8

Als Tom mit der Behandlung des kranken Pferdes fertig war, ging hinter der Toh-Ateen-Mesa die Sonne unter und warf lange goldene Schatten über Salbei und Chamisa. Dahinter erhob sich eine über dreihundert Meter hohe, im sterbenden Licht rot leuchtende Wand aus behauenem Sandstein. Tom sah sich das Pferd noch einmal kurz an, dann tätschelte er ihm den Hals und wandte sich der Besitzerin zu, einer jungen Navajo. »Er wird's schon schaffen. Ist nur ein Anflug von Sandkolik.«

Die junge Frau ließ ein erleichtertes Lächeln sehen.

»Jetzt hat er erst mal Hunger. Führen Sie ihn ein paar Mal durch die Koppel, dann geben Sie ihm zusammen mit dem Hafer eine Schöpfkelle Psyllium. Lassen Sie ihn danach saufen. Dann geht's ihm bestimmt bald besser.«

Die Navajo-Großmutter, die fünf Meilen geritten war, um in seine Tierarztpraxis zu kommen - die Straße war, wie üblich, unterspült -, nahm seine Hand. »Danke, Doktor.«

Tom deutete eine Verbeugung an. »Stets zu Diensten.« Er freute sich schon auf den Rückritt nach Bluff. Er war froh, dass die Straße unterspült war, denn so hatte er eine Ent-schuldigung für den langen Ritt. Er hatte ihm zwar den halben Tag kaputtgemacht, aber der Weg führte immerhin durch eine der schönsten Felslandschaften des Südwestens: durch die als Morrison-Formation bekannten jurassischen Sandsteinablagerungen, die von Dinosaurierfossilien nur so strotzten. Dort gab es zahllose abgelegene Canyons, die bis zur Toh-Ateen-Mesa hinaufführten. Ob da oben je Paläon-tologen gewesen waren, um sie zu erforschen? Wahrscheinlich nicht. Irgendwann, dachte Tom, mach ich einen kleinen Abstecher in eine dieser Schluchten ...

Er schüttelte den Kopf und lächelte vor sich hin. Die Wüste war ein schöner Ort, um den Geist zu klären. Und er musste über vieles nachdenken. Diese verrückte Sache mit seinem Vater war der größte Schock seines Lebens gewesen.

»Was sind wir Ihnen schuldig, Doktor?«, unterbrach die Großmutter seine Träumerei.

Tom warf einen Blick auf die schäbige Teerpappenbehau-sung, das kaputte, halb im Unkraut vergrabene Auto und die mageren Schafe im Pferch.

»Fünf Dollar.«

Die Frau griff in ihre Baumwollkordbluse, entnahm ihr ein paar angeschmutzte Dollarscheine und zählte fünf ab.

Tom hatte gerade an seinen Hut getippt und sich umgedreht, um sein Pferd zu holen, als ihm am Horizont eine kleine Staubwolke auffiel. Auch die beiden Navajos hatten sie bemerkt. Ein Pferd und ein Reiter kamen aus nördlicher Richtung schnell auf sie zu. Und zwar aus der Gegend, aus der auch Tom gekommen war. Der dunkle Fleck wurde in dem riesigen goldenen Wüstenbecken immer größer. Tom fragte sich, ob es sein Partner Shane war. Die Vorstellung alarmierte ihn. Es musste schon ein verflucht wichtiger Notfall sein, wenn Shane hier aufkreuzte, um ihn zu holen.

Als die Gestalt Kontur annahm, sah er, dass er es nicht war. Es war eine Frau. Und sie ritt auf seinem Pferd Knock.

Als sie in die Ansiedlung trabte, war sie durch den Ritt von Staub bedeckt. Knock schäumte und schnaubte. Die Frau hielt an und schwang sich vom Rücken des Pferdes.

Sie war fast zwölf Kilometer ohne Sattel und Zaumzeug durch die einsame Wüste geritten. Welch ein Irrsinn! Wieso ritt sie überhaupt sein bestes Pferd? Hätte sie nicht einen von Shanes Kleppern nehmen können? Er würde Shane den Hals umdrehen.

