie erfahren, was mit ihm passiert war. Dann kamen neue Männer mit Kreuzen. Jeder von ihnen behauptete, die Kreuze der anderen seien nicht die wahren; dass nur die seinen gut seien und die anderen Schrott. Sie tauchten uns erneut in den Fluss. Dann tauchten uns die anderen noch mal unter und sagten, die ersten hätten es falsch gemacht.
Dann kamen andere und tauchten uns wieder unter, bis wir gründlich durchnässt und verwirrt waren. Später kam ein Weißer ganz allein zu uns. Er lebte bei uns, lernte unsere Sprache und erzählte, die Männer mit den Kreuzen hätten sie nicht alle. Er nannte sich einen Anthropologen. Er verbrachte ein Jahr damit, seine Nase in unsere sämtlichen Pri-vatangelegenheiten zu stecken. Er stellte uns einen Haufen dämliche Fragen über Sex, wer bei uns mit wem verwandt sei und was nach dem Tod mit uns geschähe; was wir essen und trinken, wie wir Krieg führen oder Schweine braten. Er hat alles aufgeschrieben, was wir geantwortet haben. Die boshafteren Angehörigen unseres Stammes, zu denen auch ich gehöre, haben ihm unglaubliche Bären aufgebunden, aber er hat alles mit ernsthafter Miene niedergeschrieben und gesagt, er wolle unsere Geschichten in einem Buch veröffentlichen, das alle Amerikaner lesen würden. Dann würden wir berühmt. Wir haben uns schlapp gelacht.
Dann kamen Männer in Begleitung von Soldaten den Fluss herauf. Sie hatten Schießeisen und Papiere, die wir alle unterschrieben haben. Sie haben dann gesagt, wir hätten uns einverstanden erklärt, einen neuen Häuptling zu haben, der viel mächtiger sei als der Dorfhäuptling, und dass wir uns einverstanden erklärt hätten, ihm das ganze Land mit allen Tieren, Bäumen, Bodenschätzen samt dem unter der Erde liegenden Öl zu schenken - falls es dies dort gab. Das hielten wir alle für sehr komisch. Sie schenkten uns ein Bild von unserem neuen Häuptling. Er war sehr hässlich; sein Gesicht war so pockennarbig wie eine Ananas. Als unser richtiger Häuptling dagegen protestierte, haben sie ihn mit in den Wald genommen und erschossen.
Dann kamen Soldaten mit Männern, die Aktenkoffer bei sich trugen. Sie sagten, es habe eine Revolution gegeben und wir hätten jetzt einen neuen Häuptling. Der Alte sei erschossen worden. Sie sagten, wir sollten nun andere Papiere mit einem Zeichen versehen. Danach kamen weitere Missionare, bauten Schulen und brachten uns Medikamente. Sie haben sich zwar alle Mühe gegeben, die Jungs einzu-fangen und in die Schule zu bringen, aber es ist ihnen nie recht gelungen.
In den alten Zeiten hatten wir einen sehr klugen Häuptling. Es war Don Cali, mein Großvater. Eines Tages rief er uns zusammen. Er sagte, wir müssten die neuen Leute, die sich wie Irre aufführten, doch so schlau wie Dämonen waren, verstehen lernen. Wir sollten in Erfahrung bringen, wer sie wirklich waren. Er hat die Jungs gefragt, ob sich jemand freiwillig melden wolle. Ich habe mich gemeldet. Als das nächste Mal Missionare kamen, ließ ich mich fangen und wurde in ein Internat nach La Ceiba geschickt. Man hat mir das Haar abgeschnitten, mich in kratzige Kleider und heiße Schuhe gesteckt und mich verhauen, sobald ich Tawahka sprach. Ich bin zehn Jahre dort geblieben und habe die spanische und englische Sprache gelernt. Außerdem habe ich mit eigenen Augen gesehen, wer die Weißen sind. Es war meine Aufgabe: sie verstehen zu lernen.
