Am nächsten Tag verließen sie die aufgegebene Tara-Siedlung und stießen ins Vorgebirge der Sierra Azul vor.
Der durch Wälder und über Wiesen führende Pfad stieg langsam an, und sie kamen an mehreren brachliegenden Feldern vorbei, auf denen das Unkraut wucherte. Hier und da erhaschte Tom einen Blick auf im Regenwald verborgene, verlassene Schilfhütten, die allmählich in sich zusam-menfielen.
Dann drangen sie in einen dichten, kühlen Wald vor. Borabay beharrte plötzlich darauf, allen voraus zu gehen. Im Gegensatz zu seinen sonst leichtfüßigen Bewegungen machte er diesmal allerdings Lärm: Er sang vor sich hin, drosch, obwohl es gar nicht nötig war, mit der Machete auf die Vegetation ein und legte in regelmäßigen Abständen eine »Rast« ein. Tom hatte den Eindruck, dass er in Wirklichkeit die Lage peilte. Irgendetwas machte ihn nervös.
Als sie eine kleine Lichtung erreichten, hielt Borabay an.
Er rief: »Mittagessen!«, fing laut an zu singen und packte die in Palmwedel eingeschlagenen Bündel aus.
»Wir haben doch erst vor zwei Stunden gegessen«, sagte Vernon.
»Wir noch mal Mittag essen!« Borabay nahm Pfeil und Bogen von der Schulter, und Tom registrierte, dass er beides in einer gewissen Entfernung von sich ablegte.
Sally nahm neben Tom Platz. »Irgendwas wird gleich passieren.«
Borabay half beim Ablegen der Rucksäcke und deponierte sie neben den Bogen und Pfeilen auf der anderen Seite der Lichtung. Dann ging er zu Sally, legte einen Arm um sie und zog sie an sich. »Gib mir Gewehr, Sally«, sagte er leise.
Sally ließ das Gewehr von der Schulter gleiten. Anschließend nahm Borabay allen die Macheten weg.
»Was läuft hier ab?«, fragte Vernon.
»Nichts, nichts, wir hier rasten.« Borabay verteilte einige getrocknete Bananen. »Ihr hungrig, Brüder? Sehr gute Bananen!«
»Das gefällt mir nicht«, meinte Philip.
Vernon, dem die unterschwellige Spannung nicht auffiel, langte kräftig zu. »Lecker«, sagte er mit vollem Mund. »Wir sollten jeden Tag zweimal zu Mittag essen.«
»Sehr gut!«, sagte Borabay. »Zweimal zu Mittag essen.«
Er lachte brüllend.
Und dann geschah es. Ohne irgendwelche Geräusche zu vernehmen oder Bewegungen wahrzunehmen, begriff Tom plötzlich, dass sie an allen Seiten von Männern mit straff gespannten Bogen umzingelt waren: Hundert steinerne Pfeilspitzen waren auf sie gerichtet. Ihm war, als hätte der Urwald sich unmerklich zurückgezogen und sie wie Kiesel bei Ebbe enthüllt.
Vernon stieß einen Schrei aus und sank zu Boden. Er wurde sofort von aufgebrachten und nervösen Männern umzingelt. Fünfzig Pfeile zielten aus einer Entfernung von wenigen Zentimetern auf seine Kehle und seinen Brustkorb.
»Nicht bewegen!«, rief Borabay. Er drehte sich um und sprach schnell auf die Fremden ein, die ihre Bogen darauf-hin langsam sinken ließen und zurückwichen. Borabay redete, nun langsamer und weniger schrill, auf sie ein. Er klang aufgeregt. Schließlich wichen die Männer einen weiteren Schritt zurück und senkten die Waffen gänzlich.
»Ihr jetzt bewegen«, befahl Borabay. »Aufstehen. Nicht lächeln. Nicht Hand schütteln. Schauen in Augen von Krieger. Nicht lächeln.«
Sie richteten sich auf und taten, was er gesagt hatte.
»Holt jetzt Gepäck, Waffen und Messer. Keine Angst zeigen. Wütendes Gesicht machen, aber nichts sagen. Wenn ihr lächeln, ihr sterben.«
Alle befolgten Borabays Befehle. Als Tom seine Machete an sich nahm, zuckten die Bogen schnell hoch, doch als er sie in seinen Gürtel schob, wurden sie wieder gesenkt. Er hielt sich genau an Borabays Anweisungen: Er bedachte die Krieger in seiner Nähe mit zornigen Blicken, woraufhin sie ihn ebenso anschauten und ihm die Knie weich wurden.
