16

Sally schaute skeptisch auf den Schrotthaufen von einem Flugzeug, den zwei Arbeiter aus dem schäbigen Hangar rollten.

»Vielleicht hätten wir die Maschine überprüfen sollen, bevor wir die Tickets gekauft haben«, sagte Tom zu ihr.

»Die ist bestimmt in Ordnung«, erwiderte Sally, als wolle sie sich selbst Mut machen.

Der Pilot, ein hagerer, bärtiger Amerikaner mit zwei langen Zöpfen - er trug ein zerfetztes T-Shirt und kurze Hosen

-schlenderte auf sie zu und stellte sich als John vor. Tom be-

äugte ihn, dann musterte er die Maschine mit einem argwöhnischen Blick.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte John grinsend. »Sieht aus wie ein Haufen Müll.« Er pochte mit den Fingerknöcheln auf den Rumpf des Flugzeugs, bis es schepperte. »Aber es kommt drauf an, was unter der Haube ist. Ich halt die Kiste selbst in Schuss.«

»Sie glauben nicht, wie mich das beruhigt«, meinte Tom.

»Sie wollen also nach Brus?«

»Stimmt.«

John warf einen Blick auf ihr Gepäck. »Wollen Sie Tarpons fischen?«

»Nein.«

»Einen besseren Platz werden Sie nirgendwo finden. Leider gibt's da sonst nichts.« John öffnete ein Fach an der Seite der Maschine und schob das Gepäck mit seinen dürren Armen hinein. »Was wollen Sie denn da?«

»Wissen wir noch nicht genau«, antwortete Sally schnell.

Je weniger sie über ihr Vorhaben erzählten, desto besser. Es hatte keinen Sinn, eine Stampede auszulösen, die sich den Fluss hinauf begab.

Der Pilot schob die letzte Tasche ins Fach, versetzte ihr ein paar Hiebe, damit sie auch reinpasste, und schlug die blechern scheppernde Luke zu. Nach drei Versuchen war sie endlich im Schloss. »Wo wohnen Sie in Brus?«

»Das haben wir auch noch nicht entschieden.«

»Es geht nichts über Vorausplanung«, sagte John. »Na ja, es gibt da ohnehin nur ein Hotel, das La Perla.«

»Wie viele Sterne hat es im Michelin?«

John lachte kurz. Dann öffnete er die Passagierluke, schwang die Treppe ins Freie, und sie kletterten an Bord.

John folgte ihnen. Als er hereinkam, glaubte Tom einen leichten Hauch von Marihuana zu riechen. Großartig.

»Wie lange fliegen Sie schon?«, wollte er wissen.

»Zwanzig Jahre.«

»Hatten Sie schon mal einen Unfall?«

»Einmal. Hab in Paradiso ein Schwein angefahren. Ein paar Scherzkekse hatten die Landebahn nicht gemäht, und das blöde Vieh schlief im hohen Gras. Es war ein riesiges Schwein.«

»Haben Sie eine Instrumentbewertung?«

»Na ja, sagen wir mal, ich weiß, wie man Instrumente be-dient. Hier gibt's wenig Bedarf für amtliche Bewertungen; jedenfalls nicht bei Buschfliegern.«

»Haben Sie einen Flugplan eingereicht?«

John schüttelte den Kopf. »Ich brauch doch nur an der Küste entlangzufliegen.«

Die Maschine hob ab. Es war ein herrlicher Tag. Sally war ganz aufgeregt, als sie in die Kurve gingen und der Sonnenschein über der Karibik schillerte. Sie folgten der tief liegenden, flachen Küste mit den zahlreichen Lagunen und den vor dem Festland liegenden Inseln; sie muteten wie grüne Dschungelteile an, die vom Hauptland abgebrochen und ins Meer hinausgetrieben waren. Sally konnte erkennen, wo die Straßen ins Landesinnere verliefen, wo sie an unregelmäßig geformte Felder oder gezackte Flecken grenzten, an denen man erst kürzlich Bäume gefällt hatte. Tief im Innern sah sie eine gezackte Reihe blauer Berge, deren Gipfel bis in die Wolken reichten.

Sally warf Tom einen Blick zu. Die Sonne hatte sein hell-braunes Haar gebleicht und mit Gold gesprenkelt. Er war hager, hoch gewachsen, drahtig und bewegte sich auf eine cowboyhafte Art, die ihr gefiel. Sie fragte sich, wie jemand hundert Millionen Dollar einfach so verschmähen konnte.

Das hatte sie mehr beeindruckt als alles andere. Sie war lang genug auf dieser Welt, um zu wissen, dass Leute mit Geld sich viel mehr um ihre Finanzen sorgten als jene, die keines hatten.