Dann ging ich zurück und erzählte meinem Volk, was ich erfahren hatte. Alle sagten: >Das ist ja schrecklich, was sollen wir nur tun?< Und ich sagte: >Überlasst es mir. Wir werden ihnen Widerstand leisten, indem wir ihnen zustimmen.<
Danach wusste ich genau, was ich zu den Männern sagen musste, die mit Aktenkoffern und Papieren in unser Dorf kamen. Ich wusste, wann ich Papiere unterzeichnen musste und wann es besser war, sie zu verlieren. Ich wusste, wann ich mich wie ein Blödmann aufführen musste. Ich wusste, was die Jesusmenschen hören wollten, wenn ich Medizin, Nahrung und Kleider brauchte. Sie brachten jedes Mal ein Bild des neuen Häuptlings mit und erzählten mir, ich solle das Bild des alten wegwerfen, weil man ihn nämlich erschossen habe. Dann dankte ich ihnen, hängte das neue Bild in meiner Hütte auf und umrahmte es mit Blumen.
Und so wurde dann ich Häuptling von Pito Solo. Und jetzt wissen Sie, Curandera, dass ich weiß, wie die Dinge hier laufen. Wir können nichts tun, um den Bergindianern zu helfen. Wir können unser Leben nur sinnlos wegwerfen.«
»Was mich persönlich betrifft«, sagte Sally, »so kann ich nicht einfach fortgehen.«
Don Alfonso legte eine Hand auf die ihre. »Sie sind der mutigste Mensch, den ich kenne, Curandera - auch als Frau.«
»Fangen Sie nicht wieder damit an, Don Alfonso.«
»Sie sind sogar mutiger als die meisten Männer, die ich gekannt habe. Unterschätzen Sie die Bergindianer nicht. Ich möchte ihnen als Soldat nicht in die Hände fallen. Weil mein letzter Blick auf Erden nämlich auf das Feuer fällt, auf dem sie meine Männlichkeit rösten.«
Mehrere Minuten lang sagte niemand ein Wort. Tom fühlte sich ausgesprochen müde. »Dass all dies geschieht, ist unsere Schuld, Don Alfonso. Beziehungsweise die Schuld unseres Vaters. Wir sind dafür verantwortlich.«
»Das ganze Gerede über >seine Schuld, unsere Schuld< führt zu gar nichts, Tomas. Wir können nichts tun. Wir sind machtlos.«
Philip nickte zustimmend. »Ich habe die Schnauze voll von dieser verrückten Reise. Wir werden die Welt nicht retten.«
»Das finde ich auch«, sagte Vernon.
Tom registrierte, dass alle ihn anschauten. Hier wurde eine Art Abstimmung abgehalten, und er musste die Entscheidung treffen. Dann sah er, dass Sally ihn mit einer gewissen Neugier musterte. Er selbst konnte sich irgendwie nicht als Menschen sehen, der einfach so aufgab. Dazu war er zu weit gelangt. »Wenn wir jetzt umkehren, könnte ich es mir später nie verzeihen. Ich halte zu Sally.« Aber es stand noch immer drei zu zwei.
Don Alfonso war noch vor Sonnenaufgang auf den Beinen und brach das Lager ab. Der normalerweise unergründliche Indianer war vor Angst außer sich.
»Gestern Nacht war ein Bergindianer ein paar hundert Meter von unserem Lager entfernt. Ich habe seine Spuren gesehen. Ich selbst habe keine Angst vor dem Tod. Aber ich war schon die Ursache für den Tod von Pingo und Chori und möchte kein weiteres Blut an den Händen haben.«
Tom schaute Don Alfonso zu, wie er ihre Habseligkeiten zusammenpackte. Er hatte ein mulmiges Gefühl. Es war aus. Hauser hatte gesiegt.