Die Frau kam auf ihn zu. »Ich bin Sally Colorado«, sagte sie. »Ich wollte Sie eigentlich in der Praxis aufsuchen, aber Ihr Partner sagte, Sie wären hier draußen. Deswegen bin ich hier.« Ihr honigblondes Haar raschelte, als sie ihm die Hand hinhielt. Tom schüttelte sie völlig verblüfft. Das Haar der Frau fiel ihr über die Schultern auf ein weißes, nun staubiges Baumwollhemd, das an ihrer schlanken Taille in eine Jeans gestopft war. Ein leichter Pfefferminzgeruch umgab sie. Als sie lächelte, schien ihre Augenfarbe von Grün zu Blau zu wechseln. Jedenfalls erweckte es den Eindruck. Sie trug Türkisohrringe, doch die Farbe ihrer Augen war satter als die der Steine.

Nach einer Weile fiel Tom auf, dass er ihre Hand noch immer festhielt. Er ließ sie los.

»Ich musste Sie einfach ausfindig machen«, sagte Sally.

»Ich konnte nicht warten.«

»Ein Notfall?«

»Jedenfalls kein tierärztlicher, wenn Sie das meinen.«

»Um was für einen geht es dann?«

»Das erzähle ich Ihnen auf dem Rückweg.«

»Verdammt noch mal«, explodierte Tom. »Ich kann's nicht fassen, dass Shane es zulässt, dass Sie mein bestes Pferd ohne Sattel und Zaumzeug fast zuschanden reiten. Sie hätten dabei draufgehen können!«

»Shane hat's nicht zugelassen.« Die junge Frau lächelte.

»Wie haben Sie das Pferd dann gekriegt?«

»Ich hab's geklaut.«

Tom brauchte eine Weile, bis er seine Bestürzung überwand und zu lachen wagte.

Als die beiden nach Norden aufbrachen, war die Sonne untergegangen. Sie ritten zusammen nach Bluff zurück.

Eine Weile bewegten sie sich schweigend nebeneinander her, dann sagte Tom: »Also los, dann erzählen Sie mal, was so wichtig ist, dass Sie ein Pferd und Ihren Hals riskieren mussten.« »Tja ...« Sally zögerte.

»Ich bin ganz Ohr, Miss ... Colorado. Falls Sie wirklich so heißen.«

»Ich weiß, es ist ein komischer Name. Mein Urgroßvater war beim Varietee. Er hat als Indianer verkleidet eine medizinische Nummer aufgeführt und den Namen Colorado als Künstlername angenommen. Er ist besser als unser alter Smith. Er ist irgendwie an uns hängen geblieben. Nennen Sie mich Sally.«

»Na schön, Sally. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.« Tom ertappte sich dabei, dass er ihr mit einem guten Gefühl beim Reiten zuschaute. Sie machte den Eindruck, als sei sie auf einem Pferd zur Welt gekommen. Ihre lässige aufrechte Haltung musste eine Stange Geld gekostet haben.

»Ich bin Anthropologin«, begann Sally. »Genauer gesagt: Ich bin Ethnopharmazeutin. Ich studiere einheimische Medizin bei Professor Julian Clyve in Yale. Er war der Mann, der vor einigen Jahren die Hieroglyphen der Mayas geknackt hat. Eine wirklich geniale Arbeit. Es stand in allen Zeitungen.«

»Das bezweifle ich nicht.«

Sally hatte ein scharfes, sauber geschnittenes Profil, eine kleine Nase und eine komische Art, die Oberlippe vorzu-schieben. Wenn sie lächelte, hatte sie ein Grübchen, doch nur an einer Seite des Mundes. Ihr Haar war wie dunkles Gold; es schlängelte sich in einer glänzenden Kurve über ihre schlanken Schultern und fiel ihr dann über den Rük-ken. Sie war eine bemerkenswert schöne Frau.

»Professor Clyve hat die größte existierende Sammlung von Maya-Schriften zusammengetragen. Eine Bibliothek sämtlicher Schriften der alten Maya-Sprache. Sie besteht aus Abrieben von Stein-Inschriften, Handschriften und Ko-pien von Inschriften auf Töpfen und Steintafeln. Seine Bibliothek wird von Gelehrten aus aller Welt konsultiert.«

Tom konnte den tatterigen alten Pädagogen fast in seinen verstaubten Manuskripten herumkramen sehen.

