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Nach einem zehnstündigen Marsch in die Berge erreichten Tom und seine Brüder einen kahlen, windigen Kamm. Sie hatten einen atemberaubenden Ausblick auf ein gewaltiges Meer aus Gipfeln und Tälern, die sich in abgestuften Vio-letttönen dem Horizont entgegenschraubten.

Borabay machte eine Geste: »Sukia Tara, die Weiße Stadt.«

Tom kniff angesichts der hellen Nachmittagssonne die Augen zusammen. Etwa sieben oder acht Kilometer vor ihnen, hinter einer Schlucht, ragten zwei Bergspitzen aus weißem Gestein auf. Dazwischen lag ein flacher Sattel, der an beiden Seiten wegen der tiefen Schluchten unzugänglich und von gezackten Gipfeln umgeben war: Ein einsamer Grünsteifen, ein üppiges Stück Nebelwald, das den Eindruck erweckte, als sei es irgendwo abgebrochen, erstreckte sich nun zwischen zwei Fängen aus weißem Gestein am Rand eines Abgrundes schwankend. Tom hatte eine Ruinenstadt mit weißen Türmen und Mauern erwartet. Doch er sah nichts als einen dichten, wuchtigen Teppich von Bäumen.

Vernon hob sein Fernglas, nahm die Weiße Stadt in Augenschein und gab das Fernglas dann an Tom weiter.

Durch die Vergrößerung wirkte das grüne Vorgebirge massiver. Tom suchte es langsam ab. Das Plateau war dicht mit Bäumen bestanden. Ein undurchdringliches Dickicht aus Lianen und Schlingpflanzen schien es zu bedecken.

Welche Ruinenstadt auch in diesem seltsamen terrassenar-tigen Tal liegen mochte, der Dschungel hatte sie ausgiebig vereinnahmt. Als er das Gewoge genauer untersuchte, erkannte er hier und da weißliche Stellen, die sich von der Vegetation abhoben und eine Art Muster ausprägten: Ek-ken, durchbrochene Mauerstücke, dunkle Vierecke, die wie Fenster aussahen. Und als er etwas begutachtete, das er für einen steilen Hügel hielt, begriff er, dass es sich um die Ruine einer wild überwucherten Pyramide handelte. An einer Seite klaffte ein Loch - eine weiße Wunde im lebendi-gen Grün.

Die Mesa, auf der man die Stadt erbaut hatte, war tatsächlich eine Art Himmelsinsel. Sie hing, durch kahle Klippen von der übrigen Sierra Azul getrennt, zwischen den beiden Gipfeln. Sie wirkte auf Tom wie abgeschnitten, bis er dann über einer Schlucht etwas gekrümmtes, gewundenes Gelbes sah: eine primitive Hängebrücke. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass sie von Soldaten bewacht wurde.

Sie nutzten die Ruinen einer Steinfestung, die wohl von den Urbewohnern errichtet worden war, um die Weiße Stadt zu schützen. Hauser und seine Leute hatten vor der Brücke eine lange Grasnarbe gerodet, um ein übersichtliches Schussfeld zu haben.

Der Weißen Stadt gegenüber, nicht fern von der Brücke, strömte ein Bach aus den Bergen herab und stürzte sich in die Schlucht, wobei er sich in filigrane weiße Fäden verwandelte, um dann im Dunst darunter zu verschwinden.

Während Tom den Fluss in Augenschein nahm, stiegen Schwaden aus der Schlucht empor, hüllten die Hängebrük-ke ein und blockierten ihm schließlich auch die Aussicht auf die Weiße Stadt. Der Dunst teilte sich, die nächste Woge wallte auf. Auch sie löste sich in einem sich ständig wie-derholenden Ballett aus Finsternis und Licht auf.

Tom fröstelte. Vermutlich hatte sein Vater vor vierzig Jahren ebenfalls an dieser Stelle gestanden. Zweifellos hatte auch er die schwachen Umrisse der Stadt in dieser chaoti-schen Vegetation erkennen können. Hier hatte er seine erste Entdeckung gemacht und sein Lebenswerk begonnen. Und hier hatte er geendet, lebendig eingeschlossen in eine finstere Grabkammer. Die Weiße Stadt war das Alpha und Ome-ga seiner Laufbahn.

Tom reichte Sally das Fernglas. Sie betrachtete die Weiße Stadt sehr lange. Dann ließ sie das Glas sinken und schaute Tom an. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet. »Es ist eine Maya-Stadt«, sagte sie. »Es gibt einen zentralen Platz für die Ballspiele, eine Pyramide und einige mehrstöckige Gebäude. Absolut klassisch. Die Menschen, die sie gebaut haben, stammten - da bin ich mir sicher - aus Copán. Möglicherweise haben sie sich nach dem Untergang Copans im Jahr 900 hierher zurückgezogen. Ein großes Rätsel ist gelöst.«

Ihre Augen funkelten, ihr goldenes Haar leuchtete in der Sonne. Tom hatte sie noch nie von solcher Lebenskraft sprühen gesehen. Nach dem wenigen Schlaf, den sie gehabt hatten, erschien ihm das wirklich erstaunlich.

Sally drehte sich um und schaute ihm in die Augen. Tom hatte den Eindruck, dass sie seine Gedanken erriet. Ihre Wangen röteten sich leicht, dann schaute sie weg und lächelte vor sich hin.

Philip nahm das Fernglas an sich und unterzog die Stadt einer Prüfung. Tom hörte ihn überrascht Luft holen. »Da unten sind Menschen«, sagte Philip. »Sie fällen vor der Pyramide Bäume.«

Man hörte das ferne Krachen von Dynamit. In der Stadt stieg eine Staubwolke auf, die wie eine kleine weiße Blüte aussah.

»Wir müssen Vaters Grabkammer vor ihnen finden«, sagte Tom. »Sonst ...« Er ließ den Satz unbeendet.

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