»Wo Hauser mit dem Codex auch hingeht und was er auch tut«, sagte Sally, »ich werde mich an seine Fersen hef-ten. Er wird mir nicht entwischen. Auch wenn wir vielleicht in die Zivilisation zurückkehren müssen - ich komme wieder. Die Sache ist damit auf keinen Fall erledigt.«
Philips Füße waren noch immer infiziert, sodass er nicht gehen konnte. Don Alfonso flocht eine Tragematte mit zwei kurzen Stäben, die man als Griffe über die Schultern legen konnte. Das Packen dauerte nicht lang. Als die Zeit zum Abmarsch kam, hievten Tom und Vernon Philip hoch. Sie gingen im Gänsemarsch durch die schmale Lücke in der Vegetation. Sally schwang ihre Machete und marschierte voran. Don Alfonso bildete die Nachhut.
»Tut mir Leid, dass ich so 'ne Belastung bin«, sagte Philip und zog seine Pfeife hervor.
»Du bist eine verdammte Belastung«, stimmte Vernon zu.
»Ja, erlaub mir, dass ich vor Zerknirschung Asche auf mein Haupt streue.«
Tom hörte seinen Brüdern zu. So war es immer gewesen.
Sie zogen sich ständig gegenseitig auf. Manchmal verlief die Sache im freundlichen Bereich, aber nicht immer. Es freute ihn irgendwie, dass es Philip immerhin so gut ging, dass er Vernon auf den Arm nehmen konnte.
»Jemine«, sagte Vernon, »hoffentlich rutsche ich nicht aus und lass dich in ein Schlammloch fallen.«
Don Alfonso überholte sie bei seinem letzten Kontrollgang und überprüfte ihre Rucksäcke. »Wir müssen so leise wie möglich sein«, sagte er. »Und nicht rauchen, Philip. Sie werden es riechen.«
Philip steckte die Pfeife fluchend ein. Es fing an zu regnen.
Den Kranken zu tragen erwies sich weitaus schwieriger, als Tom es sich vorgestellt hatte. Es war sehr beschwerlich, Philip die schlüpfrigen Pfade hinaufzuwuchten, und wenn sie ihn über schwankende Stämme trugen, die sie als Brükke über rauschende Flüsse gelegt hatten, war es eine Übung in Sachen Entsetzen. Don Alfonso beäugte alles mit wachsamen Blicken und zwang sie zu schweigen. Sogar der Einsatz der Macheten wurde verboten. Völlig erschöpft lagerten sie an diesem Nachmittag auf dem einzigen ebenen Fleck Boden, den sie finden konnten - nichts als klitschnas-sem Schlamm. Es goss wie aus Eimern. Das Wasser strömte in den provisorischen Unterstand, den Vernon errichtet hatte, und der Morast war überall. Tom und Sally gingen auf die Jagd und stromerten zwei Stunden durch den Wald, ohne etwas zu finden. Don Alfonso untersagte das Anzünden eines Feuers, da er befürchtete, man könne es riechen.
An diesem Abend bestand ihre Mahlzeit aus rohen, nach Pappe schmeckenden Wurzeln und einigen verfaulten Früchten, in denen sich kleine weiße Würmer tummelten.
Der Regen rauschte pausenlos vom Himmel herab und verwandelte die Bäche in reißende Ströme. Zehn Stunden mörderischer Anstrengung brachten sie gerade mal fünf Kilometer voran. Der nächste und übernächste Tag fielen fast ebenso aus. Auf die Jagd zu gehen war unmöglich, und Don Alfonso gelang es nicht, einen Fisch zu fangen. Als Nahrung blieben nur Wurzeln, Beeren und halb vergammeltes Obst, das Don Alfonso irgendwo zusammenklaubte.
