29

Tom und seine Gruppe reisten drei Tage lang mitten durch das Sumpfgebiet. Sie durchfuhren ein Netz aus Kanälen, lagerten auf Schlamminseln, die kaum höher waren als der Wasserspiegel, und kochten, da Chori kein frisches Wild aufspürte, über qualmendem Feuer aus feuchtem Holz Bohnen und Reis. Trotz des endlosen Regens war der Wasserstand gesunken und ließ voll gesogene Baumstämme sehen, die es zu zerlegen galt, bevor sie weiterfahren konnten. Und ständig begleitete sie ein bösartig summender Schwärm von Schwarzfliegen.

»Ich glaube, ich fange jetzt doch mit dem Pfeiferauchen an«, sagte Sally. »Bevor ich das aushalte, sterbe ich lieber an Krebs.«

Don Alfonso zog mit einem triumphierenden Lächeln seine Ersatzpfeife aus der Tasche. »Sie werden sehen. Wer raucht, führt ein langes und gesundes Leben. Ich rauche schon seit über hundert Jahren.«

Aus dem Dschungel drang ein dumpfes Geräusch, wie von einem hustenden Menschen. Es war nur lauter und langsamer.

»Was war das?«

»Ein Jaguar. Ein hungriger Jaguar.«

»Erstaunlich, was Sie alles über den Wald wissen«, meinte Sally.

»Ja.« Don Alfonso seufzte. »Aber heutzutage will niemand mehr etwas über den Wald lernen. Meine Enkel und Uren-

kel interessieren sich nur noch für Fußball und diese dicken weißen Schuhe, in denen einem die Füße verfaulen - die mit dem Vogel an der Seite, die in der Fabrik in San Pedro Sula hergestellt werden.« Er deutete mit dem Kinn auf die Schuhe, die Tom anhatte.

»Nike?«

»Ja. In der Nähe von San Pedro Sula gibt es ganze Dörfer, in denen den Jungs die Füße verfaulen und von den Beinen abfallen, weil sie diese Dinger tragen. Nun müssen sie mit Holzbeinen herumlaufen.«

»Das ist doch gar nicht wahr.«

Don Alfonso schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend mit der Zunge. Das Boot fuhr nun durch einen Lia-nenvorhang, den Pingo mit seiner Machete verhackstückte.

Vor ihnen sah Tom eine sonnige Stelle, einen von oben her-abfallenden Lichtstrahl. Als sie sich auf ihn zubewegten, stellte er fest, dass dort kürzlich ein riesiger Baum umgestürzt war. Er hatte im Blätterbaldachin eine Lücke hinterlassen. Der Stamm lag quer im Kanal und blockierte ihnen den Weg. Es war der größte, den er bisher gesehen hatte.

Don Alfonso murmelte eine Verwünschung. Chori nahm seine Pulaski und sprang vom Bug auf den Stamm. Seine nackten Füße saugten sich an der schlüpfrigen Oberfläche fest, und er schlug auf den Stamm ein, dass die Späne nur so flogen. Nach einer halben Stunde hatte er ihn so weit eingekerbt, dass die Boote weitergleiten konnten.

Alle stiegen aus und fingen an zu schieben. Hinter dem Stamm wurde das Wasser plötzlich tiefer. Tom, dem es bis an die Taille reichte, bemühte sich, nicht an die Zahnsto-cherfische, Pirañas und an all die Krankheiten zu denken, die in dieser Brühe lauerten.

Vernon war vor ihm. Er hielt sich am Dollbord fest und schob den Einbaum voran, als Tom rechts im dunklen Wasser ein langsames Wogen auffiel. Im gleichen Moment hörte er Don Alfonsos durchdringenden Schrei. »Anakonda!«

Tom kletterte ins Boot, doch Vernon war um einen Bruchteil zu langsam. Das Wasser wirbelte auf, dann kräuselte es sich leicht und Vernon verschwand mit einem gleich darauf abbrechenden Aufschrei in der braunen Brühe. Der glänzende Rücken der Schlange glitt vorbei. Bevor das Tier un-tertauchte und verschwand, ließ es kurz seinen Leib sehen, der so dick war wie ein kleiner Baumstamm.

»Ehi! Sie hat Vernito!«

Tom riss seine Machete aus dem Gürtel und stürzte sich ins Wasser. Er trat kräftig aus und tauchte, so tief er konnte.

In der finsteren braunen Brühe konnte er kaum dreißig Zentimeter weit sehen. Mit Scherenschlägen bewegte er sich auf die Mitte zu, tastete sich mit der freien Hand voran und schwenkte sie hin und her, um die Schlange zu finden.

Er spürte etwas Kaltes, Rundes und Schlüpfriges und hieb darauf ein, bevor er begriff, dass es nur ein versunkener Baumstamm war. Er packte ihn, zog sich vorwärts und suchte mit tastender Hand verzweifelt nach der Schlange beziehungsweise seinem Bruder. Seine Lunge stand kurz vor dem Platzen. Er schoss an die Oberfläche, tauchte erneut unter und griff um sich. Wo steckte die Schlange? Wie viel Zeit war schon vergangen? Eine Minute? Zwei? Wie lange konnte Vernon überleben? Die Verzweiflung trieb Tom weiter. Er setzte seine wütende Suche fort und griff zwischen die schleimigen versunkenen Stämme.