Borabay sprach nun leiser auf die Krieger ein. Auch er klang jetzt aufgebracht. Seine Worte galten einem Mann, der größer war als die anderen. Seine Oberarme zierte glänzender, an Ringen befestigter Federschmuck. Um seinen Hals schlang sich eine Schnur, an der jedoch kein Edelstein baumelte, sondern der Müll der westlichen Zivilisation: eine sechs Monate freien AOL-Zugang anbietende CD-ROM, ein durchbohrter Taschenrechner und eine alte Telefon-Wählscheibe.
Der Krieger blickte Tom an und trat vor. Er blieb stehen.
»Bruder, du gehen ein Schritt auf Krieger zu und sagen wütend, er sich entschuldigen müssen.«
Tom hoffte bloß, dass Borabay die Psychologie der Lage richtig einschätzte. Er trat dem Krieger entgegen. »Wie könnt ihr es wagen, mit euren Bogen auf uns zu zielen?«, sagte er.
Borabay übersetzte. Der Krieger antwortete ihm aufgebracht und deutete mit seinem Speer auf Toms Gesicht.
Borabay übersetzte erneut. »Er sagen: >Wer ihr sein? Warum ihr kommen in Tara-Land ohne Einladung?< - Du sagen wütend, wir gekommen, um zu retten Vater. Du ihn anschreien.«
Tom gehorchte. Er wurde laut, machte einen Schritt in Richtung Krieger und brüllte ihn an. Die Antwort des Kriegers klang noch wütender; außerdem schwenkte er seinen Speer genau vor Toms Nase. Gleichzeitig hoben zahlreiche andere Krieger wieder ihre Bogen.
»Er sagen, Vater machen viel Ärger für Tara; er deshalb sehr wütend. Bruder, du müssen nun sein noch mehr wütend! Du sagen, sie Bogen runternehmen. Du sagen, du erst reden, wenn Bogen weg. Mach große Beleidigung.«
Tom, inzwischen gehörig ins Schwitzen geraten, gab sich alle Mühe, das Entsetzen zu verdrängen, das er empfand, und Zorn vorzutäuschen. »Wie könnt ihr es wagen, uns zu bedrohen?«, brüllte er. »Wir sind in Frieden in euer Land gekommen - und ihr droht uns mit Krieg? Behandeln die Tara so ihre Gäste? Seid ihr Tiere oder Menschen?«
Tom bemerkte, dass Borabay sehr zufrieden wirkte, als er seine Worte übersetzte. Zweifellos fügte er seiner Rede noch einige passende Nuancen hinzu.
Die Bogen der Krieger senkten sich. Diesmal nahmen sie die Pfeile an sich und schoben sie in ihre Köcher.
»Du jetzt lächeln. Kurz lächeln, kein großes Lächeln.«
Tom lächelte knapp, dann wurde seine Miene wieder ernst.
Borabay hielt eine längere Rede, dann wandte er sich wieder Tom zu. »Du den Krieger jetzt auf Tara-Art umarmen und küssen.«
Tom umarmte den Krieger verlegen und küsste ihn so, wie er es von Borabay kannte, mehrmals seitlich am Hals.
Mit dem Ergebnis, dass anschließend rote und gelbe Farbe auf seinem Gesicht und an seinen Lippen klebte. Der Krieger revanchierte sich für seine Höflichkeit und bekleckste ihn noch mehr.
»Gut«, sagte Borabay. Er war vor Erleichterung fast hysterisch. »Jetzt alles ist gut! Wir gehen jetzt in Tara-Dorf.«
Das Dorf bestand aus einem freien Platz mit festgetretenem Boden. Er war von zwei unregelmäßig geformten Kreisen mit der Art Schilfhütten umgeben, in denen sie die vergangene Nacht verbracht hatten. Sie wiesen keine Fenster auf.
In der Decke waren Löcher. Vor vielen Hütten brannten Kochfeuer, die von Frauen beaufsichtigt wurden. Wie Tom auffiel, verwendeten sie die französischen Kochtöpfe, Kup-ferpfannen und die rostfreien Solinger Bestecke, die sein Vater damals er-
standen hatte. Als sie den Kriegern auf den Dorfplatz folgten, gingen überall Schilftüren auf und Unmengen Menschen drängten ins Freie, um sie zu begaffen. Die kleineren Kinder waren splitternackt; die älteren trugen schmutzige Shorts oder einen Lendenschurz. Die Frauen waren mit Stofffetzen bekleidet, die sie sich um die Taille schlangen.
Sie waren barbusig; ihre Brüste waren mit roter Farbe bemalt. Viele hatten kleine Metallscheiben an den Lippen und Ohren. Nur die Männer trugen Federschmuck.
Es gab keine formelle Begrüßungszeremonie. Die Krieger, die sie mitgebracht hatten, verteilten sich und gingen völlig uninteressiert ihren Geschäften nach. Nur die Frauen und Kinder starrten sie neugierig an.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Tom, als sie auf dem Platz standen und sich umschauten.