Am vierten Tag hatten sie gerade mal fünfzehn Kilometer zurückgelegt. Der ohnehin vom Hunger stark geschwächte Philip verfiel rapide und wurde erneut hohlwangig. Da er nicht rauchen durfte, verbrachte er den größten Teil des Tages damit, ins Blätterdach des Dschungels hinaufzustar-ren. Wenn man ihn ansprach, reagierte er kaum. Seine Apathie hatte sich wieder breit gemacht. Die körperliche Anstrengung, ihn auf der Matte zu schleppen, führte dazu, dass sie öfter rasten mussten. Sogar Don Alfonso schien zu schrumpfen. Seine Knochen stachen grauenhaft hervor, seine Haut war lose und faltig. Tom wusste nicht mehr, wie es war, wenn man trockene Kleider trug.
Am fünften Tag rief Don Alfonso gegen Mittag zum Halten. Er bückte sich und hob etwas vom Wegesrand auf: eine Feder, an der ein kleines Stück geflochtene Schnur befestigt war.
»Bergindianer«, sagte er mit leiser, zittriger Stimme. »Die Feder liegt noch nicht lange hier.«
Niemand sagte ein Wort.
»Wir müssen uns in die Büsche schlagen.«
Der Pfad war schon schlimm genug gewesen. Nun wurde das Gehen fast unmöglich. Sie kämpften sich durch eine Wand aus Farnen und Lianen, die so dicht war, dass sie den Eindruck erweckte, sie wolle sie schier zurückstoßen. Sie krochen unter ihr her, kletterten über umgestürzte Bäume hinweg und wateten durch sumpfige Tümpel, wobei ihnen der Schlamm gelegentlich bis zur Taille reichte. Die Vegetation wimmelte von Ameisen und Stechmücken, die sich, sobald man sie störte, wütend auf einen stürzten, einem durchs Haar krabbelten, in den Kragen fielen und stachen und bissen. Philip kriegte am meisten ab, da seine Matte durch dichtes Gestrüpp gezerrt wurde. Don Alfonso bestand weiterhin darauf, den Pfad zu meiden.
Es war die reine Hölle. Regen fiel ohne Unterlass. Alle paar hundert Meter wechselten sie sich ab, um eine Gasse in das dichte Gestrüpp zu schlagen; dann trugen sie Philip zu zweit über den Pfad. Anschließend hielten sie an, und der Nächste schlug einen hundert Meter langen Pfad durch das Gestrüpp. Auf diese Weise legten sie an zwei Tagen im pausenlos prasselnden Regen hundert Meter pro Stunde zurück. Sie wateten durch kniehohen Schlamm und glitten aus. Manchmal krabbelten sie bergauf, fielen hin und rutschten zurück. Tom hatte die meisten Hemdknöpfe verloren. Seine Schuhe waren so auseinander gefallen, dass er sich mehrmals an spitzen Stöcken schnitt. Die anderen befanden sich in einem ähnlichen Zustand der Zerlumptheit.
Im Wald gab es keinerlei Wild. Die Tage verschmolzen zu einer einzigen langen Plackerei, die sie durch schlecht einsehbares Dickicht und von Regengeprassel erfüllte Sümpfe führten. Sie wurden pausenlos gestochen, sodass ihre Haut fast die Beschaffenheit von rauer Jute annahm. Nun waren vier Personen notwendig, um Philip zu heben, und manchmal mussten sie eine Stunde lang rasten, um ihn nur ein Dutzend Schritte weiterzubefördern.
Tom verlor allmählich jegliches Zeitgefühl. Ihm wurde klar, dass das Ende nicht mehr fern war - der Augenblick, an dem er nicht mehr weiter konnte. Er fühlte sich eigenartig leer im Kopf. Tage und Nächte gingen ineinander über.
Einmal klatschte er in den Schlamm und blieb liegen, bis Sally ihn hochhievte. Eine halbe Stunde später, tat er das Gleiche für sie.
