Sie hatten das Lager mit der üblichen militärischen Präzision auf einer hohen, vom Sumpf umgebenen Insel aufgeschlagen. Philip saß am Feuer, rauchte seine Pfeife und lauschte den abendlichen Klängen des Regenwaldes. Es überraschte ihn, wie kompetent Hauser im Dschungel war.
Er hatte das Lager gestaltet und organisiert und leitete die Soldaten bei ihren verschiedenen Aufgaben an. Bisher hatte er von Philip rein gar nichts verlangt und jedes seiner Hilfsangebote abgelehnt. Natürlich war Philip nicht wild darauf, durch den Dreck zu waten und fürs Abendessen Riesenratten zu jagen. Genau das schienen die anderen nun gerade zu tun. Doch andererseits konnte er das Gefühl, nutzlos zu sein, auch nicht ausstehen. Am Feuer zu sitzen und Pfeife zu rauchen, während die anderen die ganze Arbeit erledigten, war nicht die Prüfung, die sein Vater im Sinn gehabt hatte.
Philip trat ein Stück Holz in die Glut zurück. Zum Teufel mit der Prüfung. Seit König Lear sein Reich geteilt hatte, war sie mit Sicherheit die größte Eselei, die ein Vater seinen Kindern je angetan hatte.
Ocotal, der Führer, den sie in dem jämmerlichen Kaff am Fluss aufgelesen hatten, saß für sich allein, hegte das Feuer und kochte Reis. Er war ein eigenartiger Bursche - klein, schweigsam und voller Würde. Irgendetwas hatte er an sich, das Philip anziehend fand. Er gehörte offenbar zu jenen Menschen, die unerschütterlich von ihrem eigenen Wert überzeugt waren. Ocotal kannte sich eindeutig auf seinem Gebiet aus und führte sie Tag für Tag und ohne das geringste Zögern durch einen unglaublichen Irrgarten von Seitenarmen des Flusses, wobei er Hausers Ermahnungen, Kommentaren und Fragen keine Beachtung schenkte.
Wenn Philip oder Hauser versuchten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, gab er sich unzugänglich.
Philip schlug den Pfeifenkopf aus, freute sich, dass er einen Vorrat an Dunhill Early Morning mitgenommen hatte, und nahm die nächste Füllung in Angriff. Er sollte wirklich weniger rauchen, besonders angesichts der Krankheit seines Vaters. Nach der Reise. Im Moment war der Qualm die einzige Möglichkeit, die Moskitos zu vertreiben.
Rufe wurden laut. Als Philip sich umwandte, sah er, dass Hauser von der Jagd zurückkehrte. Vier Soldaten schleppten einen an einen langen Ast gebundenen Tapir. Sie hängten das Tier mit einem Flaschenzug an den Ast eines Baumes. Dann ließ Hauser die Männer allein und nahm neben Philip Platz. Als er eine Zigarre hervorzog, abknipste und anzündete, verströmte er einen leichten Geruch von Rasierwasser, Tabakrauch und Blut. Er inhalierte den Rauch und stieß ihn dann wie ein Drache durch die Nasenlöcher aus.
»Wir kommen ganz gut voran, Philip, finden Sie nicht auch?«
»Bewundernswert gut.« Philip schlug nach einem Moskito. Es war ihm schleierhaft, wieso Hauser nie gestochen wurde, obwohl er allem Anschein nach zu seinem Schutz keine Chemikalien verwendete. Vielleicht enthielt sein Blutkreislauf ja eine tödliche Dosis Nikotin. Philip fiel auf, dass Hauser den Rauch der dicken Churchill-Zigarre inhalierte wie den einer Zigarette. Eigenartig, dass manche Menschen an etwas starben, von dem die anderen lebten.
»Ist Ihnen Dschingis Khans Dilemma vertraut?«, fragte Hauser.
»Kann ich nicht behaupten.«
»Als Dschingis Khan sich auf den Tod vorbereitete, wollte er so bestattet werden, wie es einem großen Führer gebührte - mit einem Haufen seiner Schätze, mit Konkubinen und Pferden, damit er auch im Jenseits seinem Vergnügen nachgehen konnte. Aber er wusste, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch war, dass man seine Grabkammer ausrauben und ihm alle Freuden nehmen würde, die ihm im Jenseits zustanden. Er hat lange darüber nachgedacht, wie sich dieses Problem wohl lösen ließe, doch fiel ihm keine Antwort ein. Schließlich rief er den Großwesir zu sich, den klügsten Mann in seinem Reich.
>Was soll ich tun, um zu verhindern, dass meine Grabkammer geplündert wird?<, fragte er den Wesir.
Der Wesir dachte lange darüber nach, und schließlich fiel ihm eine Antwort ein. Er erklärte sie Dschingis Khan, und der Herrscher war zufrieden. Als Dschingis starb, führte der Wesir den Plan aus. Er schickte zehntausend Arbeiter in das abgelegene Altai-Gebirge, wo sie eine riesige Grabkammer aus dem Fels schlugen und mit Gold, Edelsteinen, Wein, Seide, Elfenbein, Sandelholz und Weihrauch füllten.
