Marcus Aurelius Hauser untersuchte die weiße Vorderseite seines Hemdes und entdeckte einen kleinen Käfer, der sich mühsam hinaufkämpfte. Er zupfte ihn ab, zerquetschte ihn mit einem ihn zufriedenstellenden Knacken des Chitin-panzers zwischen Daumen und Zeigefinger und warf ihn weg. Dann fiel seine Aufmerksamkeit auf Philip Broadbent.
Von seiner Durchtriebenheit und Blasiertheit war nichts mehr übrig. Philip hockte, an Händen und Füßen gefesselt, am Boden. Er war verdreckt, von Mücken zerstochen und unrasiert. Es war einfach nicht zu fassen, wie manche Menschen ihre Hygiene im Dschungel vernachlässigten.
Hauser warf einen Blick an die Stelle, an der drei seiner Soldaten den Führer Orlando Ocotal festhielten. Ocotal hatte ihm beträchtlichen Ärger bereitet. Beinahe wäre ihm die Flucht gelungen. Hauser hatte das nur mit einer äußerst hartnäckigen Verfolgung verhindert. Sie hatten einen ganzen Tag vergeudet. Ocotals fataler Fehler hatte darin bestanden, einem Gringo, einem Yanqui, nicht zuzutrauen, dass er ihn im Sumpf aufspüren könne. Wahrscheinlich hatte er von Vietnam noch nie etwas gehört.
Umso besser. Nun war es heraus. Der Sumpf lag ohnehin fast hinter ihnen. Ocotals Nützlichkeit hatte sich erschöpft.
Die Lektion, die er ihm erteilen wollte, würde sich auch gut auf Philip auswirken.
Hauser inhalierte die faulige Dschungelluft. »Erinnern Sie sich noch an den Tag, an dem wir die Boote beladen haben, Philip? Sie wollten wissen, wofür wir die Handschellen und Ketten brauchen.«
Philip antwortete nicht.
Hauser fiel ein, was er ihm erklärt hatte: dass die Handschellen ein wichtiges psychologisches Werkzeug seien, um die Soldaten zu disziplinieren - eine Art tragbarer Knast.
Natürlich, hatte er behauptet, wolle er sie nicht wirklich einsetzen. »Nun wissen Sie«, sagte er, »für wen sie bestimmt waren.«
»Warum bringen Sie mich nicht einfach um, damit Sie es hinter sich haben?«
»Alles zu seiner Zeit. Man tötet den letzten Angehörigen einer Familie nicht leichten Herzens.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Wie schön, dass Sie sich danach erkundigen. In Kürze werde ich mich Ihrer beiden Brüder annehmen, die hinter uns durch den Sumpf kommen. Wenn der Letzte der Broadbent-Dynastie ausgestorben ist, nehme ich mir, was mir gehört.«
»Sie sind ein Psychopath.«
»Ich bin ein vernünftiger Mensch und spiele auf ein großes Unrecht an, das mir einst zugefügt wurde.«
»Und was war das für ein Unrecht?«
»Ihr Vater und ich waren Partner. Er hat mir meinen Anteil an der Beute seines ersten großen Fundes vorenthal-ten.«
»Das war vor vierzig Jahren.«
»Was das Verbrechen nur verschlimmert. Während ich mich vierzig Jahre lang abstrampeln musste, um über die Runden zu kommen, hat Ihr Vater im Luxus geschwelgt.«
Philip wand sich und rasselte mit seinen Ketten.
»Wie schön es doch ist, wenn sich das Blatt wendet. Vor vierzig Jahren hat Ihr Vater mich um ein Vermögen betro-gen. Während er seinen Reichtum verwaltete, ging ich in ein herrliches Land namens Vietnam. Nun kann ich mir alles und noch mehr zurückholen. Welch köstliche Ironie!
Ich glaube, Philip, Sie haben mir alles auf einem Silberteller serviert.«
Philip sagte nichts.
Hauser atmete erneut ein. Er liebte die Hitze und die Luft.
Er hatte sich nie gesünder und lebendiger gefühlt als im Dschungel. Es fehlte nur noch der schwache Wohlgeruch von Napalm.