Sie erreichten ein freies Gebiet, auf dem ein umgestürzter Riesenbaum eine große Schneise ins Blätterdach gerissen hatte. Der Boden, der ihn umgab, war relativ eben. Der Baum war so gefallen, dass man unter seinem gewaltigen Stamm ein Quartier aufschlagen konnte.
Tom konnte kaum noch gehen. Alle kamen stillschwei-gend überein, hier Rast zu machen. Tom fühlte sich so schwach, dass er sich fragte, ob er überhaupt je wieder würde aufstehen können, wenn er sich jetzt hinlegte. Mit letzter Kraft schlugen sie Äste von dem Baum ab, richteten sie gegen den Stamm gelehnt auf und bedeckten sie mit Farn. Es schien gegen Mittag zu sein. Sie krochen unter das Schutzdach, hockten sich hin und legten sich auf dem nassen Boden in eine fünf Zentimeter dicke Schlammmasse.
Später unternahmen Sally und Tom einen weiteren Versuch, etwas zu erjagen, doch sie kehrten vor Einbruch der Dunkelheit mit leeren Händen zurück. Sie hockten sich unter den Stamm, während die lange Dunkelheit sich auf sie herabsenkte.
Im sterbenden Licht untersuchte Tom Philip. Er war in einem jämmerlichen Zustand. Inzwischen fieberte und phantasierte er. Seine Wangen waren stark eingefallen; er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Seine Arme sahen aus wie dünne Stecken, und seine Ellbogen waren verschwollen. Einige der sorgfältig behandelten Infektionen hatten sich erneut geöffnet. Die Maden waren wieder da. Tom hatte das Gefühl, dass ihm das Herz brach. Sein Bruder lag im Sterben.
Irgendwie wusste er auch, dass keiner von ihnen die elen-de kleine Lichtung je lebend wieder verlassen würde.
Die teilnahmslose Apathie des beginnenden Hungertodes bemächtigte sich eines jeden. Tom lag den größten Teil dieser Nacht wach, da er keinen Schlaf fand. In dieser Nacht hörte der Regen auf, und als der Morgen graute, schien über den Baumwipfeln die Sonne. Zum ersten Mal seit Wochen konnte man den blauen Himmel sehen - er war makellos. Sonnenstrahlen fielen durch die Lücken zwischen den Baumwipfeln. Flutende Sonne fing Insektenschwärme ein und ließ sie wie wirbelnde Lichttornados wirken. Vom Stamm des Riesenbaumes stieg Dampf auf.
Welch eine Ironie das doch war: Die Lücke zwischen den Baumkronen ließ ein vollkommenes Abbild der Sierra Azul sehen. Da bewegten sie sich seit einer Woche in die entge-gengesetzte Richtung, und die Berge schienen näher denn je zuvor: Ihre Gipfel ragten über die Wolkenfetzen und waren so blau wie geschliffene Saphire. Tom empfand nun keinen Hunger mehr. So ist es eben, wenn man verhungert, dachte er.
Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. Sie gehörte Sally.
»Komm mal her«, sagte sie mit ernster Stimme.
Tom empfand plötzlich Angst. »Geht's um Philip?«
»Nein. Um Don Alfonso.«
Tom stand auf und folgte ihr unter dem Stamm zu der Stelle, an der Don Alfonsos Hängematte direkt über dem feuchten Boden baumelte. Ihr Führer lag auf der Seite und musterte die Sierra Azul. Tom hockte sich neben ihn und nahm seine welke alte Hand. Sie war heiß.
»Tut mir Leid, Tomasito, aber ich bin ein nutzloser alter Mann. Ich bin so nutzlos, dass ich sterbe.«
»Sagen Sie nicht so was, Don Alfonso.« Tom legte seine Hand auf die Stirn des Indianers und bekam einen Schreck, denn sie war sehr heiß.
»Der Tod ruft mich. Da kann man nicht sagen: >Komm nächste Woche wieder; ich muss noch was erledigen^«
»Haben Sie in der letzten Nacht wieder von Petrus oder dergleichen geträumt?«, fragte Sally.