»Die berühmtesten Maya-Schriften waren in den so genannten Codices enthalten. Dabei handelte es sich um Urbücher der Mayas, die in Glyphen auf Rindenpapier geschrieben wurden. Die Spanier haben die meisten verbrannt, weil sie sie für Bücher des Teufels hielten, doch einige unvollständige Codices haben hier und da überdauert.

Ein vollständiger Maya-Codex wurde allerdings nie gefunden. Im letzten Jahr stieß Professor Clyve auf dies hier. Er fand es hinten in einem Aktenschrank, der einem seiner verstorbenen Kollegen gehörte.«

Sally zog ein gefaltetes Stück Papier aus der Hemdtasche und hielt es ihm hin. Tom nahm es an sich. Es war eine ver-gilbte alte Fotokopie, die eine in Hieroglyphen verfasste Manuskriptseite zeigte. Am Rand befanden sich mehrere Zeichnungen von Blättern und Blumen. Sie kamen ihm vage bekannt vor, und so fragte er sich, wo er sie schon einmal gesehen hatte.

»Nur dreimal in der Menschheitsgeschichte wurde unabhängig voneinander die Schrift erfunden. Die Hieroglyphen der Mayas gehören dazu.«

»Mein Mayanisch ist ein wenig eingerostet. Was steht auf dem Zettel?«

»Er beschreibt die medizinischen Eigenschaften eines bestimmten Gewächses, das im mittelamerikanischen Regenwald gedeiht.«

»Was bewirkt es? Kann es Krebs heilen?«

Sally lächelte. »Das wäre was. Das Gewächs heißt K'ik'te oder auch Blutbaum. Der Zettel beschreibt, wie man seine Rinde kocht, Asche als Alkali hinzufügt und die Paste bei einer Verwundung als Wickel einsetzt.«

»Interessant.« Tom gab Sally den Zettel zurück.

»Es ist mehr als interessant. Es ist medizinisch korrekt. Die Rinde enthält nämlich ein leichtes Antibiotikum.«

Sie befanden sich nun auf dem glatten Steinplateau. Ein paar Kojoten heulten klagend in einem fernen Canyon. Ab jetzt mussten sie hintereinander reiten. Sally ritt hinter Tom her, der ihr zuhörte.

»Die Seite stammt aus einem mayanischen Medizin-Codex. Er wurde vermutlich so um das Jahr 800 geschrieben, auf dem Höhepunkt der klassischen Maya-Kultur. Der Codex enthält zweitausend medizinische Verordnungen und Verfahren - nicht nur zum Thema pflanzliche Medizin, sondern auch zu allem anderen, was im Regenwald wächst und lebt: Insekten, Säugetiere, selbst Mineralien. Vielleicht enthält er sogar ein Heilmittel gegen Krebs - oder wenigstens gegen bestimmte Krebsarten. Professor Clyve hat mich gebeten, den Besitzer ausfindig zu machen. Ich soll versuchen, ihn zu bewegen, den Codex übersetzen und veröffentlichen zu lassen. Es ist der einzige uns bekannte vollständige Maya-Codex. Es wäre wirklich ein atemberaubender Höhepunkt seiner bisher schon erstaunlichen Laufbahn.«

»Der Ihren auch, nehme ich an.«

»Ja. Es gibt ein Buch, das alle medizinischen Geheimnisse des Regenwaldes enthält und über Jahrhunderte hinweg ergänzt wurde. Wir reden hier über den üppigsten Regenwald der Welt, in dem Hunderttausende pflanzlicher und tierischer Spezies zu Hause sind; viele davon sind der Wissenschaft noch unbekannt. Die Mayas kannten jede Pflanze und jedes Tier; alles, was in diesem Regenwald existiert.

Und ihr gesamtes Wissen ist in dieses Buch geflossen.«

Sally trabte nun neben Tom her. Ihr offenes Haar wehte, als sie ihn einholte. »Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«

»Bestimmt«, sagte Tom, »hat sich die Medizin seit den alten Mayas ganz schön weiterentwickelt.«

Sally Colorado schnaubte. »Ursprünglich kamen fünfundzwanzig Prozent unserer sämtlichen Arzneimittel aus der Pflanzenwelt. Und doch ... Wussten Sie, dass bisher nur ein halbes Prozent der 265 000 Pflanzenarten dieser Erde auf ihre medizinischen Eigenschaften hin untersucht wurden?