Er wandte sich einem Soldaten zu: »Jetzt nehmen wir uns Ocotal vor. Kommen Sie, Philip, das wollen Sie doch bestimmt nicht verpassen.«
Die beiden Einbäume waren schon beladen. Die Soldaten schoben Ocotal und Philip in ein Boot. Dann warfen sie die Motoren an und fuhren in das Labyrinth aus Teichen und Seitenkanälen am anderen Ende des Sees. Hauser stand am Bug und hielt die Augen auf.
»Dort entlang.«
Die Boote knatterten weiter, bis sie einen stillen Tümpel erreichten, den das sinkende Wasser vom Hauptkanal getrennt hatte. Hauser wusste, dass der Tümpel von Pirañas nur so wimmelte. Sie hatten längst alle hier vorhandene Nahrung verzehrt und fraßen sich nun gegenseitig auf. Jedes Tier, das in eines dieser stehenden Gewässer stolperte, konnte einem nur Leid tun.
»Motor abstellen. Anker werfen.«
Die Motoren kamen spuckend zum Stillstand. Die nachfol-gende Stille wurde durch das zweifache Aufklatschen der Steinanker durchbrochen.
Hauser wandte sich um und schaute Ocotal an. Es würde bestimmt interessant werden.
»Richtet ihn auf.«
Die Soldaten zogen Ocotal auf die Beine. Hauser machte einen Schritt nach vorn und blickte dem Mann ins Gesicht.
Der Indianer trug ein westliches Hemd und Hosen und wirkte kühl und gelassen. Sein Blick zeigte weder Furcht noch Hass. Ocotal hatte sich als einer jener unglückseligen Menschen erwiesen, die sich von übertriebenen Ehr- und Loyalitätsgefühlen motivieren ließen.
Hauser konnte Typen seiner Art nicht ausstehen. Sie waren unzuverlässig und inflexibel. Auch Max hatte sich als solcher Mensch erwiesen.
»Tja, Don Orlando«, sagte er, wobei er den Ehrentitel ironisch betonte. »Haben Sie noch etwas in Ihrer Sache zu sagen?«
Der Indianer schaute ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken.
Hauser zog sein Taschenmesser. »Haltet ihn gut fest.«
Die Soldaten packten Ocotal. Man hatte ihm die Hände auf den Rücken gefesselt und die Beine locker zusammengebunden.
Hauser klappte das kleine Messer auf und schärfte die Klinge mit einem schnellen ssing, sssing an einem Wetz-stein. Dann prüfte er sie an seinem Daumen und lächelte.
Schließlich streckte er den Arm aus und ritzte einen langen Schnitt in Ocotals Brustkorb. Er durchschnitt den Stoff seines Hemdes ebenso wie die darunter liegende Haut. Der Schnitt war nicht tief, doch das Blut fing schon an zu fließen und färbte den Khakistoff schwarz.
Der Indianer zuckte nicht einmal zusammen.
Hauser verpasste ihm einige leichte Schnitte an den Schultern, dann zwei weitere auf den Armen und dem Rücken.
Der Indianer rührte sich noch immer nicht. Hauser war beeindruckt. Seit er gefangene Vietcong verhört hatte, war ihm ein solches Durchhaltevermögen nicht mehr untergekommen.
»Das Blut soll ruhig eine Weile fließen«, sagte er zu den Soldaten.
Sie warteten ab. Ocotals Hemd wurde dunkel vom Blut.
Irgendwo zwischen den Bäumen krähte ein Vogel.
»Werft ihn rein.«
Die drei Soldaten gaben Ocotal einen Schubs, und er ging über Bord. Nach dem Aufklatschen entstand ein Moment der Ruhe, dann schäumte das Wasser auf. Zuerst langsam, dann mit zunehmender Erregung, bis der Tümpel förmlich kochte. In dem braunen Wasser wimmelte es von wie Sil-bermünzen schimmernden Fischen. Dann bildete sich eine rote Wolke und machte es undurchsichtig. Khakifetzen und Fleischstreifen stiegen an die Oberfläche hinauf und düm-pelten auf dem aufgewühlten Nass.
Das Blubbern dauerte gute fünf Minuten, dann ließ es nach. Hauser war erfreut. Er wandte sich um, um Philips Reaktion zu sehen und sich an ihr zu ergötzen.
Er wurde nicht enttäuscht.