»Man braucht nicht von Petrus zu träumen, wenn man weiß, wann das Ende gekommen ist.«
Sally schaute Tom kurz an. »Hast du irgendeine Ahnung, was er hat?«
»Ohne richtige Diagnose, ohne Blutbild oder ein Mikros-kop ...« Tom murmelte eine Verwünschung, dann stand er auf und kämpfte gegen eine Woge des Schwindels an. Wir sind fertig, dachte er. Es machte ihn eigenartigerweise wütend. Es war ungerecht.
Er verdrängte die nutzlosen Gedanken und schaute sich Philip an. Sein Bruder schlief. Er hatte, wie Don Alfonso, hohes Fieber. Tom war sich keinesfalls sicher, ob er je wieder erwachen würde. Vernon zündete inzwischen ein Feuer an. Er ignorierte Don Alfonsos Einwände. Sally braute einen medizinischen Tee für den Sterbenden. Sein Gesicht war eingefallen und schien nach innen zu sinken; seine Haut verlor ihre Farbe und nahm einen wächsernen Ton an.
Er atmete schwer, war aber noch bei Bewusstsein. »Ich werde Ihren Tee zwar trinken, Curandera«, sagte er, »aber Ihre Medizin wird mich nicht retten.«
Sally hockte sich hin. »Sie reden sich ein, dass Sie sterben, Don Alfonso. Sie können es sich aber auch wieder ausre-den.«
Don Alfonso nahm ihre Hand. »Nein, Curandera, meine Zeit ist gekommen.«
»Das können Sie doch gar nicht wissen.«
»Mein Tod wurde mir prophezeit.«
»Hören Sie doch mit diesem absurden Unsinn auf. Sie können doch nicht in die Zukunft sehen!«
»Als ich ein kleiner Junge war, hatte ich mal starkes Fieber. Da nahm meine Mutter mich mit zu einer Bruja - einer Hexe. Diese Bruja erzählte mir, ich müsse noch nicht sterben, denn ich würde fern von zu Hause sterben, unter Fremden - und im Angesicht blauer Berge.« Er warf einen Blick auf die Sierra Azul, die sich durch die Lücke zwischen den Baumwipfeln abzeichnete.
»Vielleicht hat sie ja irgendwelche anderen blauen Berge gemeint.«
»Sie hat diese Berge gemeint, Curandera, denn sie sind so blau wie das Meer.«
Sally blinzelte eine Träne fort. »Hören Sie mit dem Quatsch auf, Don Alfonso.«
Don Alfonso lächelte plötzlich. »Ist es nicht wunderbar, wenn eine schöne Frau am Sterbebett eines alten Zausels weint.«
»Das ist nicht Ihr Sterbebett. Außerdem weine ich gar nicht.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Curandera. Es kommt nicht überraschend für mich. Als ich zu dieser Reise aufbrach, wusste ich, dass es meine letzte sein würde. In Pito Solo war ich ein nutzloser Greis. Ich wollte aber nicht als schwacher alter Trottel in meiner Hütte sterben. Ich, Don Alfonso Boswas, wollte als Mann sterben.« Er hielt inne, atmete ein und schauderte.
»Ich habe mir natürlich nicht vorgestellt, dass ich unter einem verfaulten Baum im stinkenden Schlamm sterbe und euch allein lassen muss.«
»Dann sterben Sie einfach nicht! Wir lieben Sie, Don Alfonso. Und die Hexe soll zur Hölle fahren!«
Don Alfonso nahm ihre Hand und lächelte. »In einem hat sie sich übrigens geirrt, Curandera. Sie hat gesagt, ich würde unter Fremden sterben. Aber das stimmt nicht. Ich sterbe unter Freunden.«
Don Alfonso schloss die Augen und murmelte etwas.
Dann war er tot.