Tom wandte sich um und schaute sie an. Sally lächelte schnell und blickte wieder aus dem Fenster. Je weiter die Küste nach Osten verlief, desto wilder wurde die Landschaft unter ihnen und die Lagunen weitläufiger und kom-

plizierter. Schließlich kam die bisher größte Lagune ins Blickfeld. Sie war mit Hunderten von winzigen Inseln gesprenkelt. Ein großer Fluss mündete in das gegenüberliegende Ende. Als sie zum Anflug abdrehten, sah Sally dort, wo der Fluss sich mit der Lagune verband, eine Ortschaft; eine Ansammlung glänzender Blechdächer, von einem Wirrwarr unregelmäßiger Felder umgeben. Sie lagen wie zerrissene Lumpenfetzen auf der Landschaft. Der Pilot beschrieb einen Kreis, dann hielt er auf den Landeplatz zu, der sich, als sie näher kamen, als Wiese entpuppte. Er setzte nach Sallys Ansicht sehr schnell zur Landung an, und obwohl sie dem Boden immer näher kamen, schien die Maschine weiter zu beschleunigen. Sally hielt sich an den Sitz-lehnen fest. Die Landebahn raste unter ihnen dahin, aber die Maschine ging nicht tiefer. Dann sah sie, wie die Mauer aus Dschungellaubwerk am anderen Ende mit höchster Geschwindigkeit auf sie zu kam.

»Herrgott«, rief Sally. »Sie schießen über die Landebahn hinaus!«

Die Maschine stieg schnell und leicht wieder hoch. Der Dschungel flog unter ihnen dahin. Die Baumwipfel waren kaum fünf Meter unter ihnen. Als sie aufstiegen, hörte Sally Johns trockenes Lachen in ihrem Kopfhörer. »Immer mit der Ruhe, Sal. Ich bin nur mal über die Landebahn gefegt, um sie zu säubern. Ich hab meine Lektion nämlich gelernt.«

Als die Maschine abschwenkte und erneut zur Landung ansetzte, lehnte Sally sich zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nett von Ihnen, dass Sie uns warnen.«

»Ich hab euch doch von dem Schwein erzählt ...«

Sie bezogen in der Stadt im La Perla Quartier, einer Klinkerhütte, die sich Hotel nannte. Dann gingen sie zum Fluss hinunter, um zu schauen, wo man ein Boot mieten konnte.

Sie schlenderten durch die schmutzigen Gassen von Brus.

Es war Nachmittag, die Hitze hatte die Luft lustlos und tot gemacht. Alles war still, am Boden standen Unmengen dampfende Pfützen. Der Schweiß lief Sally aus den Ärmeln, am Hals hinab und zwischen ihre Brüste. Sie hatte den Eindruck, dass alle vernünftigen Menschen Siesta hielten.

Am anderen Ende der Ortschaft stießen sie auf den Fluss.

Er lag zwischen steilen erdigen Ufern, war etwa zweihundert Meter breit und hatte die Farbe von Mahagoni. Er schlängelte sich zwischen dichten Urwaldmauern dahin und roch schlammig. Das zähflüssige Wasser bewegte sich träge, an der Oberfläche kräuselten sich Strudel und Wirbel. Hier und da trieben langsam grüne Blätter oder Zweige flussabwärts. Ein Gehweg aus Balken führte von der steilen Uferstraße nach unten und endete an einer Bambusrohr-plattform, die über dem Wasser errichtet worden war und einen wackeligen Kai bildete. Vier Einbaumkanus lagen dort vertäut. Sie waren etwa zehn Meter lang, eins zwanzig breit und bestanden aus riesigen Baumstämmen, die sich zu einem lanzenähnlichen Bug verjüngten. Ihr Heck war flach abgeschnitten und mit einem Brett versehen, an dem man kleine Außenbordmotoren befestigen konnte. Vorn und hinten angebrachte Bretter dienten als Sitzfläche.

Sie kletterten die Uferstraße hinab, um einen besseren Überblick zu gewinnen. Sally stellte fest, dass drei der Einbäume mit 6-PS-Evinrude-Motoren ausgerüstet waren. Das vierte war länger und schwerer und verfügte über eine 18-PS-Maschine.

»Das ist der Renner hier!«, rief sie auf das Boot deutend.

»Genau das Richtige für uns.«

Tom schaute sich um. Die Umgebung wirkte verlassen.

»Da ist jemand.« Sally zeigte auf eine etwa fünfzig Meter weiter am Ufer stehende, an der Seite offene Bambushütte.

Neben einem Stapel leerer Blechdosen brannte ein kleines Feuer. Im Schatten zweier Bäume hatte jemand eine Hängematte aufgespannt. Ein Mann schlief darin.

Sally ging zu ihm hin. »Hola«, sagte sie.

Kurz darauf öffnete der Mann ein Auge. »Sí?«

»Wir möchten mit jemandem reden, der uns ein Boot ver-mieten kann«, sagte sie auf Spanisch.

Der Mann grunzte, dann murmelte er etwas, richtete sich in der Hängematte auf und kratzte sich grinsend am Kopf.

»Ich sprechen gut Amerikanisch. Sprechen Amerikanisch.

Irgendwann ich fahren nach Amerika.«

»Wie schön«, sagte Tom. »Wir fahren nach Pito Solo.«

Der Mann nickte, gähnte, kratzte sich. »Okay. Ich bringen hin.«

»Wir möchten das große Boot mieten. Das mit dem 18-PS-Motor.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Das doofe Boot.«

»Ist uns egal, ob es doof ist«, sagte Tom. »Genau das wol-

len wir haben.«

»Ich bringen euch in mein Boot. Doofes Boot gehört Leute von Militär.« Er streckte eine Hand aus. »Haben Bonbons?«

Sally zückte die Tüte, die sie erst an diesem Morgen und genau zu diesem Zweck erstanden hatte.