Stellen Sie sich die Möglichkeiten vor! Die erfolgreichste und wirkungsvollste Droge aller Zeiten - Aspirin - wurde ursprünglich in der Rinde eines Baumes entdeckt, die Eingeborene zum Lindern von Schmerzen nutzten. Taxol, ein wichtiges Antikrebsmittel, wird ebenfalls aus Baumrinde hergestellt. Cortison wurde aus Dioscorea-Knollen gewonnen, das Herzmittel Digitalis aus dem Fingerhut, und Peni-cillin aus Schimmel. Tom, dieser Codex könnte die größte medizinische Entdeckung aller Zeiten sein!«

»Ich verstehe, auf was Sie hinauswollen.«

»Wenn Professor Clyve und ich den Codex übersetzen, wird er die Medizin revolutionieren. Und wenn das Sie noch nicht überzeugt, dann habe ich noch etwas anderes auf Lager. Der mittelamerikanische Regenwald verschwindet unter den Sägen der Holzfäller. Dieses Buch wird ihn retten.

Der Regenwald wird plötzlich viel mehr wert sein, wenn er erhalten bleibt. Die Pharmakonzerne werden diesen Ländern Milliarden an Tantiemen zahlen.«

»Und zweifellos auch einen schönen kleinen Profit ein-

streichen. Aber was hat das Buch mit mir zu tun?«

Über den Hobgoblin Rocks stieg nun der Vollmond auf und bemalte die Felsen mit silberner Farbe. Es war ein herrlicher Abend.

»Der Codex gehört Ihrem Vater.«

Tom hielt sein Pferd an und warf Sally einen Blick zu.

»Maxwell Broadbent hat ihn vor fast vierzig Jahren aus einer Grabkammer der Mayas gestohlen. Er hat nach Yale geschrieben und um Hilfe bei der Übersetzung gebeten.

Aber damals war die Maya-Schrift noch nicht dechiffriert.

Der Mann, der den Brief bekam, hielt die Musterseite für eine Fälschung und legte sie in einem alten Aktenordner ab, ohne den Brief zu beantworten. Vierzig Jahre später fiel er Professor Clyve in die Hände. Er wusste sofort, dass er echt ist. Vor vierzig Jahren konnte niemand einen Maya-Text fäl-schen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil nämlich niemand ihre Schrift lesen konnte. Professor Clyve hat den Text jedoch verstanden: Er ist wirklich der einzige Mensch auf dieser Welt, der die Schrift der Mayas fließend lesen kann. Ich versuche seit Wochen Ihren Vater zu erreichen, aber es sieht so aus, als hätte die Erde ihn verschluckt. Deswegen habe ich mich in meiner Verzweiflung an Ihre Fersen geheftet.«

Tom musterte Sally im zunehmenden Zwielicht. Dann lachte er.

»Was ist daran so komisch?«, fragte Sally aufgebracht.

Tom holte tief Luft. »Ich hab schlechte Nachrichten für Sie, Sally.«

Nachdem er ihr alles erzählt hatte, machte sich Schweigen breit.

»Sie nehmen mich auf den Arm«, sagte Sally schließlich.

»Nein.«

»Er hat kein Recht dazu!«

»Ob er's hat oder nicht, jedenfalls hat er es getan.«

»Und was werden Sie dagegen unternehmen?«

Tom seufzte. »Nichts.«

»Nichts? Was soll das heißen, nichts? Sie werden Ihr Erbe doch nicht in den Wind schießen, oder?«

Tom antwortete nicht sofort. Sie hatten nun den oberen Teil des Plateaus erreicht und hielten an, um die Aussicht zu genießen. Die zahllosen zum San Juan River hinabfüh-renden Canyons waren wie finstere Fraktale in die vom Mond beschienene Landschaft geätzt. Dahinter sah er die gelbe Zusammenballung der Lichter von Bluff, und am Rand des Ortes ein Konglomerat von Gebäuden, aus denen seine bescheidene veterinärmedizinische Praxis bestand.

Links ragten die gewaltigen Steinwirbel des Comb Ridge zum Himmel auf, geisterhafte Gebeine im Mondschein. Sie erinnerten Tom erneut daran, warum er eigentlich hier war.