»Warten«, erwiderte Borabay.
Kurz darauf kam eine zahnlose Greisin aus einer Hütte.
Sie war so alt, dass sie gebückt auf einen Stock gestützt ging. Ihr kurzes weißes Haar verlieh ihr etwas Hexenhaftes.
Sie kam den Neuankömmlingen quälend langsam entgegen. Ohne den Blick ihrer kugelrunden Augen von ihnen abzuwenden, schnalzte sie mit der Zunge und murmelte etwas vor sich hin. Schließlich blieb sie vor Tom stehen und schaute zu ihm auf.
»Nichts tun«, sagte Borabay leise.
Die Greisin hob eine faltige Hand und versetzte Tom einen Schlag über die Kniescheiben. Dann drosch sie - für eine Frau ihres Alters erstaunlich schmerzhaft - dreimal auf seine Oberschenkel ein, wobei sie weiter etwas vor sich hin murmelte. Schließlich hob sie ihren Knüppel und schlug auf Toms Schienbeine sowie auf seinen Hintern ein. Am Ende ließ sie den Knüppel sinken und griff ihm in den Schritt. Tom schluckte und versuchte nicht zusammenzu-zucken, als sie seine Männlichkeit einer eingehenden Prüfung unterzog. Dann deutete sie auf seinen Kopf und bewegte die Finger. Als Tom sich ein wenig vorbeugte, griff sie in sein Haar und zog so heftig daran, dass ihm die Tränen kamen.
Die Greisin wich zurück. Die Untersuchung schien abgeschlossen zu sein. Nun schenkte sie Tom ein zahnloses Lächeln und setzte zu einer längeren Rede an.
Borabay übersetzte: »Sie sagen, du eindeutig Mann, obwohl anders aussehen. Sie dich und deine Brüder einladen, als Gäste in Tara-Dorf zu bleiben. Sie annehmen eure Hilfe, um zu kämpfen gegen böse Männer in Weiße Stadt. Sie sagen, du jetzt Boss.«
»Wer ist sie?« Tom musterte die Greisin kurz. Sie begaffte ihn noch immer vom Scheitel bis zur Sohle.
»Sie sein Frau von Cah. Pass auf, du ihr gefallen. Sie vielleicht kommt heute Nacht in deine Hütte.«
Dies löste die Spannung, und alle lachten, wobei Philip der Lauteste war.
»Von was bin ich der Boss?«, fragte Tom.
Borabay schaute ihn an. »Du jetzt Kriegshäuptling.«
Tom war sprachlos. »Ja, wieso denn das? Ich bin doch gerade mal zehn Minuten hier.«
»Sie sagen, Tara-Krieger bei Angriff auf weiße Männer versagen. Viele sterben. Du auch weißer Mann. Du verstehen Feind besser. Du morgen führst Angriff gegen böse Männer.«
»Morgen?«, sagte Tom. »Vielen Dank, aber diese Verantwortung muss ich ablehnen.«
»Du keine Wahl«, erklärte Borabay. »Sie sagen, wenn du nicht tust, Tara-Krieger uns alle töten.«
An diesem Abend entzündeten die Dorfbewohner ein Freudenfeuer, das ein Fest einleitete. Ein mehrgängiger Schmaus nahm seinen Anfang. Er wurde auf Blättern serviert. Der Höhepunkt des Festessens war ein in einem Erd-loch gebratener Tapir. Die Männer tanzten, dann erklang ein beklemmend fremdartiges Flötenkonzert mit Borabay als Solist. Alle gingen spät zu Bett. Einige Stunden später weckte Borabay sie wieder. Es war noch dunkel.
»Wir jetzt gehen. Du sprechen zu Volk.«
Tom schaute ihn an. »Ich muss eine Rede halten?«
»Ich dir helfen.«
»Das muss ich sehen«, sagte Philip.
Das Freudenfeuer war mit frischem Brennstoff versorgt worden. Tom stellte fest, dass wirklich das ganze Dorf schweigend und respektvoll darauf wartete, dass er eine Ansprache hielt.
»Du zu mir sagen, ich suchen zehn beste Krieger für Kampf aus, Tom«, sagte Borabay leise.
»Kampf? Für welchen Kampf?«
»Wir kämpfen gegen Hauser.«
»Wir können doch nicht ...«
»Sei still - tu, was ich sage«, zischte Borabay.
Tom gab den erbetenen Befehl, und Borabay marschierte durch die Menge, klatschte in die Hände, klopfte verschiedenen Männern auf die Schulter, und fünf Minuten später standen zehn Krieger in einer Reihe neben ihnen. Sie waren bemalt, trugen Federschmuck und Halsketten sowie Bogen und Pfeilköcher.