Das Gesicht des Mannes erhellte sich zu einem Lächeln. Er schob eine welke Hand in die Tüte hinein, kramte in den Süßigkeiten herum, wählte fünf oder sechs Bonbons aus und steckte sie sich alle auf einmal in den Mund. In seiner Wange entstand ein dicker Klumpen. »Bueno«, murmelte er.

»Wir möchten morgen früh aufbrechen«, sagte Tom. »Wie lange dauert die Fahrt?«

»Drei Tage.«

»Drei Tage? Ich dachte, es sind nur sechzig oder siebzig Kilometer. «

»Wasserstand niedrig. Laufen vielleicht auf. Muss staken.

Viel waten. Kann Motor nicht einsetzen.«

»Waten?«, fragte Tom. »Was ist mit dem Zahnstocherfisch?«

Der Mann maß ihn mit einem leeren Blick.

»Keine Sorge, Tom«, sagte Sally. »Sie können doch enge Unterwäsche anziehen.«

»Ah, si! Der Candiru!« Der Mann lachte. »Lieblings-geschichte von Gringos! Candiru. Ich schwimmen in Fluss jeden Tag und noch immer hab mein Chuc-Chuc. Funktioniert gut!« Er spitzte lasterhaft die Lippen und zwinkerte Sally zu.

»Verschonen Sie mich«, sagte Sally.

»Dann ist dieser Fisch also ein Scherz?«, fragte Tom.

»Nein, ist echt! Aber zuerst man muss pissen in Fluss.

Candiru riechen Pisse in Fluss, kommen her und schmatz!

Wer nicht pissen bei Schwimmen, hat kein Problem!«

»Ist hier kürzlich jemand durchgekommen? Gringos, meine ich?«

»Si. Wir sehr beschäftigt. Letzter Monat, weißer Mann kommt mit viele Kisten und Indianer aus Berge.«

»Was für Indianer?«, fragte Tom aufgeregt.

»Nackte Indianer aus Berge.« Der Mann spuckte aus.

»Wo hatte er seine Boote her?«

»Er bringen viele neue Einbaum aus La Ceiba.«

»Sind die Boote zurückgekommen?«

Der Mann lächelte, dann rieb er in einer international bekannten Geste Daumen und Zeigefinger aneinander und streckte die Hand aus. Sally gab ihm einen Fünfer.

»Boote nicht zurückkehren. Männer fahren flussaufwärts, nie kommen zurück.«

»Ist sonst noch jemand hier durchgekommen?«

»Si. Letzte Woche Jesus Christus kommen mit betrunkene Führer aus Puerto Lempira.«

»Jesus Christus?«, fragte Sally.

»Sí, Jesus Christus mit langes Haar, Bart, Gewand und Sandalen.«

»Das muss Vernon gewesen sein«, sagte Tom lächelnd.

»War jemand bei ihm?«

»Si, der heilige Petrus.«

Tom verdrehte die Augen.

»Sonst noch jemand?«

»Si. Dann kommen zwei Gringos mit zwölf Soldaten in zwei Einbaums - auch aus La Ceiba.«

»Wie sahen die Gringos aus?«

»Einer sehr groß, rauchen Pfeife, war wütend. Andere kleiner mit vier Goldringe.«

»Philip«, konstatierte Tom.

Sie handelten schnell eine Passage nach Pito Solo aus.

Tom gab dem Mann zehn Dollar Vorschuss. »Wir brechen morgen früh auf, sobald es hell wird.«

»Bueno! Ich bereit!«

Als sie vom Fluss zu dem Klinkergebäude zurückkehrten, das sich als Hotel ausgab, stellten sie zu ihrer Überraschung fest, dass ein Jeep vor dem Haus parkte. In ihm saßen ein Militäroffizier und zwei Soldaten. In der Nähe wartete eine Ansammlung tuschelnder, drängelnder Kinder darauf, dass etwas passierte. Die Hotelbesitzerin stand vor dem Haus.

Sie hatte die Hände gefaltet. Ihr Gesicht war bleich vor Furcht.

»Das gefällt mir gar nicht«, sagte Sally.

Der Offizier trat vor. Er hatte einen ganz geraden Rücken, eine makellose Uniform und trug kleine polierte Stiefel. Er verbeugte sich zackig. »Habe ich die Ehre, Señor Tom Broadbent und Señorita Sally Colorado zu begrüßen? Ich bin Leutnant Vespán.« Er ergriff nacheinander ihre Hände und trat dann zurück. Der Wind drehte, und Tom roch plötzlich eine Mischung aus Old Spice, Zigarren und Rum.

»Worum geht's denn?«, fragte Sally.

Leutnant Vespan lächelte breit und enthüllte eine silberne Zahnreihe. »Ich muss Ihnen zu meinem allergrößten Bedauern mitteilen, dass Sie unter Arrest stehen.«

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