In den Tagen nach dem Schock, als er erfahren hatte, was sein Vater mit ihrem Erbe gemacht hatte, hatte er eines seiner Lieblingsbücher in die Hand genommen: Platos Repu-blik. Er hatte wieder die Abschnitte gelesen, die sich mit dem Er-Mythos befassten, in denen Odysseus gefragt wurde, welche Existenz ihm in seinem nächsten Leben am liebsten sei. Und was wollte der große Odysseus, der Krieger, Liebhaber, Seemann, Forschungsreisende und König sein?

Ein anonymer Mensch, der in irgendeinem abgelegenen Winkel lebte, »unbeachtet von den anderen«. Er wollte nur ein einfaches und friedliches Leben führen.

Plato hatte es gutgeheißen. Und Tom ebenso.

Deswegen, fiel ihm ein, war er damals nach Bluff gezogen.

Es war unmöglich, bei einem Vater wie Maxwell Broadbent zu leben. Es war ein endloses Drama ständiger Ermahnungen, Herausforderungen, Kritik und Instruktionen. Tom war hierher gekommen, weil er hatte flüchten wollen. Er hatte Frieden finden und alles hinter sich lassen wollen.

Den ganzen Mist - und natürlich auch Sarah. Sarah: Sein Vater hatte sogar versucht, Freundinnen für ihn und seine Brüder auszusuchen. Mit katastrophalen Folgen.

Tom warf einen vorsichtigen Blick auf Sally. Der kühle Abendwind spielte mit ihrem Haar. Ihr Gesicht war dem Mondschein zugewandt, ihr Mund stand angesichts der atemberaubenden Aussicht vor Bewunderung und Ehrfurcht ein wenig offen. Eine Hand lag auf ihrem Oberschenkel. Ihr schlanker Leib ruhte leicht im Sattel. Gott, wie schön sie war.

Tom verdrängte den Gedanken verärgert aus seinem Bewusstsein. Sein Leben war eigentlich genau so, wie er es sich wünschte. Es war ihm zwar nicht gelungen, Paläontologe zu werden - dafür hatte sein Vater schon gesorgt -, aber Tierarzt in Utah war das Zweitbeste. Warum sollte er das vermasseln? War er diesen Weg nicht schon einmal gegangen? »Ja«, erwiderte er schließlich. »Ich lege keinen Wert darauf.«

»Und warum nicht?«

»Ich weiß nicht genau, ob ich es erklären kann.«

»Versuchen Sie's.«

»Man muss meinen Vater verstehen. Er wollte sein Leben lang alles steuern, was meine Brüder und ich machten. Er hat uns gelenkt. Er hatte Großes mit uns vor. Doch was ich auch tat - was wir auch taten -, es war ihm nie gut genug.

Wir waren nie gut genug für ihn. Und jetzt das. Ich spiele sein Spiel nicht mehr mit. Mir reicht's.«

Er hielt inne und fragte sich, warum er Sally so viel erzählte.

»Fahren Sie fort«, sagte Sally.

»Er wollte, dass ich Arzt werde. Ich wollte Paläontologe werden und nach Dinosaurierfossilien suchen. Mein Vater meinte, das sei lächerlich - infantil hat er es genannt. Wir schlossen dann den Kompromiss, dass ich Tierarzt werden sollte. Natürlich hat er erwartet, dass ich nach Kentucky gehe und Rennpferde behandle, die Millionen wert sind; dass ich vielleicht sogar in der medizinischen Forschung tätig werde, tolle Entdeckungen mache und den Namen Broadbent in die Geschichtsbücher bringe. Doch ich bin ins Navajo-Reservat gezogen. Und hier will ich bleiben, weil es mir gefällt. Die Pferde hier brauchen mich, und die Menschen auch. Und was die Landschaft Süd-Utahs anbetrifft, so ist sie die schönste der Welt. Außerdem gibt es hier einige der größten Fossilienablagerungen aus der jurassischen Periode und der Kreidezeit auf Erden. Für meinen Vater war mein Umzug in das Reservat ein unglaubliches Versagen und eine große Enttäuschung. Hier ist kein Geld zu verdienen. Hier kann man kein Prestige erringen. An diesem Reservat ist nichts Prächtiges. Seiner Meinung nach hatte ich mit meinem Tiermedizinstudium nur sein Geld verschwendet. Mein Umzug kam ihm wie ein Verrat vor.«

Tom hielt inne. Jetzt hatte er wirklich zu viel erzählt.