»Du jetzt Rede halten.«
»Was soll ich denn sagen?«
»Du sprechen große Worte. Wie du retten wirst Vater und tötest böse Männer. Keine Sorgen machen. Was du auch sagen, ich gut reparieren.«
»Vergiss bloß nicht, jedem ein Huhn im Pott zu garantie-ren«, meinte Philip.
Tom trat vor und schaute den versammelten Dorfbewoh-nern ins Gesicht. Das Volksgemurmel ebbte schnell ab. Die Eingeborenen schauten ihn voller Hoffnung an. Tom spürte, wie es ihm vor Angst kalt den Rücken hinunterlief. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte.
»Ahm ... Meine Damen und Herren ...«
Borabay schenkte ihm einen missbilligenden Blick und schrie in rauflustigem Tonfall etwas hervor, das viel wirkungsvoller klang als die mickrige Einleitung, die Tom gerade zustande gebracht hatte. Ein Raunen ging durch die Menge; alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf Tom. Tom hatte plötzlich das Gefühl, all dies schon einmal erlebt zu haben. Dann fiel ihm ihre Abreise aus Pito Solo - und Don Alfonsos Ansprache an sein Volk - ein. Er musste ebenfalls eine solche Rede halten, selbst wenn sie nur aus Lügen und Phrasen bestand.
Er atmete tief ein. »Freunde! Wir sind von einem fernen Ort namens Amerika ins Land der Tara gekommen!«
Sobald das Wort Amerika fiel, machte sich - noch bevor Borabay mit der Übersetzung begann - Aufregung breit.
»Wir sind viele tausend Kilometer mit einem Flugzeug, mit einem Einbaum und zu Fuß gereist. Wir waren vierzig Tage und Nächte unterwegs.«
Borabay trug dies vor. Tom bemerkte nun, dass die Aufmerksamkeit der Menge allein ihm galt.
»Das Volk der Tara leidet unter einem großen Übel. Ein Barbar namens Hauser ist mit seinen Söldnern vom anderen Ende der Welt gekommen, um es auszurotten und seine Gräber zu plündern. Er hat euren Oberpriester entführt und eure Krieger getötet. In diesem Moment hält er sich in der Weißen Stadt auf und entweiht sie durch seine Anwesen-heit.«
Borabay übersetzte. Das Volk murmelte sein Einverständnis.
»Wir, die vier Söhne von Maxwell Broadbent, sind gekommen, um das Tara-Volk von diesem Mann zu befreien.
Wir sind gekommen, um unseren Vater, Maxwell Broadbent, aus der Finsternis seiner Gruft zu erretten.«
Tom wartete, bis Borabay übersetzt hatte. Fünfhundert vom Feuerschein erhellte Gesichter schenkten ihm ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Mein Bruder Borabay wird uns in die Berge führen, wo wir die bösen Männer beobachten wollen, um einen An-griffsplan zu schmieden. Morgen werden wir gegen sie kämpfen.«
Nach diesen Worten ertönten urplötzlich merkwürdige Laute, die wie ein schnelles Grunzen oder ein Lachen klangen - es war vermutlich die Tara-Entsprechung eines Johlens und Klatschens. Kniich verkroch sich in die Tiefen der Hemdtasche, um sich zu verstecken.
»Du sie nun bitten zu beten und ein Opfer zu bringen«, sagte Borabay leise zu Tom.
Tom räusperte sich. »Das Volk der Tara - ihr alle - spielt in der bevorstehenden Auseinandersetzung eine wichtige Rolle. Ich bitte euch, für uns zu beten. Ich bitte euch, für uns ein Opfer zu bringen. Ich bitte euch, dies jeden Tag zu tun, bis wir siegreich zurückkehren.«
Borabay wiederholte die Deklaration mit schallender Stimme, und ihre Auswirkung war elektrisierend. Die Menschen strömten aufgeregt murmelnd nach vorn. Tom fühlte sich irgendwie von verzweifelter Sinnlosigkeit überwältigt. Diese Menschen trauten ihm mehr zu als er sich selbst.
Eine heisere Stimme wurde laut. Die Leute wichen auf der Stelle zurück, bis Cahs Gattin allein da stand, auf ihren Stock gestützt. Sie schaute auf und nahm Tom genau in Augenschein. Langes Schweigen machte sich breit, dann hob sie schließlich ihren Stock, holte aus und versetzte ihm einen festen Schlag auf die Oberschenkel. Tom gab sich alle Mühe, weder zu zucken noch das Gesicht zu verziehen.
Dann rief die Greisin mit heiserer Stimme etwas, das er nicht verstand.
»Was hat sie gesagt?«
Borabay wandte sich um. »Ich nicht wissen, wie übersetzen ... Sie sagen starke Tara-Redensart. Bedeuten so viel wie Du töten oder sterben.«