Ein Stamm zuckte plötzlich unter der Berührung. Es war ein muskulöser Schlauch, hart wie Mahagoni. Darunter er-tastete Tom bewegliche Haut und das Wogen sich zusam-menziehender Muskeln.

Er bohrte die Machete in den weichen Unterbauch der Schlange und grub sie so tief hinein, wie es nur ging. Eine Sekunde lang passierte nichts, dann explodierte das Biest in peitschenartigen Bewegungen, die Tom im Wasser nach hinten warfen und die Luft mit gewaltiger Blasenentwick-lung aus ihm heraustrieben. Er kraulte an die Oberfläche zurück und atmete ein. Der Wasserspiegel schäumte, als die Schlange um sich schlug. Tom bemerkte, dass die Machete weg war.

Nun flogen die zuckenden Windungen der Schlange in glänzenden Bögen aus dem Wasser. Einen Moment lang tauchte Vernons zur Faust geballte Hand auf, dann sein Kopf. Ein Aufkeuchen, dann war er wieder weg.

»Eine Machete!«

Pingo warf ihm seine Waffe mit dem Griff voran zu. Tom fing sie auf und drosch auf den sich windenden Leib der Schlange ein, die auf dem Wasserspiegel um sich schlug.

»Der Kopf!«, schrie Don Alfonso. »Schlagen Sie auf den Kopf!«

Doch wo war in dieser Schlangenmasse der Kopf? Da kam Tom eine Idee. Er stach mit der Machetenspitze mehrmals auf den Leib der Schlange ein, um sie in Rage zu bringen.

Dann tauchte der hässliche kleine Kopf der Bestie aus dem Wasser auf. Tom sah ein abgeflachtes Maul und zwei Schlitzaugen, die nach der Ursache ihrer Qualen suchten.

Als sie sich mit offenem Maul auf ihn stürzte, bohrte Tom die Machete tief in den weit aufgerissenen, rosa Schlund des Ungeheuers. Die Schlange zuckte und ruckte und biss sich fest, doch Tom lockerte seinen eisernen Griff auch dann nicht, als das Monster ihm in den Arm biss. Er drehte die Machete im Maul der Schlange und spürte, wie ihr Fleisch nachgab. Dann das plötzliche Strömen kalten Repti-lienblutes. Der Kopf zuckte hin und her und hätte ihm beinahe den Arm abgerissen. Tom versetzte der Machete mit aller ihm noch verbliebenen Kraft eine letzte feste Drehbe-wegung, und da trat die Klinge hinter dem Schlangenkopf ins Freie. Tom drehte sie weiter und spürte das unkontrol-lierte Zucken der Kiefer, als er die Schlange von innen her köpfte. Er stemmte das Maul mit der freien Hand auf, zog seinen Arm heraus und suchte in dem noch immer aufgewühlten Wasser hektisch nach seinem Bruder.

Da stieg Vernon plötzlich, mit dem Gesicht nach unten, an die Oberfläche des Teiches auf. Tom packte ihn und drehte ihn auf den Rücken. Vernons Gesicht war rot, seine Augen geschlossen. Er wirkte wie tot. Tom zog ihn durch das Wasser zum Boot, und Pingo und Sally hievten ihn an Bord.

Tom fiel hinter ihm her und verlor die Besinnung.

Als er wieder zu sich kam, beugte Sally sich über ihn. Ihr blondes Haar wogte über ihm wie ein Wasserfall. Sie säuberte die Bisse an seinem Arm und rieb sie mit einem in Alkohol getränkten Läppchen ein. Sein Hemd war über dem Ellbogen abgerissen, auf seinem Arm waren tiefe Kerben. Blut quoll hervor.

»Vernon ...?«

»Ihm geht's gut«, sagte Sally. »Don Alfonso kümmert sich um ihn. Er hat nur etwas Wasser geschluckt und einen bösen Biss in den Schenkel abgekriegt.«

Tom machte einen Versuch, sich hinzusetzen. Sein Arm brannte mörderisch. Die Schwarzfliegen umschwärmten ihn schlimmer denn je, und er atmete das Getier bei jedem Luftholen ein. Sally legte ihm eine Hand auf den Brustkorb und schob ihn sanft nach hinten. »Nicht bewegen.« Sie zog an ihrer Pfeife, blies ihn mit dem Qualm an und ver-scheuchte so die Mücken.

»Was für ein Glück, dass Anakondas nur winzige Zähn-chen haben.« Sally rieb ihn ein.

»Autsch.« Tom legte sich hin und musterte den sich über ihm bewegenden Blätterbaldachin. Nirgendwo war ein Stückchen freien Himmels zu sehen. Die Blätter deckten alles zu.

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