»Und damit hat es sich? Sie wollen das ganze Erbe einfach so sausen lassen? Und auch den Codex und alles andere?«

»Stimmt.«

»Einfach so?«

»Die meisten Menschen erben ohnehin nichts. Meine Praxis läuft gar nicht schlecht. Mir gefällt mein Leben, und ich liebe dieses Land. Schauen Sie sich doch mal um. Was kann man sich mehr wünschen?«

Tom registrierte, dass Sally nicht die Landschaft musterte, sondern ihn. Ihr Haar leuchtete leicht im silbernen Licht des Mondes. »Auf wie viel verzichten Sie, wenn ich mir diese Frage erlauben darf?«

Tom verspürte angesichts der schieren Größe seiner Erbschaft ein leichtes Stechen, und das nicht zum ersten Mal.

»Es sind mehr oder weniger hundert Millionen.«

Sally stieß einen Pfiff aus. Dann folgte ein langes Schweigen. Irgendwo in den Canyons unter ihnen heulte ein Kojote, dem ein Genosse Antwort gab. Dann sagte Sally: »Herrgott, Sie haben wirklich Mumm.«

Tom zuckte die Achseln.

»Und Ihre Brüder?«

»Philip hat sich mit dem alten Partner meines Vaters zu-sammengetan, um die versteckte Grabkammer zu suchen.

Soweit ich weiß, ist Vernon allein unterwegs. Warum tun Sie sich nicht mit einem von ihnen zusammen?«

Er bemerkte, dass Sally ihn in der Finsternis ziemlich intensiv anschaute. Schließlich sagte sie: »Ich hab's schon versucht. Vernon ist vor einer Woche ins Ausland gereist, und auch Philip ist verschwunden. Sie sind nach Honduras gefahren. Sie standen als Letzter auf meiner Liste.«

Tom schüttelte den Kopf. »Nach Honduras. Da waren sie aber schnell. Wenn sie mit der Beute zurückkehren, können Sie den Codex von ihnen kriegen. Meinen Segen haben Sie jedenfalls.«

Wieder ein langes Schweigen. »Ich kann das Risiko nicht eingehen. Ihre Brüder haben doch keine Ahnung, um was es geht - und wie viel der Codex wert ist. Da könnte alles passieren.«

»Tut mir Leid, Sally. Ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Professor Clyve und ich brauchen Ihre Hilfe. Die Welt braucht Ihre Hilfe!«

Tom stierte die finsteren Pappelhaine in den Flussauen des San Juan River an. Aus einem fernen Wacholderbaum meldete sich eine Eule.

»Mein Entschluss steht fest«, sagte er.

Sally musterte ihn weiterhin. Ihr Haar war nun über ihren Schultern und auf ihrem Rücken in heftige Unordnung geraten. Ihre Unterlippe war ein schmaler Strich. Die Pappeln warfen gesprenkeltes Mondlicht über ihren Körper; die ver-

schwommenen silbernen Lichtflecke kräuselten und veränderten sich mit der Brise. »Wirklich?«

Tom seufzte. »Wirklich.«

»Dann helfen Sie mir wenigstens ein bisschen. Ich bitte ja nicht um viel, Tom. Kommen Sie mit mir nach Santa Fe.

Stellen Sie mich den Anwälten und Freunden Ihres Vaters vor. Erzählen Sie mir von seinen Reisen und Gewohnheiten. Erübrigen Sie zwei Tage für mich. Helfen Sie mir weiter. Nur zwei Tage lang.«

»Nein.«

»Ist Ihnen je ein Pferd gestorben?«

»Das passiert alle Nase lang.«

»Ein Pferd, das Sie geliebt haben?«

Tom dachte spontan an sein Pferd Pedernal, das an einem antibiotikaresistenten Keuchhusten verendet war. Nie wieder würde er ein so schönes Pferd besitzen.

»Hätten bessere Medikamente es gerettet?«, fragte Sally.

Tom schaute auf die fernen Lichter von Bluff. Zwei Tage waren nicht viel, und irgendwie hatte Sally ja auch Recht.

»In Ordnung. Sie haben gewonnen. Zwei Tage.«

Загрузка...