Über tausend schöne Jungfrauen und tausend Pferde wurden zur Lust des großen Khans dem Jenseits geopfert. Es gab eine gewaltige Bestattungszeremonie und ein rauschendes Fest für die Arbeiter, dann wurde Dschingis Khans Leiche in die Grabkammer eingeschlossen und die Tür sorgfältig getarnt. Das ganze Gebiet wurde mit Erde bedeckt, dann ritten tausend Reiter durch das Tal, um sämtliche Spuren ihrer Arbeit zu tilgen.
Als die Arbeiter und Reiter zurückkehrten, kam der Wesir ihnen mit dem Heer des Khans entgegen und ließ sie bis auf den letzten Mann niedermachen.«
»Wie scheußlich.«
»Danach beging der Wesir Selbstmord.«
»Was für ein Blödmann. Er hätte reich werden können.«
Hauser kicherte. »Ja. Aber er war seinem Herrn treu ergeben. Er wusste, dass man sogar ihm, dem vertrauenswür-digsten aller Menschen, ein solches Geheimnis nicht anver-trauen konnte. Vielleicht hätte er im Schlaf gesprochen.
Vielleicht hätte man es ihm unter der Folter abgepresst.
Auch hätte seine Gier ihn überwältigen können. Er war das schwache Glied in der Kette. Deswegen musste auch er sterben.«
Philip hörte ein Hacken, und als er den Blick hob, sah er, wie die Jäger die Beute mit Macheten zerlegten. Die Innereien klatschten mit einem feuchten Schmatzen auf den Boden. Philip zuckte zusammen und wandte sich ab. Irgendwie, wurde ihm bewusst, hatte das Vegetariertum doch etwas für sich.
»Und hier haben wir den Haken, die Schwäche im Plan des Wesirs: Auch ein Mann wie Dschingis Khan musste sich hinsichtlich seines Geheimnisses letztlich auf einen anderen Menschen verlassen.« Hauser stieß eine beißende Rauchwolke aus. »Und deswegen frage ich Sie, Philip: Wer ist der einzige Mensch, dem Ihr Vater vertraut hat?«
Es war eine gute Frage. Philip dachte schon seit geraumer Zeit darüber nach. »Es war keine Freundin oder Ex-Frau.
Über seine Ärzte und Anwälte hat er pausenlos nur gelä-stert. Seine Sekretärinnen haben immer von sich aus gekündigt. Er hatte keine echten Freunde. Der einzige Mensch, dem er vertraute, war sein Pilot.«
»Und ich habe bereits in Erfahrung gebracht, dass er nichts über die Sache weiß.« Hauser hielt die Zigarre in einem steilen Winkel an seine Lippen. »Genau da liegt der Haken, Philip. Hat Ihr Vater vielleicht ein Doppelleben geführt? Hatte er ein heimliches Verhältnis? Hat er möglicherweise einen unehelichen Sohn, den er Ihnen und Ihren Brüdern vorgezogen hat?«
Allein die Andeutung ließ Philip frösteln. »Ich habe keine Ahnung.«
Hauser schwenkte die Zigarre. »Das stimmt einen nachdenklich, was, Philip?«
Er verfiel in Schweigen. Die Vertraulichkeit ermutigte Philip, eine Frage zu stellen, die ihm schon seit geraumer Zeit am Herzen lag. »Was ist zwischen meinem Vater und Ihnen vorgefallen?«
»Wussten Sie, dass wir schon in unserer Kindheit befreun-
det waren?«
»Ja.«
»Wir sind zusammen in Erie aufgewachsen. In der Straße, in der wir lebten, haben wir Stickball miteinander gespielt.
Wir sind zusammen zur Schule gegangen und waren gemeinsam das erste Mal in einem Puff. Wir glaubten, wir würden uns sehr gut kennen. Doch wenn man in den Dschungel vorstößt, wenn's ums Überleben geht, erfährt man noch ein paar andere Dinge über sich. Dann entdeckt man an sich selbst Sachen, von denen man nie etwas geahnt hat. Man erfährt, wer man wirklich ist. Und genau das ist uns passiert. Wir saßen mitten im Dschungel fest, hatten uns verirrt, waren von Insekten zerstochen, hatten nichts zu essen und waren halb tot vor Fieber. Und da haben wir festgestellt, wer wir wirklich sind. Wissen Sie, was ich entdeckt habe? Ich habe entdeckt, dass ich Ihren Vater verachte.«
Philip schaute Hauser an. Der Mann wich seinem Blick nicht aus. Sein Gesicht war ruhig, glatt und undurchdringlich wie immer. Er spürte, dass es ihm kalt über den Rücken lief. »Und was haben Sie über sich selbst erfahren, Hauser?«, fragte er.
Er sah, dass die Frage sein Gegenüber verblüffte. Hauser überging sie mit einem Lachen. Dann warf er den Zigarrenstummel ins Feuer und stand auf. »Das kriegen Sie noch früh genug raus.«